Alles normal - nichts zu sagen?
Erst Sprechen führt zu Sprache, zu Wahrnehmung und Bewusstsein. Das Wort hat trotz moderner „sprachloser“ Medien und „nonverbaler“ Kommunikation eine zentrale Stellung für die Entwicklung des menschlichen Bewusstsein und damit der Organisation allen humanen Lebens.
Ich soll einen Jüngling mit Schulschwierigkeiten untersuchen und möchte daher von ihm etwas hören, wie er seinen Alltag erlebt, er soll mir etwas erzählen über die Schule und das Elternhaus. Zwar merke ich ihm an, dass er meiner Aufforderung nachkommen will, aber alles was er sagt, sind knappe Aufzählungen, die abgeschlossen werden mit der Feststellung: Ja halt ganz normal. Nein, es gibt keine besonderen Vorkommnisse, keine Gefühle oder Empfindungen, keine Probleme; er weiss nicht, weshalb er kommen sollte oder was ein Problem sein könnte; denn alles ist normal.
„Normal“ als Stumpfheit, Wertung statt Beobachtung
Obwohl es ihm nach allen Angaben, die mir zur Verfügung stehen, nicht gut geht und sein Affektausdruck anzeigt, dass es ihm überall unbehaglich ist, hat er nichts zu sagen. Es gibt natürlich auch bockige jugendliche Klienten, die sich „einfach“ sträuben, in ihr Leben Einblick zu geben. Bei Mark wirkt dies nicht so: Seine Not besteht gerade darin, dass er selber glaubt, nichts zu sagen zu haben. In nicht-sprachlichen Tests wird deutlich, dass Mark sehr wohl Vorstellungen, Erlebnisse und Affekte besitzt. Er hat sie aber nicht zur Verfügung; kann sie nicht fassen und ordnen. So kann er sie auch nicht austauschen mit andern und kann keinen eigenen Standpunkt gewinnen, den er vertreten könnte.
Die Aussage, alles sei normal, wird zu einem Gefängnis für sein Bewusstsein. Zudem hat er die Wertsetzung „normal ist gut“ (in Ordnung) in sich aufgenommen und sein Interesse ist auf den Punkt zusammengeschrumpft, als normal, gut, in Ordnung zu erscheinen. Die Wertaussage ersetzt die Beobachtung. So kann er nicht berichten, was geschieht (aussen) und was er dabei fühlt (inneres Geschehen). Er nennt nur die Beurteilung: Alles, was war, ist normal. Es kann gar nicht anders sein; es lohnt nicht darüber zu sprechen.
Die Aussage, dass etwas normal sei, entbehrt jeden Bildes, jeder Wahrnehmung und jeder Empfindung. Wahrscheinlich hat Mark so unscharfe, verwirrende und ungeordnete Erlebnisse, dass es in seinem Bewusstsein wirklich nichts Fassbares zu sehen und zu sagen gibt.
Normal als Verdrängung und Abwehr
Es kann aber auch sein, dass er nicht näher hinsehen „will“ oder darf. Die Angst, etwas Ungutes, Peinliches, Böses oder Verletzendes könnte auskommen, verschliesst ihm die Sprache. In einer Novelle von C.F.Meyer musste ein Kind versprechen, niemanden etwas von seinen Erfahrungen zu erzählen; es hält sich an das Verbot und erzählt dem Kachelofen - im Beisein jener, denen es die Nachricht bringen will - sein Wissen. Es gibt äussere und innere Verbote, etwas wahrzunehmen. Äussere z.B. als direkte Bedrohung, „wenn du das sagst, wirst du vom bösen Mann geholt“. Innere z.B. „Wenn das auskommt, bin ich nie mehr liebenswürdig“. Vor allem die inneren Verbote sind oft unbewusst; d.h. weder die Erfahrung, die es zu verbergen gilt, noch die Drohung, die Verheimlichung befiehlt, sind bewusst und könnten in einer Befragung direkt genannt werden. Das Angebot projektiver Tests ist gleichsam der Kachelofen, dem gegenüber verdrängte Erfahrungen (d.h. solche deren direkte Mitteilung „verboten“ ist) ausgesprochen werden können. Vielleicht ist auch dies ein Motiv, dass Mark nichts direkt erzählen kann.
Gibt es normal ?
