Rennen oder Ritalin ?

Schweizer schlucken massiv mehr Ritalin zeigt eine aktuelle Studie der Helsana. Es gibt verschiedene Methoden um ruhig zu werden. Wollen wir auf Stressvermeidung verzichten und Stressabbau medikamentös betreiben, brauchen wir uns über die Erhöhung der Kassenprämien nicht zu wundern.

Innerhalb von 4 Jahren sei der “Konsum“ von Ritalin insgesamt um 42% gestiegen, bei den Buben 33%, bei den Mädchen gar 39%, bei den Erwachsenen je nach Alter und Geschlecht zwischen 58 % und 131% !! Wie es verschiedene „Stressoren“ gibt – Einflüsse,die Unruhe erzeugen - gibt es auch verschiedene Verhaltensweisen, die Sterssabbau bewirken. Wer aber schon als Kind lernt, dass Gefühle, Empfindungen und Stimmungen hauptsächlich chemisch (durch Medikamente) gesteuert werden, wird diese „Erziehung“ (oder schlechte Gewohnheit) auch als Erwachsener beibehalten.

Erregungsbalance

Ein gesunder, wacher, aktiver Mensch lebt in einem rhythmisch pulsierenden Wechsel von Anregung und Beruhigung. Erregungshöhepunkt und Entspannungstiefe, sowie die Zeitspannen des Ausgleiches sind von Mensch zu Mensch verschieden, d.h. individuell oder persönlich. Ein Teil dieser persönlichen Normalität ist angeboren. Wir können verschiedene Charaktertypen beobachten: Athletische Menschen z.B. zeichnet ein stetiger, langsamerer Energieanstieg aus (lange Anlaufphase), die bis zu einem Maximum ansteigt und dann in eine rasche Ermüdung und Abbruch von Kraft und Konzentration übergeht. Andere „Typen“ (Pykniker) erleben einen gleichmässigen Wechsel zwischen rascherem Anstieg und gleichmässiger Reduktion der verfügbaren Energie. Eine dritte Gruppe (die Sthenischen) springen sehr rasch an, halten sich dann lange Zeit auf hohem Konzentrationsniveau, das dann relativ plötzlich und schnell sinkt.

Diese biologische Ausstattung trifft nun auf sehr unterschiedliche Anforderungen in der Umwelt. Unsere heutige gesellschaftliche Organisation von Arbeit und Schule trägt diesen biologischen Unterschieden in keiner Art und Weise Rechnung. Vor allem wird von allen Menschen erwartet, dass sie sich denselben Anforderungen jederzeit anpassen können. Eine Gleichmacherei sondergleichen.

Charakter und Stress

Das Dargestellte ist nur ein Rhythmus von mehreren, die den Charakter und Energiehaushalt prägen. Ich benutze ihn als Beispiel – wohl wissend, dass viele andere biologische und erlernte Rhythmen und Erregungsfaktoren parallel und untereinander verknüpft ebenso bedeutende Rollen spielen. Wer dauernd gegen seine eigenen Rhythmen leben muss, gerät unter Stress. Der Stheniker, der warten muss bis die andern endlich „aufgewacht“ sind, kommt fast um vor Langeweile. Der Pykniker, der schon lange abgehängt hat, weil seine Energiereserve „einen Break“ braucht, aber der Stheniker noch in voller Fahrt ist und das Geschäft keinesfalls unterbrechen will, fällt fast unter den Tisch. Der Athletiker ärgert sich, dass schon wieder ein Break kommt, wo er docherst richtig Fahrt aufgenommen hat usw.

So „nerven“ sich unterschiedliche Persönlichkeiten und setzen sich gegenseitig unter Stress. In diesem Punkt Ahnungslose reagieren oft leicht bis schwer gereizt über die KollegInnen, mit denen sie zusammenarbeiten sollten. Auf die Dauer setzt dies alle Beteiligten unter Überreizung und Gereiztheit – wie es früher hiess, oder neudeutsch: Unter Stress.

Drogen

Da helfen Drogen: Legale in Form von Medikamenten, Tabak, Kaffee und Alkohol, illegale – aber oft tolerierte – Kokain, Aufputschmittel, Haschisch. Dabei geht es um dasselbe Ziel: Die körperlichen Abläufe und Bedürfnisse sollen durch Einnahme von Substanzen künstlich und willkürlich manipuliert werden.

