Gefahr Fremdenhass

Ausgrenzung und Angstmache vor Fremdem erweisen sich als Bumerang. Anstelle von mehr Sicherheit ernten wir mehr Angst in der eigenen Bevölkerung und mehr Aggressivität bei den ausländischen Jugendlichen.

Unvertrautes macht das kleine Kind zugleich neugierig und ängstlich. Beobachten wir den Säugling der „fremdet“, so sehen wir, wie er zunächst das fremde (= unvertraute) Gesicht bemerkt, seinen Kopf dann abwendet, aus den Augenwinkeln wieder hinschielt, vielleicht sogar den Kopf zuwendet, staunt und wieder abwendet. Der Ausdruck verrät Erstaunen, dann Furcht; dann wieder Neugier. Es sieht aus wie ein Tanz zwischen Flucht und Annäherung an das Neue: Voraus ins Spannende und zurück ins Sichere.
Verwurzelung
Nun spielt es eine grosse Rolle, wie das Kind gehalten wird oder wo es liegt. Der vertraute Ort seines eigenen Kinderwagens ermöglicht ihm schon mehr Sicherheit, um hinzuschauen. Noch besser ist Arm und Hals von Vater oder Mutter, um von sicherem Sitz aus, hinzuschielen, zu lächeln, vor dem eigenen Mut zu erschrecken und den Kopf in den Hals des Vaters zu vergraben, dann wieder die Neuigkeit zu erkunden. Ob das Kind zu schreien anfängt – also einen Angstanfall erleidet -, oder seine Hände nach dem „Neuen“ ausstreckt, entscheidet sich daran, ob sich die Waage auf die Seite seines Geborgenheitsgefühles neigt oder auf jene der Angst und des Misstrauens. Menschen, die sich geborgen fühlen in ihrer Umwelt, können sich leichter anderen öffnen. Menschen, die wissen wo sie hingehören, dass sie dort willkommen sind, geschützt und unterstützt werden, kurz Menschen, die in ihrer Welt verwurzelt sind, entwickeln weniger Angst und werden dadurch freier, auf neues einzugehen.
Die Verwurzelung ist ein psychosozialer Prozess, an dem innere Kräfte des Kindes und äussere Umstände und Reaktionen der Mitmenschen teilhaben. Von innen drängen soziale Bedürfnisse und Interessen zu den Mitmenschen, wie sie sich z.B. im Ausstrecken der Arme zeigt. Die Antwort auf solche Impulse signalisiert dem Kind sein Willkommensein oder die Abweisung. In tausend kleinen und kleinsten Erlebnissen baut sich das Gefühl auf, hier gehör ich hin, da bin ich zuhause. Oder aber eben: Hier bin ich unwillkommen, die Welt ist feindlich und verschlossen. In einer feindlich verschlossenen Welt kann kein Lebewesen starke Wurzeln fassen. Eine starke Verwurzelung ist aber eine bedeutende Quelle innerer Sicherheit, auf die es sich stützen kann, wenn es als Schulkind neue Welten erobern muss oder als Jugendliches und Erwachsenes „fern der Heimat“ neue Gebiete für sich erobert.
Die Haltung der Eltern

Der erste Boden für Verwurzelung sind sicher die Eltern. Ein Hinweis muss hier genügen, wie schwer es für Kinder ist, diese Lebensquelle zu erschliessen, wenn sich die Eltern das Kind gegenseitig nicht gönnen, die andern vor ihm schlecht machen oder sich – z.B. bei Scheidung – um den Wohnort des Kindes die „Köpfe einschlagen“.

Gehen wir aber von starken Banden des Kindes an die Eltern aus, ist beim „Fremden“ von grosser Bedeutung, wie die Eltern auf die Ängstlichkeit ihres Kindes reagieren: Können sie es beruhigen? Können sie ihm Mut machen, Unbekanntes genauer anzuschauen? Oder freuen sie sich heimlich, dass sich das Kind zu ihnen flüchtet? Sind sie selber ängstlich vor allem Fremden? Haben sie ständig Angst um das Kind, das sich in neue – auch den Eltern unbekannte – Gebiete vorwagt? Haben sie Angst, das Kind resp. dessen Zuneigung an andere zu verlieren oder freuen sie sich darüber, dass es so vorurteilsfrei auf andere zugehen kann?

