Neugier oder Angst: Über Lernmotivation (Teil 1)
Ob Buchstaben, Velofahren oder Menschen kennen lernen: Hinter jeder erworbenen Kenntnis und hinter jeder gelernten Fähigkeit steht eine Anstrengung, die ihre Kraft aus der Motivation schöpft. Wer Kindern etwas beibringen will, tut gut daran, sich nicht nur mit „dem Lernstoff“ zu befassen, sondern auch mit der Motivation der Lernenden.
Albert soll Hausaufgaben machen. Da ist bereits üble Laune für den ganzen Abend angesagt, denn Albert sieht gar nicht auf sein Blatt mit Rechnungen, sondern blättert in einem „Spick“, was ihm von der Mutter schon zum hundertsten Mal verboten worden ist. Sie mag sich kaum noch als treibende Kraft aufreiben. Zudem findet sie, der Vater könnte sich mehr diesem Problem annehmen. Lisa dagegen ist bereits fertig und kann frohgemut nach draussen zum Spielen, was die Laune von Albert nicht bessert. Er schimpft darüber, dass die Schwester zu wenig Hausaufgaben erhält und sowieso den besseren Lehrer hat. Die Mutter droht ihm, ohne gemachte Hausaufgaben werde es nichts mit seiner Lieblingssendung am Fernseher: Die Drohung bewirkt keine Lernfreude und setzt die Mutter unter Zugzwang. Die ganze Situation erheitert die Atmosphäre keineswegs. Albert lässt sich nicht zu seiner Hausaufgabe motivieren!
Motivation von aussen: geht das?
Meist sind solche Situationen sehr komplex aufgebaut und die fehlende Motivation nicht einfach zu durchschauen oder leicht zu lösen. Am einfachsten hat es die Mutter mit Lisa; denn diese ist schon motiviert, d.h. sie spürt in sich einen eigenen Antrieb, das zu lernen, was ihr aufgetragen ist. Die Mutter muss höchstens darauf sehen, dass Lisa nicht gestört oder abgelenkt wird und die Freizeitgestaltung geht inklusive Aufgaben erfreulich über die Bühne.
Anders bei Albert: Die ganze Woche ist geprägt von der Kampfatmosphäre um das vermaledeite Thema der fehlenden Motivation.
Helfen bei Aufgaben ist für Eltern selten ein Problem, häufig gar eine Freude, wenn die kindliche Motivation da ist, wenn es wissen will, wie etwas geht oder es eine Unterstützung sucht und sich abfragen lassen will.
Schwieriger ist das Motivieren! Wenn ich ein Kind motivieren soll, enthält dies nicht schon einen inneren Widerspruch? Damit Albert wirklich etwas tut, muss er eine eigene Kraft mobilisieren, die von innen kommen muss. Motivieren heisst eigentlich, jemanden aktiv machen. Von aussen kann ich aber niemanden aktiv machen. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Aktivität der Mutter die Passivität des Kindes bestärkt. Stichwort passiver Widerstand.
Zwingen?
Sogar zwingen kann ich letztlich niemanden, der sich nicht zwingen lässt. Die Drohung mit dem Fernsehen wirkt bestenfalls, wenn die Kraft des Fernsehwunsches so gross ist, dass die Strapaze Hausaufgabe auf sich genommen wird. Andernfalls verzichtet Albert einfach auf seine Sendung, womit er die Mutter einfach im Regen stehen lässt: Stichwort „ziviler Ungehorsam“: Ghandi, der Befreier von Indien, wurde für diese Form des Kampfes gegen den Zwang sogar berühmt, verehrt und als beispielhafte Persönlichkeit zum Vorbild der Jugend erklärt.
Dies bedeutet, dass ich von aussen nur erfolgreich motivieren (anregen, verführen, zwingen) kann, wenn mir gelingt, mich mit einer Kraft im Inneren des Kindes zu verbünden.
