In der Trauer lebt das Verlorene weiter
Kind und Tod (II): Erziehung zur Beziehungsfähigkeit
Im ersten Artikel haben wir gezeigt, welche Bedeutung dem Erleben von Verlusten für die seelische und soziale Entwicklung des Menschen zukommt. Noch entscheidender ist, wie auf ein solches Erlebnis eingegangen wird.
Dies ist eine pädagogische Frage ersten Ranges für das Kind und ebenso für den Erzieher. Als Leitspruch oder pädagogisches Ziel kann gelten, dass dem Kind (und jedem Menschen) geholfen wird, seine Trauer zu leben und deutlich wird, dass sie sich ausdrücken darf; denn in ihr überlebt das Verlorene. Trauer bezeugt den Wert des Verlorenen. Unterdrückte Trauer drückt den Wert des Verlorenen herab. Und wenn das, was ich liebte, nicht der Trauer wert ist, dann war auch meine Liebe nicht viel wert.
Da ist eine kleine Welt verrückt
Sicher haben viele diesen Spottsatz schon gehört oder auch gesagt, wenn ein kleines Kind wütend ist über eine Ungerechtigkeit oder eine seelische Verletzung. Oft ist auch die Haltung der Erwachsenen, der Geschwister und der Kameraden nicht viel anders, wenn "wegen jeder Kleinigkeit" ein Kind Tränen in den Augen hat: Es ist eine kleine Welt traurig.
Kameraden und Geschwister sind aber von Natur aus nicht besonders herzlos. Oft nehmen sie nur auf und spiegeln wie im Vergrösserungsglas, was wir abgestumpften Erwachsenen empfinden: Diese grossen Gefühle passen nicht, wenn z.B. nur der Gummiball unter das Auto gekommen ist. Für die Kameraden ist es "erwachsener" sich vom Schmerz der "Kleinen" abzugrenzen, ihn nicht an sich rankommen zu lassen. Oft kommt in der Situation auch der unterschiedliche Blickwinkel der verschiedenen Altersgruppen hinzu. Kleinere Kinder erleben noch ähnlich, wenn ihr Lieblingsauto zertreten oder der Puppe ein Auge eingedrückt wurde oder wenn der Hamster stirbt: Es erlebt ähnlich, wie wir den Tod eines Freundes erleben. Aber in der Heftigkeit des Schmerzes zeigt sich die Beziehungsqualität, die ein Kind zu seinem Gegenüber (Mensch, Tier oder Spielzeug) aufzubauen fähig ist, resp. aufgebaut hat.
Das alltägliche Missverständnis
Dass wir diesen Aspekt meist weder im Blick noch vor allem nicht im Gefühl haben, wenn wir starke emotionelle Reaktionen anderer Menschen sehen, führt zu vielen Miss- und Unverständnissen. Wir begreifen die tieferen Wurzeln der Reaktion nicht und lassen uns oft auch vom Anschein der Situation fehlleiten:
Ein Kind - ausser sich vor Wut - greift seinen Bruder an. Er hat in sein Bilderbuch gemalt. Eine sehr aggressive Szene, die die Eltern rasch auf den Plan ruft. Das ganze Geschehen wird als Streit behandelt. Deshalb wird auch alles unter aggressivem Blickwinkel abgewickelt. Das Streitgeschrei hat die Eltern auch schon aggressiv gemacht, so dass sie für andere Gefühle kaum einen Blick haben: Wer ist schuld am Streit ? Ja gut, das Bilderbuch, aber deshalb geht es doch nicht, dass du derart massiv auf deinen Bruder .... So geht das nicht! ... Und dann der Lärm, die Störung unserer Ruhe, die Nachbarn ... Im ungünstigsten Falle wird der, dessen Buch gelitten hat, für seine Aggressivität bestraft. Im günstigeren Fall hat sich der kribbelnde Bruder für die "Malerei" zu entschuldigen. Und dann heisst es: "Jetzt hör aber auf, er hat sich ja entschuldigt!"
Aber geht es überhaupt um Schuld. Die Entschuldigung entschuldet den Täter. Alle Beteiligten lernen also dabei, dass in so einem Fall die Frage der Schuld und der Aggressivität die wichtigste sei: Recht und Rechthaberei! Je nachdem überlegen sich die Eltern auch das Thema Eifersucht zwischen den Brüdern. Ob vielleicht der "Maler" das absichtlich machte, um zu ärgern etc.
Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Trauer. Vielleicht ist das Bilderbuch seinem Besitzer sehr viel wert. Er hat eine Beziehung zu dem Buch. Jetzt entdeckt er, dass an seinem wertvollen Stück etwas kaputt gemacht wurde. Ich nehme an, dass viele Leser rasch in der Lage sind, die Wut nachzuempfinden. Wenn wir nur schon denken, was ein Kratzer am Autolack oder gar eine Beule in der Karosserie für Familienszenen auslösen kann. Könnte es sein, dass auch wir seit Kindheit gelernt haben, Trauer durch Wut zu ersetzen ?
Trauer und Wut
Wohin geht unser Kind mit seiner Trauer um das zerstörte Bild, das ihm lieb war? Er selber hat sich mit der aggressiven Reaktion um das Verständnis der Erwachsenen gebracht.