So können Eltern Neugier und Interesse des Kindes unterstützen, was auch dessen Intelligenz zugute kommen wird: Fremdes ist interessant und lohnend es zu entdecken. Andererseits blockieren und behindern geschürte Ängste die Fähigkeit, sich Unbekanntem und Fremden neugierig und liebevoll zu begegnen.

Fremdenphobie gegen Integration

Auch die Haltung der Eltern ist natürlich nicht frei von Einflüssen von ihrer Mitwelt. Genauso wie sie den Kindern vorbildlich sind und durch ihre Gefühlssprache an der Ausbildung von deren Reaktionsbereitschaft teilhaben, so werden auch sie durch „die Stimmung im Land“ in ihrer Reaktionsbereitschaft verändert. Ängste entwickeln sich nicht nur von innen heraus, sie können auch „aufgeschwatzt“ und durch Geschichten, „Stories“, Sensationsberichterstattung aufgebaut werden. Um über eine Person Einfluss zu gewinnen, eignet sich kaum etwas besser, als sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Das wissen wir nicht erst seit den Schreckensgeschichten des Struwwelpeters in der Pädagogik; das wissen Volksverhetzer seit urdenklichen Zeiten.

Auf Angst gibt es bekanntlich drei biologische Reaktionsmuster: Flucht, Angriff oder Totstellreflex. Dem Menschen ist es vorbehalten als weitere Reaktion, die Überwindung der Angst durch Neugier anzustreben: Kennenlernen, was unbekannt ist und daher bedrohlich erscheint. Ein wesentlicher Motor hinter allen Forschungsbemühungen aller Zeiten ist das Überwinden der Bedrohung durch Wissen. Dazu braucht es aber wieder diese innere Geborgenheit, die Kraft gibt, auf das als gefährlich Erlebte zuzugehen.

Die herbeigeredete Fremdenfeindlichkeit – aus welcher Quelle (eigener Schwäche und Angst, Demagogie oder anderes) gespeist – behindert aber das Zugehen auf das Andersartige, behindert das Kennenlernen und behindert damit auch die Integration fremder Menschen in unsere Kultur in vielerlei Hinsicht. Die Gefahr besteht, dass beide Seiten – der fremde Mensch und der Fremdenfeindliche – auf die biologischen Reaktionsmuster zurückfallen: Flucht (Vertreibungswunsch), Angriff (Aggressionsbereitschaft) oder Todstellreflex (Rückzug ins eigene Milieu, Verbarrikadierung, Sicherheitszäune).

Verwurzelung und Identität

Zugehörigkeit ist ein wesentlicher Teil des Selbstbildes – der Identität. Ich bin ....: Mann/Frau; Christ/Moslem/Jude/usw.;...SchweizerIn/Kroate/Italienerin/usw.;...berufstätig/arbeitslos/Schü-lerin/usw. Einige Zugehörigkeiten sind nicht veränderbar und nicht wählbar; andere dagegen schon. Einige ändern sich nach Lebensgesetzen, andere kann ich eintauschen, sofern es die Umwelt zulässt! Der unrühmliche Umgang mit den Einbürgerungen in der Schweiz möge als Beispiel für letzteres genügen.

Zugleich ist dieses Beispiel aber von hoher psychologischer Bedeutung. Ein „Secondo“/eine „Seconda“ ist ihrem Dialekt, ihren Alltagserfahrungen nach z.B. eine St. Gallerin. Zugleich weiss sie aber dass sie z.B. eine Sizilianerin ist – nur, dass sie Sizilien kaum kennt und dort als Fremde leben müsste, weil sie alles was zur Verwurzelung gehört (Dialekt, Lebensformen, Landschaften, Bevölkerung) nicht aus Alltagserfahrungen kennt. Das Bewusstsein der sizilianischen Identität beruht kaum auf Erfahrung, sondern stammen aus Erzählungen, positiven und/oder negativen Vorurteilen und eigenen Fantasien. Wo kann sie wirklich zuhause sein?

