Heureka - ich hab’s gefunden!
Vom Spielen, Forschen und guten Gefühlen
Spielen und Erfindergeist sind nahe Verwandte der Intelligenz. Kindliches Spielen erfüllt vielfältige Aufgaben: Die Welt erfassen, sie gestalten; sich selber, die eigenen Gefühle und die Eigenarten von Material und Mitmenschen kennenlernen; sich abreagieren, ablenken und zugleich sich konzentrieren. Es ist Willens- und Körperschulung und noch vieles mehr.
Heureka soll der griechische Philosoph und Forscher Archimedes ausgerufen haben als er ein wichtiges geometrisches Prinzip entdeckte. Wir können mit Sicherheit annehmen, dass er lange mit Gedanken, Beobachtungen und eigenen Versuchen gespielt hat, bis ihm plötzlich ein Licht aufging. Er wird erfreut, begeistert und wohl auch sehr stolz gewesen sein. Wie systematisch er vorgegangen ist, wissen wir zwar nicht; aber namhafte Wissenschaftler berichten, dass grosse Entdeckungen oftmals gerade nicht im zielstrebigen Bemühen um eine Problemlösung gemacht werden, sondern aus einem schweifenden, spielerischen Umgang mit der Materie, die sie fasziniert.
Spielen oder trainieren?
Ich will das zielstrebige Verhalten nicht abwerten, um das spielerische aufzuwerten! Aber ich betone die Gleichwertigkeit beider Umgangsformen für die Entwicklung. Nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, alle kulturellen Erscheinungen inklusive der Forschung, ja für die Entwicklung der Menschheit ist die Freiheit im Spiel von herausragender Bedeutung. Aus dieser Gleichwertigkeit leite ich die Forderung ab, dass es in Schule, Familie und im Alltag - auch ein Gleichgewicht an Zeit, Beachtung und Finanzierung spielerischer Aktivitäten geben sollte. Also nicht ein Entweder-oder, nicht entweder Leistung - z.B. Sport - oder Spiel sondern beides.
An dieser Stelle muss vor einem Etikettenschwindel gewarnt werden: Nicht alles was als „Spiel“ bezeichnet an den Mann resp. die Frau, den Buben resp. das Mädchen gebracht werden will, ist auch Spielen: So wird z.B. gerne Spiel und Sport in einem Atemzug genannt. Innerhalb der vielfältigen körperlichen Betätigungen gibt es zwar eindeutig viele Spielmöglichkeiten. Aber vieles, was in diesem Rahmen angeboten wird, ist angeleitetes Üben, ist mehr oder weniger hartes Training, das bestimmte Ziele und Zwecke verfolgt. Viele Kinder lassen sich dafür begeistern. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn es nicht alle ausserschulische Zeit frisst. Es ist zu beachten, dass solche Aktivitäten kein Spielen sind, sondern denselben Mustern folgen wie schulisches Lernen und Arbeiten: Üben, lernen etc., um etwas zu können, zu gewinnen usw. Demgegenüber ist Spielen seinem Wesen nach zweckfrei; sein Ziel besteht nur in sich selber. Auf das Risiko der Spielsucht, in der die Freiheit des Spielens ebenfalls verloren geht, komme ich zurück. Auch dort ist der hier behandelte Sinn des Spielens zerstört.
Die Vielfalt des Spielens
Beobachten wir Menschen, die eifrig in ihre Spiele vertieft sind - auf dem Boggia-Platz, in der Tennishalle, auf der Rutschbahn, beim Jassen oder im Sandkasten! Immer stossen wir auf grosse Hingebung und Begeisterung, ein Markenzeichen gesunden Spielens. Spielen bildet fast alle menschlichen Qualitäten weiter, besonders aber das Gemüthafte und Emotionelle. Wo kann Verlieren ebenso gelernt werden wie Gewinnen, ohne dass schicksalhafte Auswirkungen daraus erwachsen? Wo befreit sich die Fantasie besser von den Fesseln der Alltagsgesetze als in Wortspielen und Phantasiereisen? Wo lassen sich soziale Rollen besser einfühlen und ausleben als im Puppenspiel, Theater- oder Rollenspiel?
