Falscher Trost ist gefährlich

Kind und Tod (I):

Wie gehen wir um mit Todeserfahrungen bei kleinen Kindern? Die Themen und Aspekte sind sehr vielfältig. Manchmal werden die Fragen sehr plötzlich akut. Da ist es gut, sich schon bei Zeiten Überlegungen zu machen.

Letzthin wünschten die Erzieher eines Kinderheimes einen Kurs zum Thema Kind und Tod. Sie stellten mir dazu folgende Fragen zu:

- Wie gehen wir damit um, wenn Kinder Fragen zum Thema Tod an uns stellen ? - Wie erlebt ein Kind den Tod eines nahestehenden Menschen ?

- Wie können wir Kinder auf den bevorstehenden Tod eines Angehörigen vorbereiten? - Wie gehen wir mit Kindern um, deren Eltern plötzlich sterben?

- Wie gehen wir auf Kinder zu, die vom eigenen Tod infolge einer Krankheit bedroht sind?

Schon diese Liste zeigt die Vielfältig der Fragen, die wir uns zu diesem Thema zu stellen haben. Alle Eltern und Erzieher tun gut daran, sich mit diesen Fragen zu befassen, bevor sie aktuell werden. Tritt eine solche Situation plötzlich ein, sind wir meist selber sehr stark mit unseren eigenen Gefühlen und Gedanken beschäftigt; unsre Aufmerksamkeit ist für viele dringliche Dinge und Erledigungen gefordert. So fehlt uns dann die nötige Musse, eine eigene hilfreiche Haltung dem Kind gegenüber aufzubauen.

Die Tabuisierung des Themas

Erschwerend kommt hinzu, dass unser Alltag heute den Tod weitgehend tabuisiert und aus dem Alltag verdrängt. Möglicherweise hat der Versuch den Tod totzuschweigen ebenso krankmachende Folgen für unsere Zeit, wie die Tabuisierung der Sexualität zu Beginn unseres Jahrhunderts. Sigmund Freud entdeckte damals den Ursprung neurotischer Erkrankungen im unausgesprochenen Verbot, über lebenswichtige Frage zu sprechen; in einem Verbot also, das uns nicht einmal bewusst ist, weil Sitte und Kultur einen alltäglichen und unausgesprochenen Druck ausüben, darüber nicht zu sprechen. Die Frage der Sexualerziehung wurde seither detailliert untersucht und die Sprachlosigkeit in diesem Lebensbereich teilweise aufgehoben. Die Sprache über den Tod und der Umgang mit ihm ging demgegenüber stark zurück.

Wenn ich die Fragen von Eltern in diesem Zusammenhang betrachte, stelle ich eine ähnliche Not fest: Gefragt wird "Wie mache ich es dem Kind gegenüber richtig?" Um zu einer Lösung zu kommen, müssen wir aber die Frage umformulieren:

Was macht es uns als Eltern, Lehrer und Erzieher so schwer, mit Kindern dieses Thema anzusprechen ?

Der Tod des Hamsters

Eltern erzählten mir, wie der Hamster ihres Kindes im Kindergartenalter kränkle. Sie wüssten, wie sehr ihr Kind an ihm hängt. Sie hätten deshalb einen neuen gekauft, um die Hamster eines Nachts auszutauschen, damit das Kind nichts merke. Ich habe ihnen dringend davon abgeraten.

Es sind sehr viele Aspekte in dieser Aktion enthalten: Zunächst meinen es die Eltern sicher gut, dem Kind einen Schmerz zu ersparen. Ebenso sehr erfüllen sie sich selber aber auch den Wunsch, die schwierige Situation zu vermeiden, mit dem Kind den Tod anzuschauen und seine Schmerzen auszuhalten.

Gesetzt den Fall, das Kind merke nichts - was ich für unwahrscheinlich halte, bringen sie damit das Kind um eine wichtige Erfahrung und sich selber um eine wichtige erzieherische Beziehung zum Kind: Das Kind kann sich nicht mit Verlust und Schmerz auseinandersetzen; die Eltern können ihm nicht zeigen, wie sie ihm helfen, Schmerz auszuhalten. Sie trauen sich selber und dem Kind nicht zu, eine lebenswichtige Erfahrung zu machen und diese erfolgreich durchzustehen.

