Genug vom Lernen! Genug vom Leben?

Lernmotivation Teil 2

Leben heisst Bewegung: Sei es motorisch mit Händen oder Beinen, sei es mimisch als Gesichtsbewegungen; sei es als Herzschlag oder Atemrhythmus, seien es Gefühlsbewegungen – Emotionen, sei es im Be-greifen oder im Gestalten. Hinter jeder Bewegung stehen bewegende Kräfte. Sie sind nicht direkt sichtbar, können aber in Beobachtung und Selbstbesinnung erschlossen werden. In jeder Handlung bringen sich Motive zum Ausdruck.

Es geschieht nichts, das nicht von einer Kraft resp. vom Zusammenspiel verschiedener Kräfte bewegt ist. Die Energie, die sich eine bestimmte Richtung oder ein Ziel gibt, nennen wir Motiv. Das Zusammenspiel vieler Motive bezeichnen wir als Motivation. Selbst dort wo ein Kind in trotzigem Beharren oder in starrem Brüten „nichts tut“, stehen Kräfte hinter seinem Benehmen, die Bewegung zurückhalten, blockieren oder lähmen. Auch die Reglosigkeit im Moment des Erschreckens ist Ausdruck einer Kraft: Des lähmenden Schreckens.

Von Energien, Dynamik und Kräften im Innern des Menschen

Die Kräfte selber und ihre Dynamik (Zusammenspiel) sind nicht sichtbar und nicht direkt messbar, und dennoch hat die Psychologie sehr brauchbare Modellvorstellungen entwickelt, die Verhalten und Verhaltensstörungen verstehbar und bis zu einem gewissen Grade vorhersagbar machen. Eine bedeutsame Frage entsteht dabei durch die Unterscheidung von seelischer und körperlicher Kraft. Durch lange Denktradition gewohnt wirkt diese Unterscheidung wie selbstverständlich.

Näherer Betrachtung hält sie aber kaum stand. Wie lässt sich z.B. verstehen, dass mein Wunsch einen bestimmten Buchstaben auf der Tastatur zu schreiben (ein Motiv, hinter dem weitere Motive stehen), sich überführen lässt in die komplexen Muskelbewegungen, die schliesslich die Taste niederdrückt? Wie überträgt sich meine gedankliche Energie, mit der ich diesen Text schreibe, auf die Bewegungsenergie der Hände und Finger?

Wie steht umgekehrt das verkrampfte Anklammern des Schülers an der Tischkante, während er einen Vortrag vortragen soll, im Zusammenhang mit seinen Angstgefühlen? Schon früh wurde entdeckt, dass das bewusste verändern dieser Krampfhaltung die Angst mildern kann: Ist das Ankrampfen selber die Angst? Ist es ein Ausdruck der Angst oder eine Ursache für Angst? Steht die Verhinderung der Bewegung (z.B. durch zu enges Einwickeln des Säuglings) am Anfang bestimmter Angstempfindungen oder ist es umgekehrt die Angst, die die Bewegung blockiert?

Es ist eines der Hauptgebiete der Psychologie hinter der beobachtbaren Oberfläche des Verhaltens die Vielfalt und das Zusammenspiel der Kräfte und Energien zu erkennen, die das Verhalten anstossen und prägen. Wir haben mit obigen Beispielen Fragen angeschnitten, die die innerliche Kräftespiel beleuchten. Noch sind viele Fragen offen.

Der Einfluss von aussen

Für die Erziehung von besonderer Bedeutung ist jedoch, wie sich die innere Dynamik des Kindes durch äussere Massnahmen, Verhaltensweisen und Kräfte beeinflussen lässt. Erziehen heisst nicht zuletzt, dem Kind zu helfen, seine Energien und inneren Kräfte so zu organisieren, dass sie ihm ein sinnvolles Verhalten ermöglichen. Mit „sinnvoll“ meine ich, ein Verhalten, das es seinen Zielen näher bringt und das gleichzeitig den Anforderungen der Lebensrealität entspricht.

Wie können wir diese Aufgabe anpacken? Wie motivieren wir „von aussen“?

Kehren wir zurück zur Erkenntnis, dass der Anstoss an eine innere Kraft andocken muss, um eine Wirkung erzielen zu können: An welche inneren Kräfte können wir denn denken? Im Teil 1 habe ich ausgeführt, wie wichtig es für jede Lebensregung ist – und erst recht für das Lernen –, dass eine von innen her kommende Kraft auf die Realität, die andern Menschen und die Dinge des Lebens zugehen will. Diese Erkenntnis hat bei verschiedenen Forschern und Denkern verschiedene Namen erhalten. Der französische Philosoph Bergson prägt um die letzte Jahrhundertwende den Begriff des „elan vital“, der Lebensenergie als unterste treibende Kraft hinter aller Motivation. Andere sprachen vom Lebenswillen, Überlebenswillen und von Lebenskraft. Der Begriff spielt wohl keine Rolle; aber die Erkenntnis ist kaum von der Hand zu weisen, dass bei jedem Menschen – vielleicht bei jedem Lebewesen – eine Kraft vorhanden sein muss, die von innen heraus leben will, um überhaupt zu leben. Wo diese Kraft völlig erlischt, ist von aussen nichts mehr zu bewegen.