Gehen wir von den sechs pädagogischen Förder- resp. Entwicklungslinien des Menschen aus, lässt sich eine Art Checkliste erstellen, welche Spiele welche Bereiche fördern. Es gibt Spiele (und Spielmaterial), die besonders die emotionale Entwicklung, andere die die kognitive, die sozial-ethische, die voluntative (Willensentwicklung), die körperliche oder die kreative Entwicklung ansprechen. Viele Spielformen - namentlich alle im Bereich des Rollenspiels und Theaters, von der Puppenstube über Kasperli, Playmobil bis zur Aufführung selbsterfundener Geschichten - fördern mehrere oder alle Bereiche zugleich. Andere dagegen sind sehr spezifisch auf eine oder zwei Entwicklungsbereiche angelegt: z.B. Geschicklichkeitsspiele, Puzzle etc.
Spielen ist Freiheit
Ein wesentliches Merkmal des Spielens ist die freiwillige Eigenaktivität der Spieler. Im Gegensatz dazu steht der Konsum von Informationen oder Unterhaltung: Hier herrscht zumeist eine Einwegkommunikation vor: Zuschauer nehmen auf, was ihnen angeboten wird. Spielen jedoch ist Austausch - selbst dort wo mit dem Computer gespielt wird, findet ein Hin und Her zwischen Eingabe und Reaktionen eines anderen statt. In diesem Sinne steht z.B. Tanzen näher bei spielerischen Aktivitäten als bei Unterhaltung oder Sport, solange es nicht Tanz-Wettkampf oder Show-Tanzen ist.
Die Freiheit ist Wesensmerkmal des Spielens. Sobald wir unter Zwang geraten, hört jeder Spielcharakter auf. Muss ich Rücksichten nehmen, gerate ich Abhängigkeit von Mitspielern oder von spielfremden Absichten (z.B. Geldvermehrung, Ablenkung von Alltagssorgen, triebhaften Kräften) verwandelt sich dieselbe Tätigkeit von Spiel zu Sucht, Arbeit oder Flucht. Wir sind kaum je so frei, wie im freien Spielen.
Anregung zur Abwechslung
Alle Erfahrungen, die aus dem Spiel stammen, haften besonders gut, weil sie mit guten oder zumindest starken Gefühlen verbunden sind. Wie immer in der Erziehung ist die Vielfalt von besonderem Wert und Einseitigkeit schädlich: Wer immer nur dasselbe Spiel spielen kann oder will, wird selber einseitig. Daher lohnt es sich, das Augenmerk auf Spielverhalten, Spielgewohnheiten und die Auswahl der Spiele unserer Kinder zu lenken: Wechseln sie ab? Sind sie im Spiel engagiert? Oder wiederholen sie - im Extremfall stereotyp - nur eine einzige Spielform, um die Zeit tot zu schlagen?
In erster Linie gilt mein Aufruf aber den Erziehenden, ihre Kinder (und sich selber) zu vielfältigem Spielen anzuregen; nicht einseitig nur Kreatives hochzuhalten, oder nur körperbetont zu spielen oder sich ganz auf die rituelle Welt der Regelspiele zurückzuziehen. Jede Form hat ihren Wert, je breiter die Vielfalt desto breiter die Entwicklungsmöglichkeiten und Interessensentwicklung. In jedem Fall ist es günstig, wenn Erwachsene auch noch mitspielen können und es manchmal auch tun. Es kann im Dienst der Anregung zur Abwechslung dazu gehören, ein Spiel, das von einem Kind völlig Besitz ergreift, zeitweilig zu verbieten oder besser noch zu „rationieren“, um ihm Freiraum für andere Betätigungen zu verschaffen. Mit Vorteil begleiten die Erziehenden in einem solchen Fall das Kind in eine andere Spielwelt, nehmen sich Zeit und lassen sich - möglichst lustvoll - auch auf diese ein.
Einseitigkeit als Rückzug
Starke Einseitigkeiten über längere Zeiten (Monate) müssen als Signal verstanden werden. Bahnt sich eine Entwicklungsblockade an?. Das Kind, das sich nur noch zu seinen Puppen zurückzieht oder nur noch game-boy spielt, ist gefährdet. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk dem Rückzug oder der Einkapselung der kindlichen Aufmerksamkeit auf nur einen Brennpunkt.
