Gewaltpotential Ehrverletzung
Gewalt kommt nicht nur von aussen, durch Lernen und Vorbilder; sie kommt auch von innen als Abwehr von Ohnmachtgefühlen und als Verteidigung der eigenen Würde.
In der Diskussion über die wachsende Gewalt Jugendlicher wird ein Aspekt meist übersehen: Gewalt ist nicht selten eine Reaktion auf Angst, und eine der tiefgreifendsten Ängste ist jene vor dem Verlust der eigenen Ehre. Eine andere die Angst vor Verlust der eigenen Persönlichkeit resp. Identität. Ich werde in diesem Artikel den Aspekte der Ehre, in einem nächsten jenen der Identität behandeln.
Kränkung, Gewalt und Krankheit
Ich denke an einen Zweitklässler, der zu mir geschickt wurde, weil er auf dem Pausenhof übermässig aggressiv agiere, im Hort kaum mehr tragbar sei und die Eltern, insbesondere die Mutter wenig kooperativ sei. Zunächst ist sein Verhalten schlecht zu verstehen. Er ist nicht so gut und wird gehänselt. Das geschieht vielen Kindern, die deshalb nicht „ausflippen“. Er ist ein „Brocken“ für sein Alter. Da hat er es schwieriger als andere, seine Kraft einzuschätzen und reagiert wohl manchmal heftiger als er selber merkt. Aber deshalb untragbar? Sein Verhalten wird aber wirklich so geschildert, dass von einer aggressiven Verhaltensstörung auszugehen ist: Er ist krank.
Aber was macht ihn denn so krank? Nach einigen Behandlungsstunden mit schwankendem Erfolg - er wird etwas ruhiger, dann kommt es zu Rückfällen -, taucht die haltlose Traurigkeit und Wut darüber auf, dass ihn seine Mitschüler wegen seiner Mutter verspotten. Perfid ist dabei, dass die andern tatsächlich einen Punkt aufgreifen, der real stimmt und den Buben selber beschämt: Die Mutter sieht sehr unvorteilhaft aus und man sieht ihr auch ihre schwache Intelligenz an. Der Sohn ist ihr sicher geistig um einiges überlegen. Zudem trifft ihn die Verunglimpfung dort, woran er selber nichts ändern kann. Scham, Wut und Ohnmacht sind ein mächtiges Gemisch!
Hätten wir in einer andern Kultur resp. zu einer andern Zeit gelebt, wäre das Verhalten meines Patienten nicht nur verstanden, sondern sogar von ihm gefordert gewesen. Soll er feige zusehen, wie seine Mutter entwürdigt wird? Ist er dem Spott ohnmächtig ausgeliefert? Er will und muss die Ehre seiner Mutter rächen.
Ehre wem Ehre gebührt
Da er von keiner Seite dafür Unterstützung bekommt, bleibt ihm dazu nur das, was er hat: Seine relative, körperliche Stärke. Hort und Lehrerin haben sich auch mir gegenüber über die Mutter und ihre Kompetenzen eher abfällig geäussert und davon gesprochen, dass das Kind besser in einem Heim aufgehoben wäre. Die Mutter wehrt sich emotional und eher hilflos für ihr Kind, das für sie die letzte Stütze darstellt, um ihren Selbstwert aufrecht zu erhalten.
Die Überlegung der Betreuenden ist aus dem Blickwinkel des Kindeswohles verständlich. Es ist wichtig der Frage nachzugehen, ob bei erziehungsunfähigen Eltern nicht eine Fremdplatzierung ins Auge zu fassen ist. Bei diesem Kind wäre dieser Schritt jedoch in verschiedener Hinsicht verheerend gewesen. Er war eindeutig bei seinen Eltern zuhause und er fühlte sich als Schützer der Ehre der Familie. Die Diskussion um Fremdplatzierung löste namentlich bei der Mutter grosse Ängste aus, die sie wenig kooperativ machte und in ihrer Erziehungsfähigkeit nicht voranbrachte. Ein zentraler wichtiger Schritt war, die Mutter in allen beteiligten Kreisen aufzuwerten. Sie konnte trotz ihrer Einschränkungen gut gestützt werden, und weil dem Sohn sehr viel an der Achtung seiner Mutter gelegen war, konnte er auch gut motiviert werden, Dinge zu unterlassen, die seine Mutter in ein schlechtes Licht bringen könnten. Ich lobte ihn dafür, dass er sich für die Ehre seiner Mutter so ritterlich eingesetzt hatte, musste ihm aber auch zeigen, dass sein Vorgehen nicht verstanden werde, so dass er damit das Gegenteil von dem erreiche, was er beabsichtigt.
Selbstsicherheit, Selbstwert und Gelassenheit
Ein weiterer Schritt bestand darin, ihn weniger empfindlich auf Spott „zu machen“. Das geht nicht allein mit guten Worten. Ich musste ihm zu spüren geben, dass ich seine Mutter achte. Diese hat das selber gespürt und dem Sohn auch wieder vermittelt. Meine Wertschätzung seiner Mutter konnte er rasch in eigene Wertschätzung und Anerkennung ummünzen, dass die Welt seiner Familie nicht nur feindlich gesinnt ist. Mit dieser Erfahrung liess sich Spott und Provokation leichter ertragen, weil sie nicht auf den Boden von Ohnmachtgefühlen und Isolation fielen.