Die Kindheit war normal; die Eltern sind normal streng; für ihn ist alles normal: Da hat Mark ja bei näherem Hinsehen auch recht: Er kennt sein Zuhause, seine Schule und seine Welt. Seit Säuglingszeiten wuchs er in diese Welt hinein. Da keine gewaltigen Umwälzungen in der Familien- und Wohnsituation auftraten, war es immer schon so wie es heute ist. Er hat sich gewöhnt. Er kann gar nicht vergleichen, wie es sonst sein könnte oder bei anderen ist. Also ist alles normal oder anders ausgedrückt: Es gab gar keinen Ankick, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, wie es ist und zu beobachten, was in und um ihn vorgeht.
Gelegentlich bin ich erschüttert, was Menschen aus ihrer Kindheit erzählen und als normal ansehen. Erst das Infragestellen oder in Extremfällen sogar das Zurückweisen der Normalitätsüberzeugung öffnet manchmal das Tor, um erlittene Verletzung, Schmerz oder Irreführungen in Wahnwelten langsam wahrzunehmen. So gibt es z.B. Frauen, die den familiären sexuellen Missbrauch als Teil ihres Lebens so einverleibt haben, dass sie ihn als normal angenommen haben: Da kann man nichts machen, das muss frau erdulden und jedes Gespür abschalten. Da gibt es auch keine Sprache dafür.
Gelegentlich kommen mir auch Zweifel: Wo verläuft die Grenze der Normalität. Wo darf z.B. Gewalt in der Erziehung (die berühmte Ohrfeige) noch als „normal“ gelten und wo befinden wir uns im Gebiet, das völlig inakzeptabel ist und gegen das- um der Gesundheit des Patienten willen - angekämpft werden muss.
Provokativ kann gesagt werden: „Normal“ ist der Ausdruck für „Nichts sehen“, weil weder ein Motiv hinzuschauen besteht, noch ein Ordnungsmuster, um Beobachtungen einzuordnen, von einander zu unterscheiden und mit eigenen Empfindungen in Beziehung zu setzen. Gelegentlich sind es auch Ereignisse, die die Ordnungsmuster in einem Masse sprengen, dass das Nicht-Hinschauen einem Selbstschutz gleichkommt, um die übrigen Teile des Bewusstseins vor der Überschwemmung mit Panik, Angst und Horror zu schützen.
Sprechen, Sehen, Verstehen
Auf diese Weise kann die Aussage von Mark als dessen grosses Problem festgehalten werden: Er kann zuwenig sehen und zu wenig spüren, was ist, weil seine Wahrnehmungsfähigkeit (nach innen und aussen) zu wenig entwickelt ist. Und weil er auf diese Weise nicht wissen kann, dass es interessante, spannende, verwirrende und widersprüchliche Dinge zu sehen gäbe, kann er nicht sagen, dass ihm etwas fehlt und was ihm fehlt. Er kann sich auch nicht richtig interessieren; denn alle Forderungen z.B. in der Schule kommen von aussen. Er lernt sie auswendig, lässt sich abfragen und misst sich daran, ob er als „gut/normal“ oder „schlecht/auffällig“ (im negativen Sinne) beurteilt wird.
Wie kann man Mark helfen, mehr zu „sehen“. Eine deutsche Zeitung wirbt mit dem Spruch: „Wer sie liest, sieht mehr“. Lesen als Hilfe zum Sehen? Mehr sehen heisst doch mehr TV, evtl. Comics und Bilder. Aber der Spruch ist bei näherem Hinsehen sehr richtig: Wir sehen nicht einfach so, von Natur aus, das was ist und wie es ist. Die Verarbeitung der durch das Auge aufgenommenen Signale zu Bildern, zu wiedererkennbaren Mustern und zu bedeutsamen Figuren ist ein hoch komplizierter Prozess, dessen Erlernung die ersten Entwicklungsmonate und Jahre ausfüllt und - soll die Entwicklung nicht still stehen - lebenslang weitergeht.
Bewusstsein - wissen, was was bedeutet - entsteht in der Verbindung von Sprache und Sinneseindrücken. Über die Sprache entwickeln wir das Orientierungsmuster, um die Sinneseindrücke zu ordnen. Zwar können rein visuelle Signale (Wegweisersymbole am Bahnhof z.B.) uns scheinbar ohne Sprache Orientierung verschaffen. Nur merken wir dann nicht, dass die Fähigkeit diese Zeichen zu lesen, darauf beruht, dass wir über die Sprache diese Fähigkeit früher bereits erworben haben.