Eine Formel für die Motivation

Aber dieser elan vital kann sehr vielfältige und unterschiedlichste Formen annehmen. In diesen Formen unterscheiden sich denn auch die einzelnen Menschen derart, dass es bei näherem Hinsehen kaum noch möglich ist, von dem Menschen zu sprechen. Gerade darin, was den Einzelnen anzieht, abstösst, motiviert oder lähmt, zeigen sich die grössten individuellen Unterschiede. Deshalb ist es für eine kindergerechte Schulpädagogik so entscheidend, differenzierende Didaktik zu betreiben; und ernst zu nehmen, dass nicht jedes Kind aufgrund der gleichen Anregung lernt und Anstösse, die einige vorantreiben, andere abstumpfen und dritte roh werden lässt.

In den Siebziger Jahren sind viele Zusammenhänge untersucht und zusammenfassend bekannt gemacht worden. (Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie heute schon wieder vergessen sind. Sie stimmen aber immer noch!). Heinz Heckhausen hat Forschungen zusammengetragen und folgende Einflussfaktoren in einen Zusammenhang gebracht:

Die Lernmotivation setzt sich demnach zusammen aus:

(1) einer generellen Leistungsmotivation (evtl. wie den elan vital oder Vitalität zu verstehen)
(2) den Interessen am Sachgebiet (hierher gehört wohl auch der Praxisbezug der Thematik)
(3) dem Anreiz der bestimmten Aufgabe (die didaktische Aufbereitung spielt eine Rolle)
(4) der subjektiven Einsch
ätzung erfolgreich sein zu können (Erreichbarkeitsgrad)
(5) die Neuigkeit der Aufgabenstellung (zu bekannt ist langweilig, zu fremd abstossend) und schliesslich
(6) eine Reihe von sozialen Bedürfnissen, die nicht direkt mit der Aufgabe, die zu lösen resp. zu lernen ist in Zusammenhang stehen (darunter Angst vor Strafe/Notendruck; Zugehörigkeitswünsche, Angst vor Isolation (Repetition) etc.).

Darin sind drei Arten von Motivationen unterscheidbar, die ich darstellen will: 1. Der Antrieb, der aus der individuellen persönlichen Einstellung zum eigenen Leben und zur Eigenverantwortung entsteht (Leistungsmotivation); 2. Sachbezogene Motivationen – also Antriebe, die mit dem jeweilige Fach oder der jeweiligen Beschäftigung zusammenhängen; und schliesslich 3. soziale Motivationen – also Antriebe, die nicht mit der Sache sondern aus der eigenen Stellung in der Gruppe und der eigenen Einstellung zu den Mitmenschen hervorgehen. (im 3. teil besprochen)

Leistungsmotivation:

Mit dieser Kraft, die wir auch als Vitalität, Neugier, Lebensmut usw. bezeichnen können, ist eine Grundeinstellung angesprochen, die das Kind wohl teilweise von Geburt an mitbringt: Das selber zupacken wollen, die vitale Kraft des sich Wehrens und des „auf die Welt zugehens“ Diese Kraft erscheint weitgehend unabhängig von der jeweiligen Lernanforderung. Klar sei gesagt, dass auch diese angelegte Lebensenergie unter den Lebenserfahrungen der ersten Jahre stark verändert wird.

Dem einen Kind wird Mut gemacht, auf die Welt „loszugehen“; das andere wird ängstlich oder gar mit harter Strafe immer wieder zurückgeschreckt; dem dritten wird früh zuviel Eigenverantwortung überbürdet, so dass es sich überfordert fühlt und daran gewöhnt, sich als Unglücksrabe, Versager oder lächerliche Figur zu sehen. Ein ab Geburt sehr vitales Kind wird aber nur mit recht massiven Einschränkungen zum „vorsichtigen“ oder schwach leistungsmotivierten Schüler gemacht werden, während ein eher energieschwaches Kind kaum zu einem Draufgänger erzogen werden kann.

Mit der Leistungsmotivation bezeichnet Heckhausen also einen Motivationsfaktor, den ein Kind in die Lernsituation mitbringt und der sehr persönlich und individuell für es charakteristisch ist und weitgehend unabhängig von Lernsituation und nur über längere Erziehungszeit (evtl. Psychotherapie) in eingeschränktem Rahmen veränderbar ist.

Fällt diese Grundmotivation des Leistens und Lernens weg sind nach Auffassung von Heckhausen nur wenig andere Kräfte möglich, die das Lernen noch antreiben können. Gibt es auch keine Kraft von Sachinteressen her, ist das Reservoir schon fast aufgebraucht. Als Ersatz können nur noch die sozialen Bedürfnisse herangezogen werden, die aber eben nicht sachbezogen sind. Die Motivation ist dann nur noch extrinsisch und somit nicht mehr direkt gegenstandsbezogen.

Fallen nun auch noch die sozialen Motivationen zusammen, z.B. weil das Kind Demütigungen oder Ausgrenzungen erlebt, kommt es zu einem völligen Zusammenbruch der Lernmotivation. Solch umfassender Zusammenbruch zeigt sich in massivem Rückzug und geringer Ansprechbarkeit und muss als Anzeichen einer umfassenden Entwicklungsstörung vom depressiven Typus wahrgenommen werden. Die Lernmotivationsstörung kann dann oft mit einer generellen Lebensmotivationsstörung, die auch lebensgefährlich sein kann, einhergehen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Wille, Lernmotivation, Suizid, Schulangst, Noten, Familiendynamik