Ein Vertrauensbruch

Merkt das Kind die Unterschiebung, hat die Affäre noch dramatischere Auswirkungen: In dieser Handlung wird das Kind einen schweren Vertrauensbruch sehen. Schlimmstenfalls wird es daran zweifeln, ob andere Dinge, Tiere oder Menschen auch die echten sind oder bereits ausgetauschte. Es stellt sich wohl auch die Frage, was alles für die Eltern auch austauschbar ist. Jedenfalls wird das Heimliche der Aktion Zweifel wecken, wie offen die Eltern ihm gegenüber sind. Wenn das Kind zum Hamster eine starke Beziehung aufgebaut hat, wird es Wut und Schmerz darüber empfinden, dass es nicht Abschied nehmen konnte. Und dafür sind nun wirklich die Eltern verantwortlich, auf die sich dann die Wut zurecht richten wird. Vermutlich werden diese aber die Wut nicht ganz verstehen, weil sie ja gerade Schmerz ersparen wollten. Die daraus entstehenden Miss- und Unverständnisse beiderseits, können ein ganzes Leben prägen.

"Rettung" in Versachlichung und Konsum

Aus solchen inneren Kämpfen kann sich das Kind vielleicht retten, indem es den Hamster als individuellen Partner aufgibt und abwertet: Er war nur ein Spielzeug. Damit wird aber das Lebewesen zu einer ersetzbaren Ware gemacht. Die Konsumhaltung wird anerzogen und auf Lebewesen ausgedehnt.

Wichtig an diesem Beispiel ist auch, dass solche möglicherweise schwerwiegenden Entwicklungsstörungen teilweise aus der Vorstellung der Eltern entstehen, dem Kind sei die Berührung mit dem Tod nicht zuzumuten, es sei überfordert.

Sicher spielt das Alter des Kindes eine Rolle. Von dem Moment an, wo das Kind die Unterscheidung zwischen lebendigen und unlebendigen Dingen entwickelt hat, interessiert sich das Kind ums Thema. (Vorher würde es das Verschwinden der Bewegung und Wärme des Hamster vielleicht bemerken und sein Verschwinden bedauern, aber dies einem ähnlichen Verschwinden anderer Dinge gleichsetzen).

Lässt sich Totes lebendig machen?

Das 2 bis 3-jährige Kind beginnt mit dem Aufbau der Vorstellung von Lebendigkeit. Das magische Denken der ganzen Kindheit beschäftigt sich nicht zuletzt immer mit der Frage, ob und wie Totes lebendig gemacht werden kann. Auch wir "realistischen" Erwachsenen haben im seelischen Hinterstübchen diese Frage wohl nie endgültig gelöst: Alle Vorstellungen von Geistern, Auferwecken der Toten usw. haben dort ihren Ursprung. Aber auch Sehnsüchte und Wünsche, zumal wenn wir selber von einem Todesfall betroffen sind, lassen uns die Toten in den Träumen wieder lebendig erscheinen.

Zur gleichen Zeit sehen wir bei Kindern Experimente mit der umgekehrten Frage: Wie lässt sich Lebendiges tot machen. Dass in der Realität Töten geht, der Weg zurück aber nicht, macht viele Kinder tief betroffen. Manche Tierquälerischen Aktionen können auch als Experimentieren mit solchen Fragen verstanden werden. Dann gilt es nicht nur moralisch zu reagieren, sondern die Fragen dahinter anzusprechen.

Diese Fragen bleiben ein ganzes Leben lang ein wichtiges Thema, das sogar ganze Industrien beschäftigt. Zu betonen ist, dass Töten und Wiederbeleben in der Fantasie gangbar sind: Im Märchen werden die Bösen getötet und ihre guten Anteile überleben -gerade durch das Töten. Die Guten, die getötet waren, werden wieder lebendig.