Mit der positiven Entwicklung fiel auch die Gefahr langsam dahin, dass er die Mutter sich selber überlassen müsse, wenn er in ein Heim gesteckt würde. Dass er hier zuhause bleiben darf, stärkte ihn in dreierlei Hinsicht: Er konnte sicher sein, dass seine fürsorglich-solidarischen Wünsche der Mutter gegenüber verstanden, akzeptiert und gewürdigt werden und er sie weiter leben durfte. Er wurde vom Gedanken entlastet, an einen fremden Ort gehen zu müssen (entwurzelt zu werden). Drittens konnte er aber auch von der Angst entlastet werden, dass ihm die Schuld daran überbürdet würde, dass er die Heimat verlassen und damit die Mutter massiv kränken muss.
Durch diese Entwicklung kam es zu einer markanten Beruhigung. Die Provokation wurde nicht mehr als so bedrohlich erlebt; denn das Kind wusste, dass er nicht allein war mit einer positiven Einschätzung der Mutter. Erst versuchte er noch mit Gegenspott, sich die Spötter vom Leib zu halten. Auch das ein positiver Schritt: Wenn die Gewalt aus körperlicher Unmittelbarkeit in die höher entwickelte, indirekte sprachliche Gewalt überführt werden kann, eckt man in unserer Kultur schon viel weniger an. Im Moment, wo er schliesslich auch das bleiben lassen konnte, war er für die Spötter nicht mehr interessant. Das Schulverhalten wurde sozial unauffällig.
Teufelskreis der Gewalt
Mit diesem Schritt zur inneren Sicherheit werden die aggressiven „Spielchen“ weniger gefährlich. Die Provokationen waren früher ja unerträglich gewesen. Ihm war nichts übrig geblieben als mit körperlicher Gewalt zu reagieren! Dies ist seine subjektive Empfindung gewesen. Mit der Formulierung, es bleibe immer ein anderer Ausweg, ist hier nichts geholfen. Die gutgemeinte Ermahnung führt nur dazu, dass das Kind hört, sein Empfinden sei unberechtigt resp. nicht in Ordnung. Ich pflichte aber dem subjektiven Empfinden dieses Kindes aus oben genannten Einsicht zu: Weil seine edle Absicht - ich wähle den pathetischen Ausdruck bewusst - nicht verstanden wurde, blieb ihm nichts anderes übrig; es sei denn er würde sich apathisch zurückzuziehen und in eine depressive Entwicklung ausweichen, was für seien Entwicklung aber kein besserer Ausweg wäre.
Zwar hatte er früher in der Schule auch schon über das Gespött reklamiert, aber die ungeheure Sprengkraft verletzter Würde wurde unterschätzt. Er wurde mit seiner Aussage allein gelassen und damit der Ausweg über die Sprache versperrt.
Gewalt und Gegengewalt
Seine „Gewaltlösung“ brachte natürlich keine Lösung, sondern rief die „staatliche“ Gewalt in Form von Erziehungsbehörden auf den Plan. Indem sie die Erziehungsfähigkeit der Mutter anzweifelten, das die Familie als Entwürdigung der Mutter und Gewaltandrohung verstehen musste, vergrösserten sie sein Leid. Damit wurde für ihn klar, dass seine Aggressionen gefährlich und böse sind, und er sich vor den eigenen Impulsen fürchten muss. Indem er sich über einige Zeit zusammennimmt, staut sich viel Ärger an, der sich irgend wann wieder in einem Ausbruch entlädt. Er wird bei „kleinem Anlass“ - wie die Aussenstehenden sagen werden - „unangemessen“ wütend. Der Zorn überwältigt ihn und er kann sich nicht mehr zurückhalten. Nun hat er wieder eine Niederlage und die Spötter (aber auch die Zweifler an seiner Normalität) haben wieder ein gefundenes Fressen.
Dieser Teufelskreis heizt den inneren Druck bei vielen „aggressiven“ Kindern an, die nur beschwichtigt oder eingeschüchtert, aber im Anlass ihrer Wut nicht verstanden werden und sich meist selbst nicht verstehen. Die berühmte „Wut im Bauch“ ist auch für den, der sie in sich trägt, kein angenehmer oder erstrebter Zustand!
Aushalten und Aufwerten
Nicht nur aggressive Kinder haben ein Problem mit dem Aushalten von Wut und Ärger. Auch viele Erwachsene tun sich schwer, mit positiver Wertschätzung Rückfälle auszuhalten und durchzustehen. Nicht selten erfahren auch Eltern und z.B. der Therapeut grosse Anzweiflungen und sogar Anfeindungen, wenn sie der Verurteilung des aggressiven Kindes mit Verständnis entgegenhalten wollen. Dabei ist nicht gemeint, dass gewalttätiges Verhalten irgendwie zu rechtfertigen ist resp. „tolerant“ zur Tagesordnung überzugehen wäre. Verständnis im wahren Sinne (Verstand!) hat viel mehr mit harter Knochenarbeit am Problem sowohl mit dem Kind als auch mit seinem Umfeld zu tun. Ein durch Kränkungen erkranktes Kind - und nicht selten auch seine Eltern - braucht viel unterstützende Energie, um Entwicklungsansätze zu schützen und Rückschläge auszuhalten. Auch Lehrer brauchen natürlich diese Unterstützung und Zuversicht in ihren Kreisen, um ein „schwieriges“ Kind auszuhalten und zu fördern.
Ganz wichtig scheint mir auch die Prävention! In diesem Thema geht es um die manchmal subtilen, manchmal aber auch sehr groben Entwertungen in der Schule, in der Unterhaltung und im Geschwätz über Nachbarn usw. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, Entwertungen lustig zu finden, zu bagatellisieren oder zu übersehen. Sie bergen ungeheuren Zündstoff. In diesem Sinne bin ich auch sehr froh, haben sich die Genfer Sekundarlehrer gegen Humor in einem Schulbuch gewehrt, der tendenziell den Lehrerstand herabwürdigt. Das braucht unsere Schule wirklich nicht.
© Dr. Rudolf Buchmann, Psychotherapeut