Wir wissen auch von sogenannt „Schwererziehbaren“, dass sie nicht selten durch Gewalterfahrungen und Drohungen so sehr abgestumpft oder abgehärtet sind, dass sie sich gegen Zwang und Beeinflussung weitgehend immunisiert haben: Im Ertragen von Schmerz und Entbehrung schützen sie sich gegen jede Forderung und erhalten sich innerlich so Stolz und ein Gefühl der Würde für sich selber.
Vielschichtige Einflüsse auf die Motivation
Wollen wir Albert und seiner Mama helfen, müssen wir uns auf das ganze Beziehungsnetz in Schule und Elternhaus einlassen: Da gilt es der Frage nachzugehen, wo Albert seine wirklichen Interessen hat, resp. wo er allenfalls seine Neugierde verloren hat. Gibt es Anzeichen dafür, dass bestimmte Ängste ihn zurückschrecken lassen, das Leben anzupacken? Wie steht es mit Vertrauen und Selbstvertrauen von Albert? (vgl. Hausapotheke 8/2000, S. 25/26). Rechnet Albert schon gar nicht mehr damit, erfolgreich zu sein? Ist ihm das Leben, sobald es mit Schule in Berührung kommt, beinahe verleidet?
Wie wird diese Einstellung gegenwärtig verstärkt oder was könnte den Wert der Schule für Albert erhöhen?
Aber auch familiär stellen sich Fragen: Was bedeutet Schule und Schulleistung in der Familie? Ist das Thema überstark betont oder wird es – evtl. sogar der Lehrer – abgewertet? Sind beide Eltern ähnlicher Ansicht oder uneins über deren Stellenwert? Macht etwa der Vater die Mutter ebenso wie der Lehrer verantwortlich dafür, dass Albert lernt resp. nicht lernt? Wie steht es um die Rollenverteilung in dieser Frage in der Familie? Geben die Eltern Albert zu verstehen, dass eigentlich der Lehrer für sein Lernen verantwortlich sein sollte und Hausaufgaben als Störung des häuslichen Friedens abgelehnt werden?
Welche Rolle spielt schliesslich der Schwester Leichtigkeit im Lernen? War sie schon immer „vorne“ in der Konkurrenz mit dem Bruder? Ist Eifersucht resp. Neid als Thema zwischen den Geschwistern anerkannt oder wird es negiert, so dass Albert solche Gefühle gar nicht ausdrücken kann und sie in sich hineinfrisst?
„Du lernst für dein Leben und nicht für die Schule“
Der berühmte Satz kann nur wirken, wenn „das Leben“ für Albert verheissungsvoll und erwachsen werden erstrebenswert ist. Die Motivation der Angst – und darauf zielen die meisten „Motivierungen“, die mit Drohung arbeiten – wirkt nur zu oft einer Lernmotivation entgegen: Aus dir wird nie etwas rechtes, wenn du nicht endlich mit lernen beginnst! Übersetzt heisst das für Kind und Jugendliche: Eigentlich bin ich schon abgeschrieben. Wenn ich erschöpft und traurig bin, interessiert das niemanden, und niemand – ich selber auch kaum mehr – bin an meinem Leben interessiert. Die Langzeitwirkung dieser Botschaft muss nicht immer im Suizid enden, aber letztendlich erhöhen solche Botschaften wohl die erschreckenden Selbstmordraten unter Jugendlichen – gerade auch in der Schweiz. Aber auch wenn die Folgen nicht so dramatisch sind, wird hier oft manch negatives Signal gesetzt, das nicht nur die Schul- und Lernfreude stört, sondern weit ins gesamte Lebensgefühl hinein dämpfend wirkt.
„Du lernst für dich...“ ist für Kinder zudem oft keine Aufmunterung, weil sie den Sinn überhaupt nicht verstehen können. Ist das Familienleben nicht etwas soziales? Wird nicht oft der Egoismus bekämpft: Geben ist seliger denn nehmen; es sei besser, für andere etwas zu tun als nur für sich? Wenn ich es nur für mich tue, kann ich es ja auch bleiben lassen? Logisch, nicht?