Suchtverhalten (in diesem Falle Spielsucht) ist meist nicht nur Folge der Anziehung, die ein Mittel auf den Süchtigen ausübt, sondern Folge einer Abwendung von allem anderen, sei diese Abwendung aus Angst, aus Scham, aus Selbstwertzweifeln, aus Hass oder wie auch immer motiviert. Es ist eine Huhn-und-Ei-Frage, was zuerst ist: „Abwendung von der Welt“ oder „Zuwendung zum Suchtmittel“. Sucht und suchtähnliches Verhalten (extreme Einseitigkeit und Fixierung auf ganz wenige Interessen) sollten immer Fragen aufwerfen: Was macht es aus, dass ein bestimmtes Kind nicht vielfältig spielen mag, z.B. am Tablet klebt oder sich ausschliesslich für Fussball interessieren kann?
Der Nutzen des Zwecklosen
Echtes Spielen befreit, eröffnet neue Horizonte, lässt den Spieler sich als Akteur erleben, der die Folgen seines Tuns unmittelbar erlebt. Er ist Rennfahrer am Bildschirm und fährt waghalsig in die Kurven, bis das Auto sich überschlägt. Er hat zuviel riskiert und erlebt oder sieht zumindest die Folgen. Aber er muss sie nicht erleiden, weil er nur das Spiel verloren hat und nicht wirklich die Herrschaft über ein Fahrzeug. Oder er siegt, meistert die Strecke und gewinnt nicht nur das Spiel sondern auch Selbstsicherheit und damit Selbstwert.
Ich könnte vielerlei Spiele aufzählen, die Selbstsicherheit und Stolz, Lebensfreude und Tatendrang fördern: Heureka! Im Spielen wird - mit der erwähnten Ausnahme, der ritualisierten, fast zwanghaften Wiederholung des immer gleichen Spiels und des völligen Rückzugs aus dem Alltag - immer viel gelernt: Gelernt an Einsichten, an Materialkenntnissen, an eigener Körperwahrnehmung, an Reaktionsbereitschaften der Mitspieler usw.
Nun sollten aber diese guten Ergebnisse, die Spielen mit sich bringt, nicht zum Zweck des Spielens werden. Sobald der Zweck das Tun bestimmt, wird aus dem Spielen ein Üben, Trainieren, Lernen oder auch Arbeit. Nichts ist gegen Trainingsforderungen, Üben und systematisches Lernen einzuwenden. Für viele Fertigkeiten brauchen wir diese. Wichtig ist mir, dass zwischen den beiden Tätigkeiten unterschieden wird: Durch die Zweckbestimmung - z.B. Meisterschaft erringen, perfekte Aufführung usw. - geht die spielerische Freiheit weitgehend verloren. Aber das Erleben von Freiheit ist ein zentraler Wert des Spiels: Im Spielen muss nicht fertig gespielt werden; Regeln können verändert werden, wenn die Mitspieler bei dieser Regeländerung mitmachen; kein Ziel muss erreicht werden; denn Spielen ist durch die Tätigkeit motiviert und begründet, nicht durch ein aussenstehendes Ziel.
Spielpflege
Ich möchte Sie dazu einladen, die langen Abende des angebrochenen Winters bewusst der Spielpflege in Familie und Freundeskreis zu widmen. Das Angebot an Spielmaterial ist riesig. Ich weise auf die besondere Bedeutung der Vielfältigkeit auch des Spielangebotes hin. Allerdings kann eine übergrosse Auswahl auch zuviel des Guten sein. Das Ausmass der angebotenen Möglichkeiten kann die Wahlfähigkeit des Kindes überfordern: Achten Sie darauf, dass Vielfalt vor Menge kommt!
Das Material soll anregen, selber etwas daraus zu machen. Natürlich spielen viele Kinder auch gern nach mehr oder weniger strikter Anleitung. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn nicht das ganze Spielangebot nur aus Anweisungen und Gegenständen besteht, an die sich das Kind anpassen muss. Aber auch bezüglich der Entwicklungsbereiche kann beachtet werden, dass die Angebote gleichmässig verteilt sind zwischen mehr körperbetonten, aktiven Materialien und mehr kontemplativen, geistigen; mehr sozialorientierten und mehr zur Eigenbeschäftigung anregenden; zwischen solchen, die mehr die eigene Phantasie anregen und solchen, die auffordern sich in bestehende Regeln einzufügen.
© Dr. phil. Rudolf Buchmann