Er hat angefangen! Über Streiten und Moral
Wir greifen oft in einen Kinderstreit ein, um zu schlichten (oder um unsere Ruhe zuhaben) und stellen nach ein paar Minuten fest, dass wir uns im Mittelpunkt des Kampfgeschehens wieder finden, während die Sache, um die es ging, schon fast vergessen ist: Über die Gefahr, durch Vermittlungsbemühungen Gewalt und Destruktivität anzuheizen.
Wer hörte nicht schon den Rechtfertigungsspruch, wenn Eltern die streitenden Kinder trennen wollen: „Ich habe nichts gemacht, er hat angefangen!“ Aus dem Geschrei des Kampfes wird alsobald eine Auseinandersetzung mit dem Vater, wer der Verursacher des Streites sei. Und die Zielsetzung dabei ist, ihm klar zu machen, wer der oder die Böse in Wirklichkeit ist.. Der Konflikt hat sich verschoben. Es geht jetzt mit heiligem Eifer darum, das Geschwister beim eingreifenden Erwachsenen schlecht zu machen.
Vom Interessenkonflikt zum moralischen Krieg
Dies ist - näher betrachtet - der Beobachtung nicht unähnlich, die wir auf der grossen Weltbühne machen. Erleben wir nicht auch das kleinkindliche „Spiel“, wenn wir in den Nachrichten hören, wie Kriege angezettelt werden sollen und die Parteien der Weltöffentlichkeit weismachen wollen, weshalb sie sich leider gezwungen sehen, Gewalt anzuwenden, obwohl sie doch so friedliebend .... Schon 1970 sang Hans-Dieter Hüsch von Friedensschauplatz, Friedensangriff und Friedensopfern.
Was steht hinter diesen aberwitzigen Versuchen, mit moralischem Stolz auf unsere Gewalttaten zu zeigen und zugleich zu behaupten, wir waren es gar nicht, wir sind dazu gezwungen worden? Was auf der Weltbühne weit grässlicher geschieht als im Kinderzimmer - aber in der inneren Logik nahe verwandt ist -, hat zu tun mit unserem ambivalenten Verhältnis zur Aggressivität, wonach einerseits Streiten und Aggressionen negativ bewertet sind, andererseits aber die Realität lehrt, dass wir nicht im Paradiese leben und Aggressionen zum Leben gehören und sogar lebensnotwendig sind. Nur wollen wir es nicht wahrhaben oder dann zum mindest nicht die Verantwortung für unsere Aggressionen auf uns nehmen: Wir suchen „gute Gründe“, die uns - vor den andern und vor uns selber - erlauben, Machtmittel, Zwang und Gewalt einzusetzen.
Diese Haltung, resp. die Unehrlichkeit gegenüber dem Aggressivem im Menschen und in seinem Zusammenleben führt oft dazu, die wahren Gründe zu vertuschen, ethisch hochstehende vorzutäuschen oder die Opfer für das Geschehen verantwortlich zu machen. Ich schliesse nicht aus, dass im Vortäuschen oft auch Selbsttäuschung mitspielt.
Anatomie eines Streitens
Haben sie sich schon einmal überlegt, was sich hier abspielt und was dabei hinter den Kulissen geschieht, wenn sie als Erzieher versuchen, einen Streit zu schlichten?
1. Teil: Die Kinder
Runde 1: Da möchten beide Buben mit denselben Bauklötzen spielen. Der eine (Ron) packt fünf Klötze, die er für seinen Bauplan unbedingt braucht, hinter seinen Rücken. Der andere (Steff) sieht, wie sich der Haufen verringert und will auf jeden Fall vorsorgen, dass auch er Zugriff zu den grösseren Klötzen haben kann. Er greift sich also einige aus der Reserve des andern. Dieser fühlt sich beraubt und sucht, sie sich zurückzuholen. Jetzt reissen beide an drei Holzstücken und keiner will sie aus den Händen geben. Ein klassischer Interessenkonflikt: Beide wollen die Klötze für sich. Bis hier ist der Konflikt völlig sachbestimmt und - wenn sie dazu stehen - auch ehrlich motiviert.