Nur kurz sei auf den Unterschied hingewiesen, ob der Wille zum Eingreifen bei der Person selber liegt oder ihm aufgezwungen wird. Während Kinder oft von anderen gezwungen oder verführt werden z.B. Ritalin zu schlucken, wirken Erwachsene auf den ersten Blick freier. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass die Freiheit des Willens relativ ist: Wer als PyknikerIn bei Marathonsitzungen durchhalten „will“, muss wohl ein Aufputschmittel oder Kokain einschieben. Wer nach einem Stresstag, der keinerlei Rücksicht auf die Erregungsrhythmen und auf die Balance zwischen Konzentration und Entspannung nahm, innerlich völlig durcheinander ist, muss sich wohl mit Hilfsmitteln beruhigen. Dennoch hat der Erwachsene mehr Möglichkeit, sich über Sinn und Unsinn seines Tuns Rechenschaft zu geben und ist letztlich selbstverantwortlich sich selber gegenüber.

Anders bei Kindern, denen die Selbstregulierung von vorneherein unterdrückt wird. Sie können gar kein Empfinden lernen, was ihnen – von innen heraus – gut tut. Die Regulierung von aussen ist der Normalfall, Notwendigkeit. Letztendlich wird das Fühlen auf Pillenbasis auch durch den Arzt als Gewährsmann dafür, dass es heilsam, notwendig und gesund ist, geheiligt

Beruhigungsmittel

Die Frage aber bleibt: Muss das Beruhigungsmittel chemisch sein? Wir wissen, dass Übererregung auf natürliche Weise durch Bewegung einerseits und durch Meditation andererseits abgebaut wird. Eine Pille schluckt sich aber in weniger als einer Minute, die andern Mittel brauchen Zeit. Damit sind wir bei einer gesellschaftlich hochbedeutsamen Wertungsfrage.

Es untersteht keinem Zweifel, dass die Schluck- und Spritzpräparate – legal oder illegal – alle Nebenwirkungen haben. Bei Ritalin z.B. sind sie sogar recht gut bekannt und alles andere als unbedenklich. Geht der Zeitgewinn und die Ungestörtheit der Gleichmacherei der persönlichen Gesundheit vor? Wo schlägt die Forderung nach Anpassung – z.B. an den Stundenplan – in volksschädliche Untergrabung der Gesundheit sowohl der aktiven wie der nachwachsenden Bevölkerung über? Welche Selbstberuhigungsverhalten werden toleriert: z.B. Zappeln im Unterricht, Kritzeln/Zeichnen etc.? Es gibt Pädagogen, die behaupten, solches Verhalten schwäche die Konzentration. Bewiesen ist das keineswegs.

Es ist aber auch eine Organisationsfrage: Wieviel Spielraum erhält der einzelne Mensch, um auf seinen eigenen Rhythmus achten zu können? Wo wird ihm Raum und Zeit für seine Art der Beruhigung angeboten; z.B. ein stiller Ort für die Pause. Nicht alle brauchen den Pausenlärm und das Austoben – einige aber schon und das dringend!

Was beruhigt?

Am einfachsten können wir den „Beruhiger Nr. 1“ bei Kleinkinder beobachten: Hautkontakt, Zuwendung und – wo nötig – tröstende Worte. Mitmenschlicher Kontakt, echte Anteilnahme und liebevolle Berührung sind durch kein anderes Mittel aufzuwiegen. Alle Formen von freundschaftlichem und partnerschaftlichem Kontakt gehören hierher: Das offene Ohr, das aktiv zuhört; die Bereitschaft zum Austausch und zur echten Begegnung, in der es nicht um „alles andere“ geht (Ablenkungen, fremden Tratsch etc.), sondern um „Wie geht es dir wirklich?“ und „wie geht es mir?“ – im Sprechen, im gemeinsamen Schweigen oder Machen. Dies gilt nun nicht nur für kleine Kinder und grössere Kinder, sondern auch für Erwachsene.

Bei sich selber sein dürfen und sich selber sein zu können ist an zweiter Stelle zu nennen. In Ruhe gelassen werden, wenn Rückzug gewünscht wird. Für traurige, enttäuschte oder unglückliche Momente einen geschützten Ort besitzen, an dem es möglich ist, sich in sich selber und – gegebenenfalls – die eigenen Träume zu versenken.

Erst an dritter Stelle nenne ich das Abstrampeln, Bewegen, Austoben. Für einen Energiestau oder einen Wutanfall, auch für Panik oder Erwartungen, die „nicht auszuhalten sind“, hilft motorische „Abfuhr“ zweifellos.

Wer das alles nicht haben kann, weil er oder sie Hausaufgaben machen muss nach einem langen Tag mit viel stillsitzen, braucht Ritalin. Im Tessin übrigens ist der Verbrauch an Ritalinkindern 5 mal tiefer. Die Zeitung „20 Minuten“ vom 25.8. kommentiert: „Kinder werden wie Maschinen abgestellt“. So ist es! Darf es so sein?

© Dr. Rudolf Buchmann

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