Sprechen als Kernstück jeder Psychotherapie
Mit dieser Tatsache hängt zusammen, dass auch Heilverfahren, die andere Ausdrucksmittel benutzen (z.B. Musik, Tanz, Malen) nicht ohne Sprechen auskommen, wenn sie Bewusstwerden zum Ziel haben. Bewusst werden: Das heisst, das eigene Leben klarer zu durchschauen. Das heisst zu unterscheiden, was äusserliche Realitäten sind, mit denen ich mich einrichten muss oder die ich verändern will, und was eigene Phantasien und Bilder sind, die der Realität nicht entsprechen oder noch nicht entsprechen. Erst aus diesem Bewusstsein, kann ich gezielt und willentlich handeln; kann Veränderungen anstreben oder drohenden Gefahren aktiv begegnen. Wenn solchermassen Lichter aufgehen, die meine Situation erhellen, dann erfüllt Psychotherapie ihren aufklärerischen Auftrag. Findet dieser Bewusstwerdungsprozess nicht statt, können wir vielleicht von wohltuenden Therapien sprechen, die die Stimmung beeinflussen. Sie können aber nicht nachhaltig die Fähigkeit entwickeln, Probleme selbständig zu lösen. Nur Verfahren, die zur Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit und zur Erhöhung der Problemlösungskompetenz führen, dürfen als Psychotherapie bezeichnet werden.
Fehlt dem Sprechen und der Sprache jedoch die Erlebnisebene, verknüpfen sich Worte nicht mit Bildern und Erfahrungen, dann findet auch keine Psychotherapie statt. Dann ist alles Sprechen nur Wortgeklingel und Frustration. Daher sind die verschiedenen Therapierichtungen auch so sinnvoll: Sie holen die Menschen dort ab, wo ihre Hauptkompetenz ausgebildet ist, ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu spüren und auszudrücken: Im Bild (aktiv selber gemalt oder vor dem inneren Auge auftauchend), in der Bewegung, in der sprachlichen Schilderung oder im musikalisch-rhythmischen Ausdruck. Diesem Erleben Antwort und Sprache zu geben, macht aus dem Erlebnis eine Erkenntnis.
Sprachliche Begleitung als Basis der Wahrnehmung
Die moderne Säuglingsforschung bestätigt, was die meisten Eltern schon tun, meist ohne sich über die grosse Bedeutung ihres Tun bewusst zu sein: Sie sprechen mit dem Säugling; sie begleiten mit ihrer Sprache seine Bewegungen, begleiten seinen Blick und benennen die Gegenstände, die er wahrscheinlich im Blick hat. So leisten sie in den ersten Wochen und Jahren Aufbauhilfe zur Wahrnehmung: Das ist ein Stuhl! - Natürlich ist das ein Stuhl, muss man doch nicht sagen; das ist doch normal, weshalb sagen?
Intuitiv wissen wir, dass der Säugling noch nicht wissen kann, dass das Gebilde ein Stuhl ist. Für ihn ist eben auch das „Normale“ noch nicht normal. Wir verbinden dem Säugling ein Wort mit einem visuellen Muster. Nach einiger Zeit weiss es: Aha, das ist ein Stuhl. Jetzt erst kann es das Gebilde als Stuhl wahrnehmen: Wer Sprache hört, sieht mehr.
Mit dem Verständnis dieser Zusammenhänge lässt sich auch erklären, weshalb die Untersuchungen der Sechzigerjahre feststellten, dass Kinder in einem Milieu, in dem viel besprochen wird, höhere intellektuelle Leistungen zeigen, als Kinder aus sehr kommunikationsarmem Milieu. Es ist nicht nur die Sprachkompetenz, die gefördert wird, sondern ebenso wichtig die Differenzierung der Wahrnehmung, die ihm erst ermöglicht die Realitäten zu erkennen. Im nächsten Heft werde ich mehr darüber schreiben, wie dieses Sprechen gestaltet sein muss, um entwicklungsfördernd zu sein; denn unpassendes Sprechen kann auch störend und schädigend sein.
© R. Buchmann, Psychotherapeut