Runde 2: Sind die Kinder schon etwas erzogen, wissen sie, dass sie ihren Anspruch rechtfertigen müssen. Wer die besseren Argumente für seinen Anspruch hat, sammelt Punkte. So hat denn jeder für sich selber auch den besseren Grund, weshalb er so handelt: Der eine nimmt für sich in Anspruch, dass er die Klötze zuerst hatte und der andere sie ihm geraubt hat (eine Untat). Der andere sieht die Untat darin, dass sein Kamerad die Klötze gehortet hat, bevor er sie brauchte, was gegen das Ideal des fairen Zusammenspiel verstösst, wie Steff genüsslich ins Feld führen kann. Aber Ron hat das Recht des Besitzes auf seiner Seite. Der Streit geht nun auf zwei Ebenen weiter: Einerseits geht es um die Klötze, bald wird aber wichtiger auf der moralisch richtigen Seite zu stehen.
Runde 3: Das Zerren wird heftiger und zugleich wird nach dem Vater gerufen, der die jeweiligen heiligen Rechte am Klotz bestätigen soll, auf Grund der besseren Argumente. Weil beide insgeheim wissen, dass ihre Argumente ziemlich vorgeschoben sind, warten sie aber nicht auf den Schiedsspruch, sondern setzen vorsichtshalber mal körperliche Stärke ein. Dem einen entwischt das Holzende (aus Mangel an Kraft, aus Unsicherheit über sein Recht am Holz, aus Berechnung? Wer weiss!), so dass der andere - vom plötzlichen Freigeben überrumpelt - nach hinten fällt. Nun ist er erst recht wütend und schlägt mit seinem Klotz gegen den andern, was Geschrei und Wurf des Holzklotzes auslöst. Das war ein Fehler! Der „Gewinner“ des Klotzes ist im Unrecht, er war gewalttätig: Ein moralischer Punkt für den „Schwächeren“! Spätestens jetzt werden Erzieher eingreifen.
2. Teil: Der Erzieher
Sind diese nicht ganz von gestern, werden sie zuerst versuchen zu verstehen, worum es denn geht. Zumeist kommen wir dabei ja nicht völlig vorurteilslos auf die Streitenden zu. Wir haben unsere Erfahrungen dabei: Da sind einerseits die Erfahrungen (oder Vorurteile?) mit den Kindern: „Um Ron herum gibt es immer wieder Streit“; „Steff ist der ältere“, „Klötze können zu gefährlichen Waffen werden“, „die beiden sind schon immer eifersüchtig“.
Andererseits gibt es die Umstände: „Im Moment ist Lärm nicht akzeptabel, die Nachbarn ...“; „Ich sollte dringend einen Artikel fertig schreiben“; „wenn das die Grosseltern hören, die gerade zu einem Besuch erwartet werden“.
Schliesslich sind da noch die Ideale und Ängste: „Um so eine Bagatelle streitet man nicht“; „Friedfertigkeit ist eine Tugend“; „Aggressivitäten meiner Kinder sind ein Zeichen falscher Erziehung, ich muss mich ja schämen“.
3. Teil: Die Verhandlung:
Sie beginnt mit der Frage, wieso streitet ihr (denn jetzt schon wieder)? Meist gibt es auf diese Frage sehr verschiedene Antworten: Anklage: Ron hat mit dem Klotz auf mich geworfen. Verteidigung: Das ist gar nicht wahr, du hast mich umgestossen. Verteidigung des Anklägers: Das ist nicht wahr, du bist umgefallen, weil du mir den Klotz weggerissen hast. „Aber du hast mir den Klotz gestohlen“. Und so weiter: Bald ist klar, dass die Behauptungen, wenn nicht falsch, so zumindest übertrieben sind und der Streit eher eskaliert als geschlichtet wird. Also Notbremse: „So geht das ja nun wirklich nicht! Ihr sollt nicht immer streiten, das ist nicht schön. Hört auf, Euch zu beschuldigen, und du gibst jetzt dem Steff die Klötze zurück!“
Wir sind in eine Falle getappt: Was wirklich los war, erfahren wir so in den seltensten Fällen. Die Verhandlung endet (bestenfalls) mit dem Machtwort des Vaters. Sicher einer von beiden, oft aber auch beide fühlen sich ungerecht behandelt, falsch beschuldigt und unverstanden. Gelegentlich wird so die aggressive Stimmung auf den Vater abgelenkt und die Kinder spielen entlastet weiter. Manchmal bleibt jedoch der Groll über den andern bestehen. Er hat mich angeschwärzt und ich konnte es beim Vater nicht richtig stellen. Der Keim zum nächsten Streit bei nächster Gelegenheit ist gelegt.