Das Kind ist also mit dem Thema schon sehr früh eng vertraut. Oft hat es sich aber nur in der Fantasie mit ihm befasst. Die reale Todeserfahrung bringt es der Wirklichkeit näher. Es erlebt eindringlich, dass das Ende der Lebendigkeit nicht rückgängig zu machen ist. Diese Erfahrung ist sehr wichtig und räumt auf mit allen Illusionen, z.B. auch mit der, dass Töten (und schwere Aggressivität) eine Spielform ist, wie andere Spiele auch. Unsere Unterhaltungsindustrie tendiert meiner Beobachtung nach eher in die Richtung, Tod und Töten als Spielform oder auch Beziehungsform unter anderen darzustellen.

Die fehlende Zeit, Abschied zu nehmen

Kommen wir zurück zum Beispiel, wo dem Kind die reale Erfahrung des Todes seines Bezugstieres erspart werden soll. Ich vermute, dass wir weitherum auch an einer Krise des Abschiednehmens leiden. Die Ersetzbarkeit der meisten materiellen Güter einerseits und die erfolgreiche Bekämpfung der Frühsterblichkeit der Menschen, erleichtert uns das ganze Thema von uns wegzuschieben. Die grossen Erfolge unserer Zivilisation, die ich nie missen möchte, hat eine Kehrseite.

Auch in diesem Punkt entspricht unsre heutige Welt nicht den Seelenbedürfnissen des Kindes (und wohl auch nicht den tieferen Bedürfnissen aller Menschenseelen). Das Kind (und wohl der Mensch überhaupt) ist grundlegend auf Kontinuität und Beziehung ausgerichtet. Ohne Beziehung kann er die ersten Monate gar nicht überleben. Diese Beziehungsfähigkeit und Beziehungsbedürftigkeit besteht nicht nur gegenüber Mitmenschen. Vielmehr entwickelt das gesunde Kind seelische Bindungen zu allen Gegenständen seiner Welt. Der Aufbau von Empfindungen, Gefühlen und Wertschätzung gegenüber einem Gegenstand - ebenso wie gegenüber einem Menschen - braucht Zeit, viel Zeit. Dieser Aufbau ist eine grosse seelische Tat jedes einzelnen. (Deshalb auch können seelische Behandlungen nicht in kurzen Zeit erfolgen und lassen sich keine allgemeingültigen Stundenzahlen, die für alle Menschen gleich gelten, angeben.)

Vom Aushalten des Abschiednehmens

Nun hat das Kind also eine tiefe Beziehung aufgebaut. Da verschwindet der Gegenstand, z.B. der Hamster. Was macht es nun mit seinen Gefühlen, mit seiner Bindung? Es ist ein riesen Unterschied, ob diesem Kind jetzt gesagt wird: Ach, das macht nicht so viel; du musst nicht traurig sein, ich kauf dir ein neues. Oder ob wir mit ihm mitfühlen: Ja das ist jetzt verloren (oder gestorben), traurig, schade, das tut weh, dass du es nicht mehr hast. Es stimmt, dass du dieses nie mehr haben kannst. Ich verstehe, dass du traurig bist; es ist sogar schön, dass du darüber weinen kannst, du hast es eben lieb gehabt. Jetzt ist die Trauer gross und ich nehme daran teil.

Es ist wichtig, dass die Trauer gelebt wird, denn in ihr lebt der unsterbliche Teil des Verlorenen: Die Beziehung des Lebenden zum Toten lebt weiter. Um so reagieren zu können, müssen wir in der Lage sein, Schmerz und Trauer des anderen zu ertragen. Eigentlich ist es sehr lieblos, wenn ich tröste und ständig darauf hinweise, dass es nicht so schlimm sei oder ablenke: „Später kommen wieder schöne Tage!“ und anderer Kram mehr. Es beweist dem Trauernden, dass wenig Beziehung ist zwischen ihm als Trauerndem und dem "Tröster". Er lernt nur, dass ein Trauernder andern Menschen fremd und nicht willkommen ist oder, dass seine Beziehung zum Verlorenen als wertlos erachtet wird. Ein Teil seiner Beziehungsfähigkeit wird damit getötet. Die Entwertung von Gefühlsbindungen beginnt. An dieser Entwertung erkranken Mensch und Umwelt unserer Zeit.

© Dr. Rudolf Buchmann

Text und Copyright Dr. R. Buchmann, Apfelbergweg 3, St. Gallen

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