Noch komplizierter wird es natürlich, wenn die Herkunftsfamilie aus noch ferneren Kulturkreisen stammt. Wie und wo soll sich die Muslimin verwurzeln, die von der Familie angehalten wird Kopftuch zu tragen und in ihrer Klasse deshalb verlacht wird? Sich gegen die hiesige Kultur taub stellen und einbunkern, um zuhause Sicherheit und Geborgenheit zu erhalten oder sich auf diese Kultur einstellen und den Aufstand zuhause wagen? Wer wird sie unterstützen? Wer wird sie dann sein – Schweizerin oder Muslimin? Oder könnte das zusammen gehen? Wo gehör ich hin, wo will ich hingehören, werde ich aufgenommen, von wem und wie? Es sind sehr schwierige Fragen zu klären und oftmals sind Jugendliche damit allein, etliche sind überfordert.
Identität, Peergruppe und Integration
Integration ist kein einseitiger Anpassungsprozess. Wenn in gewissen Kreisen von Ausländern Integration gefordert wird, ist oftmals reine Anpassung und Unterordnung gemeint. Integration bedeutet aber dem Wort nach „Verschmelzung“. Dabei integrieren sich verschiedene Einflüsse und Eigenheiten zu etwas Neuem, vielleicht sogar Einzigartigen: Dies ist geradezu eine Definition von Entwicklung.
Integration ist das Gegenteil von Separation. Abgrenzen und Bewahren des Eigenen kann keine Integration fördern und keine Entwicklung hervorbringen. Die Abweisung „des Fremden“ führt notwendigerweise dazu, dass sich die „Fremden“ ihre eigene Identität als „Nicht-Schweizer“ verschaffen. Sie erleben sich als „die Fremden“ und schliessen sich als solche auch zusammen. Gerade in Pubertät und Adoleszenz sind Menschen auf Akzeptanz und Zugehörigkeit in ihrer Altersgruppe besonders angewiesen. Die Altersgruppe, mit ihren Emblemen, ihren Riten und ihren Werthaltungen, ist der Boden, in dem sich der werdende Erwachsene verwurzeln und vernetzen muss, will er die Zukunft meistern. In der Peer-Gruppe wird die Kultur von morgen geboren. Es ist also sehr erheblich, ob sich „reinkulturelle“ (um nicht zu sagen reinrassige) Peergruppen in der Jugendszene bilden oder interkulturelle. Und das darf nicht nur auf die Spitzenkultur gesehen werden, viel bedeutsamer ist hier die Alltagskultur: Umgangsformen, Werteinstellungen, Abgrenzungen gegenüber andern Gruppierungen.

Gefahr Fremdenfeindlichkeit

Fremdenfeindlichkeit verweigert Fremden die Integration; denn nur wo ich mich willkommen fühlen kann, werde ich versuchen mich zu verwurzeln. Diese Verweigerung wird anschliessend aber „den Ausländern, Asylanten etc.“ wieder als deren Makel vorgeworfen!
Wer Abweisung und üble Nachrede erleidet, wird diese mit der Zeit in sein Selbstbild aufnehmen. Er wird auch wenig Grund haben (und wenig innere Stärke) sich derjenigen Kultur zu öffnen, die ihn ablehnt; wenig Neigung entwickeln, sie zu achten, wertzuschätzen und schliesslich vielleicht nicht einmal mehr Bereitschaft, deren Gepflogenheiten und Gesetze zu beachten. Vielleicht erlischt die Bereitschaft, deren Gepflogenheiten und Gesetze zu beachten oder Hass und Rache für erlittene Demütigungen treiben ihn gar in Attacken gegen diese Kultur und ihre Menschen.
So führt die Propaganda gegen die Fremden in unserer Kultur den Zustand herbei, den sie anprangert oder verschärft ihn zumindest.
Es gibt keinen andern Ausweg: Wir müssen die Fremdheit begrüssen lernen; sie interessant finden, nach dem Guten in ihr suchen. Ein Klima der interessierten Akzeptanz fremder Kulturen vor der eignen Haustüre ist gefragt: Suchen sie Kontakt zu Eltern von Ausländerkindern, ermutigen sie ihre Kinder, diese einzuladen und kennen zu lernen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Fremdenhass, Ausländerkinder, Identität, Gruppendynamik, Motivation