Moral als Verstärker von Destruktivität
Was ist falsch gelaufen? Wir sind von Idealen ausgegangen: Harmonie und Frieden sind oberste Leitlinie. Auch Gerechtigkeit mag als Ziel mitspielen. Bei den meisten Interessenkonflikten gibt es aber keine Gerechtigkeit in dem Sinne, dass des einen Anrecht eindeutig berechtigter ist als das des anderen. So haben wir auf der Suche nach Frieden und Gerechtigkeit die Normalität des Streites übersehen und sind auf Details eingetreten, die hauptsächlich zum Ziel haben, den wahren Grund der Aggressionen zu verdecken. Anstatt auf die materielle Basis einzugehen, dass beide dieselben Klötze wollen und dies ein völlig alltäglicher und natürlicher Interessenkonflikt ist, sind wir in die moralisierenden Schlaufen eingestiegen. Statt der Frage „Um was geht es?“ stellten wir die Frage, „wieso streitet ihr?“
Dies ist nicht eine sprachliche Haarspalterei: Je nachdem, wie wir die Frage stellen, lenken wir die Aufmerksamkeit auf ganz unterschiedliche Ebenen: „Um was es geht“: Um die Klötze, die beide wollen und von denen es für die geplanten Bauten zu wenig hat. (Die Idee, dass es um Eifersucht gehen könnte, muss nicht falsch sein, ist aber eine Unterstellung, solange die sachliche Ebene nicht wirklich abgeklärt ist!) „Warum streitet ihr?“ Die Frage lenkt auf die Personen und ihre Gründe (Motive) für ihr Handeln und nicht auf den Anlass (Gegenstand): Was macht ihr da (falsch)? Zudem schwingt schon im Wortlaut eine Verurteilung des Streites mit. Mit dieser Fragestellung wird zur moralischen Verteidigung eingeladen. Das Signal wird gesetzt, es gibt einen möglichen Sieg für den mit den besseren Gründen: Eine Fortführung des Kampfes lohnt sich.
Bei einem weniger harmlosen Anlass als dem hier dargestellten eskaliert die Argumentation leicht zu Positionen, mit denen auch die eigene Ehre und Wertschätzung verknüpft wird. Ist der Kampf einmal soweit „moralisiert“, so dass es plötzlich auch darum geht, dass der Sieger der bessere Mensch ist oder die Gerechtigkeit nur durch einen Sieg hergestellt werden kann, endet ein Streit meist in einer Katastrophe, an deren Folgen sowohl Sieger als auch Verlierer nichts mehr zu lachen haben.
Befreiung der Aggressivität
Auf die Gefahr hin, falsch verstanden zu werden, plädiere ich für die Entlassung der Aggressivität aus der moralischen Abwertung, weil nur dann eine Chance für mehr Ehrlichkeit im Umgang mit aggressiven Impulsen entsteht. Unsere propagierte (und uns selber vorgetäuschte) Friedlichkeit und das Ideal der Familienharmonie sind nicht so selbstverständlich, wie wir vielleicht meinen: Kämpfen war über Jahrhunderte ein Wert und eine Tugend. Raufen und Ringen gehörte in der ländlichen und höfischen Kultur zum Alltag und - zumindest beim männlichen Geschlecht - zu „rechten Buben“. Ja diese Ideale können sogar mehr schaden als nützen, indem sie Ärger, Wut und Sich wehren negativ bewerten. So wird das Auftauchen dieser Gefühle als schlechter Charakterzug, als Schwäche gestempelt und zur moralischen Niederlage. Da fühle ich mich verletzt, ungerecht behandelt und wenn ich mich wehre, bin ich erst recht abgelehnt: Dies erhöht den inneren Druck und erzeugt Rachegedanken gegen den Widersacher, der mir die schlechten Gefühle und die schlechte Meinung der andern eingebrockt hat. Ich lerne, im Verborgenen Gewalt und Rache zu üben - sei es in Formen, die die Erwachsenen nicht so gut durchschauen, sei es an Orten, die sie nicht überblicken.
Wenn der Rechtfertigungsdruck gemildert wird - und umgekehrt Rechtfertigung keine Rolle mehr spielt, um Aggression zu „entschuldigen“, könnten wir mit intensivem Nachdenken beginnen, wie ein besserer Umgang mit den unvermeidlich auftauchenden Aggressionen erlernt werden kann; wie unvereinbare Ansprüche, Interessengegensätze, emotionale Spannungen, unterschiedliche Überzeugungen und Positionen offener, fairer und ehrlicher gegeneinander/miteinander ausgetragen werden könnten.
© Dr. Rudolf Buchmann