Positive und negative Motivation
Schauen wir nun nach innen: Grob können wir zwischen zwei gegenläufigen Motivationen unterscheiden: Dem Bündel von Motivationen, die auf die Welt zugehen wollen steht ein Bündel von Motivationen entgegen, das auf Abgrenzung, Abwendung von der Welt, Rückwendung auf sich selber oder sich Verschliessen zielt. Das erste Bündel nenne ich positive, weil es die Welt bejaht und auf sie zugeht. Das zweite negativ, weil es „die Welt“ zurückstösst oder von der Welt nichts wissen will.
Dabei sei aber betont, dass auch Rückzug und Abwendung sinnvoll und sinnvoll und auch die negativen Motivationen lebensnotwendig sind. Sich abgrenzen können gehört zu den wichtigsten Kräften, die dem Aufbau einer eigenen Persönlichkeit und Position dienen. Wie überall ist es aber nur fruchtbar, wenn die beiden Motivationen in gesundem Masse abwechseln und eine Ausgewogenheit von Zugriff auf die Welt und Rückzug aus ihr möglich ist.
Ist in einer Lebensphase, z.B. in der Pubertät, ein Rückzug entwicklungspsychologisch dringend nötig, wäre es sehr ungesund, dem Jugendlichen dieses Verhalten verbieten zu wollen. Manchmal lenkt ja auch der Erlebnishunger oder die Action-Welt gerade ab vom eigentlich notwendigen Besinnen auf sich selber.
Ein Überhandnehmen der negativen Motivation ist freilich nicht lebensförderlich und meist mit schweren Lernleistungsstörungen verbunden. Für das schulische Lernen wird vor allem auf das Zugehen (die positive Motivation) abgestellt. Lernen – zumal schulisches Lernen – findet jedoch mehrheitlich in der Auseinandersetzung mit den Dingen in der Welt statt. Es braucht für Schulisches Lernen, auch wenn ich es privat mit dem Lexikon betreibe, Interesse an der Welt: Neugier.
Motivation und „Besetzung“ der Welt
Die Neugier unterliegt ebenfalls einer lebensgeschichtlichen Beeinflussung. Die Menschen werden in aller Regel neugierig geboren: Sie sind offen zur Welt und gehen von Beginn an und von sich aus auf alles zu, was ihnen begegnet. Dies hat die Säuglingsforschung besonders zu Tage gefördert und auf den Begriff gebracht, wenn sie vom kompetenten Säugling spricht.
Aber schon in den ersten Tagen machen wir unterschiedliche Erfahrungen mit unserem Zupacken und Hantieren. Umso besser wenn viele schöne, gute und genussreiche Erfahrungen darunter sind. Es kommt aber auch zu Kränkungen: Ich kann diese Kugel nie fassen, die vor meiner Nase baumelt. Es kommt zu unliebsamen Überraschungen: Die schöne rote Kugel, die ich in den Mund stecke, schmeckt ekelhaft bitter. Es kommt zu Schreck und Panik: Der grosse schöne Topf, den ich endlich zu fassen kriege, löst eine unerwartete Wut der Mutter aus. Aber tönt auch selber schrecklich, wenn er in tausend Splitter zerspringt; zudem beisst er mich, dass ich blute. Wahrscheinlich sind Töpfe böse Geister, die am Wegrand stehen und mich belauern.
So werden durch frühe Erfahrungen und lebenslang die Dinge aussen an mir zu interessanten oder aber zu gefürchteten Dingen. Die Psychoanalyse spricht davon, dass die Gegenstände und Objekte (auch Menschen) emotional „besetzt“ werden.
Diese emotionale Besetzung hat nun einen sehr grossen Einfluss auf die Motivation: Ich untersuche eher das, was mit erfreulichen Gefühlen „besetzt“ ist. Auch wenn ich sehr neugierig geblieben bin, trotz unheimlicher Reaktionen der Gegenstände, wähle ich doch eher aus, das zu untersuchen, was mir Freude zu bereiten verspricht, als das was auf mich losstürzen, mich beschämen oder mich in Gefahr bringen könnte – zumal wenn ich dies allein machen muss.
erfolgsmotiviert versus misserfolgsmotiviert
Ein Kind lernt leichter, wenn für es die Gegenstände resp. die schöne neue Welt ein freundliches und lustversprechendes Antlitz haben, weil so die Gegenstände (Themen, Fertigkeiten etc.) die positive Motivation ansprechen. Erfahrungen und die Aufnahme der Regeln, die die Welt zusammen halten, gelingt leichter, weil es ja gute Dinge sind, die ich aufnehmen soll.