Was jedenfalls bleibt, nachdem alle Wogen des Streites geglättet sind, ist das kaputte Bild. Es ist nicht wiederherzustellen. Nun ja - sagen wir - es ist ja nur ein Bild, das Buch hat ja noch andere Seiten, das Buch kann ersetzt werden usw. Alles Beschwichtigungen, die der Trauer ausweichen. Ich bin überzeugt, dass sehr viel Aggressionen an die Stelle tabuisierter Trauer treten.
Es geht sicher nicht darum, sich von jedem Schmerz unterkriegen zu lassen. Es geht darum, wie mit dem Schmerz gelebt und wie auf ihn reagiert werden darf: Als Erwachsener und als Kind. Wird einmal die Haltung aufgebaut, sich nur ja nichts anmerken lassen, ist der Weg eingeleitet, vieles in sich hineinzufressen. Mit dem Verschwinden des Ausdruckes verschwindet allmählich auch das Empfinden der Gefühle selber.
Ich-Du oder Ich-ES
Nicht alle Dinge im Leben sind uns gleich wichtig und wert. Dies muss so sein, weil wir sonst gefühlsmässig überlastet wären. Es ist aber ein Entwicklungsweg, dies unterscheiden zu lernen und für jeden Menschen ist diese Entwicklung eine ganz persönliche. In Wertungsfragen gibt es keine sachliche Objektivität! Das ältere Kind wird zwischen Lieblings- und Gebrauchsgegenständen unterscheiden. Für unsere Kultur ist es zentral, dass die Fähigkeit erhalten bleibt, überhaupt Lieblings- resp. Liebesgegenstände zu haben. Ich erachte Menschen als seelisch verarmt, die dauerhaften Gegenständen in ihrem Alltag gegenüber kein Bisschen von dieser kindlichen Haltung bewahren können.
Der Philosoph Martin Buber prägte für die 2 Einstellungsarten gegenüber der Weit eindrückliche Worte: ICH-DU und ICH-ES. In der ICH-DU-Beziehung zur Welt begegnen mir Menschen, Tiere und Gegenstände als eigenständige, eigenartige und einzigartige Partner. In der anderen Haltung - als ICH-ES-Beziehung bezeichnet - werden Gegenstände, Natur und auch Menschen nur nach ihrem Gebrauchswert für unsere Wünsche erlebt und eingeschätzt. In der Ich-ES-Welt ist alles leicht durch ähnliches zu ersetzen. Es braucht dort deshalb auch kaum Trauer, wenn etwas verloren geht. Es braucht keine oder möglichst wenig Zeit, um Kontakte zu ersetzen; denn wie nehmen uns kaum Zeit, um aus einem Kontakt eine echte Beziehung werden zu lassen: Denn echte Beziehungen kommen in der ICH-ES-Welt gar nicht vor.
In der ICH-ES-Welt gibt es aber auch keine Treue, keine Bindung (ausser jene an die eigenen Bedürfnisse und Wünsche) und deshalb auch wenig Sorgfalt im Umgang mit Dingen, Tieren und Menschen. Dafür muss ich auch nicht trauern über den Verlust. Ich muss nichts loslassen, weil ich mich von nichts wirklich ergreifen lasse.
Action statt Trauer
Nehmen wir Kindern (und auch Erwachsenen) die Gelegenheit, einen Verlust als Verlust zu erleben; nehmen wir ihnen die notwendige Zeit, sich dem Erleben des Verlustes hinzugeben (Trauerzeit), so nehmen wir der Menschheit Stück für Stück die Fähigkeit, die ICH-DU-Beziehung (die das Kleinkind natürlicherweise hat) zur Welt zu erhalten, auszubauen und zu vertiefen. Mit jeder verunglückten Trauer schwindet die Bereitschaft, neue tiefe Bindungen einzugehen. Die Angst vor dem Alleinsein, wenn diese Bindung aufgelöst werden muss; die Angst vor dem überwältigenden Schmerz und das Wissen, dass die Bewältigung dieses Schmerzes nie gelang, lässt es ratsam erscheinen, sich von Bindungen loszusagen und die eigenen tiefen Wünsche nach Bindung im Rausch des Erlebens (der Äkschen, action) zu ersticken.
Das Horrorszenarium einer beziehungslosen und lieblosen Welt - zum Gebrauch -, in der jeder Mensch und jedes Ding sich nur nach dem Gebrauchswert ("Was bringt's ?"), zur Befriedigung eigener Gelüste oder des Geldwertes bemisst, wird einen Schritt ausgebaut.
Sind wir stark genug, um zu unseren "Schwächen" zu stehen! Wir brauchen heute Mut und Stärke, um Schwäche zu zeigen. Werten wir also die Gefühle der Schwäche um und lernen sie schätzen als starke Gefühle; Gefühle der Trauer, Gefühle der Ohnmacht, Gefühle der Verwirrung und Angst. Lassen wir sie in ganzer Stärke zu und begrüssen auch den starken Ausdruck solcher Gefühle, gewinnen wir an Engagement und Lebenswert für uns und die ganze Gemeinschaft hinzu.
© Dr. R. Buchmann