Bei Motivation geht es um eine Beziehungsgeschichte: Entscheidend ist die Beziehung zwischen dem Lernenden und seinem Lernstoff. Ist diese Beziehung erfreulich, steigert also die Auseinandersetzung Stolz auf die Fertigkeiten, Begeisterung für die Einsichten oder die Schönheit der Welt, so verpufft keine Kraft im Kampf gegen diese Dinge. Die Dinge sind gut und – sehr wichtig – ich, der Lernende bin gut: Dies nennen die Pädagogen erfolgsmotiviertes Lernen.
Ist nun die Beziehung zum Lernstoff gespickt mit Schrecken, Versagensangst, Beschämung oder Ohnmachtsgefühlen, entwickelt sich ein leidvoller Kampf und ein mühseliges Ringen gegen die Resignation. Dabei wird nicht nur anstrengender und meist schlechter gelernt. Das Kind fühlt sich selber dabei auch schlecht. Es gibt Pädagogen, die dies ausnützen. Sie stellen dem Kind die Blamage vor Augen, wenn es den Stoff nicht beherrscht oder die Fertigkeit nicht flink genug erreicht. Die Furcht vor Blamage und Abwertung ist ein starker Motor. Die Pädagogen nennen die eine misserfolgsorientierte Motivation. Es wird unschwer zu verstehen sein, dass solches Lernen qualvoll ist und Spuren hinterlässt, die sich nicht nur im (oft schwachen) Lernerfolg niederschlagen, sondern auch in einem tiefen Selbstwertgefühl.
Oberstes Ziel: Freude – Es braucht ein gesellschaftliches Umdenken
Ein Vorgehen, das mit der Absicht zu motivieren Entwertung und Beleidigung in Kauf nimmt, zeugt von wenig Durchblick der Erziehenden (und der politischen Verantwortungsträger) in die Dynamik des Motivationssystems. Oft ist dieses Vorgehen (Motivation mit Angst, Schrecken und falsch eingesetzter Benotung) nur mit der nachsichtigen Argument einigermassen zu entschuldigen, dass die Erziehenden selber verzweifeln an ihrer Aufgabe. Der Langzeitschaden steht aber in keinem Verhältnis zum gewonnen Wissen.
Ich plädiere daher für eine Schule, die Freude – was nicht mit Spass zu verwechseln ist!!! – als ihr oberstes Ziel setzt. Nicht um der schieren Bequemlichkeit das Wort zu reden, tue ich das, sondern um der seelischen und oft auch der körperlichen Gesundheit willen. Sie dient sowohl der Gesundheit der Kinder als auch der gesellschaftlichen Gesundheit. Stichworte dazu (unter andern): Hoher Medikamentenverbrauch von Schulkindern, Erziehung zur Stressgesellschaft.
Wahrscheinlich werden einige sagen, dieses Ziel sei doch zu utopisch. Es hat aber immer wieder Schulen gegeben, die dies erreicht haben. Denken wir etwa an die Ansätze der Montessori-Pädagogik. Voraussetzung ist aber wohl, sich zu einer Gesellschaft weiter zu entwickeln, die Kinder vollkommen ernst nimmt und auf ihre Bedürfnisse, auch die Bedürfnisse nach Halt, Grenzssetzung und Achtung ihrer Leistungen, eingehen. Die Kinder sollen wissen, dass sie nicht nur für sich lernen, sondern auch für die Gemeinschaft, die ihnen etwas bietet, etwas abverlangt, aber auch ihren Einsatz anerkennt!
© Dr. R. Buchmann, Psychotherapeut