Eigenbrötler - Aussenseiter - Sündenböcke
Sie gehören irgendwie nicht dazu, sind anders oder machen nicht mit. Wie sich solche Menschen entwickeln hängt einerseits davon ab, wie die innere Art ihrer Persönlichkeit ist; andererseits aber auch davon, wie die Umwelt auf sie reagiert resp. einwirkt.
Stefan - voller Ideen, was er heute im Keller alles anstellen und untersuchen will - lehnt die Einladung zur Geburtstagsfeier von Joe ab. Eigentlich ist Joe nicht überrascht. Stefan hat immer eigene Pläne im Kopf; kaum je macht er mit anderen mit. Joe hätte schon oft gerne Kontakt mit ihm aufgenommen, weil er so interessante Experimente macht und viel weiss. Frank würde schon an die Einladung kommen, aber ihn mag Joe nicht. Niemand in der Klasse mag Frank; denn der ist grob und blöd. Wenn er mal wo dazukommt, z.B. im Turnen, wo die Lehrerin verlangt, dass er mittun darf, dann stört er nur; er „macht dumm“. Daher wird er von allen gemieden. Auch die Lehrerin weiss übrigens, dass er meistens schuld ist, wenn etwas schief geht oder Streit entsteht. Und dann ist da noch Uwe. Ihn kennt eigentlich niemand. Er kommt von weit weg, lebt bei einer Tante hier. Die lässt ihn kaum aus dem Haus in der Freizeit. Vermutlich ist Uwe langweilig. Um ihn muss sich Joe auch nicht kümmern, es gibt noch genug normale Schulkollegen, dass seine Party steigen kann.
Wie entsteht „Normalität“ ? - Wer bestimmt, was normal ist?
Wie Joe halten wir uns meist gerne an „die Normalen“. Vielleicht schielen wir noch nach den Interessanten. Aber die, die so sehr anders sind als wir, machen uns Mühe. Wenn sie uns in Ruhe lassen, schauen wir „tolerant“ an ihnen vorbei. Wenn sie sich gegen dieses Wegschauen wehren, stören sie uns; wir weisen sie zurück oder greifen sie als die Störenfriede an.
Im lebendigen Alltag empfinden wir das als normal, was ähnlich ist wie wir oder zumindest ähnlich ist wie das, was wir schon kennen. Normal heisst also alles, was sich dem angepasst hat, das wir kennen. Die Norm sind wir selber. Weicht nun ein anderer Mensch vom uns Bekannten ab, – sei es im Verhalten oder in den Idealen, in Vorstellungen oder Ansichten, vielleicht auch nur in seinem Dialekt – sind wir im allgemeinen rasch mit dem Urteil zur Hand, dass da „etwas faul“ sei, nicht stimme, gestört oder minderwertig sei. Besser geht es nur jenen, die ausserhalb der Anpassung eine besondere Leistung vorzuweisen haben. Sie werden dann als (Lebens-)Künstler, Heilige, ausserordentliche Menschen verehrt. Hier wird ausserordentlich – das also was ausser der Ordnung und Norm ist – positiv bewertet. Sobald das Ausserordentliche uns stört, sind wir rasch mit negativer Bewertung zur Hand.
Beim Umgang mit anders gearteten Persönlichkeiten (auch Kindergartenkinder haben schon Persönlichkeit) übersehen wir meist, dass wir – müssten wir plötzlich z.B. in Japan oder Uganda leben – mit unserer Persönlichkeit rasch einmal aus der Norm fielen. Wer in anderen Kulturen eine Zeit lang lebt, weiss dass grosse Umstellungsprozesse nötig sind, um sich dort in die Gepflogenheiten einzuleben. Die Veränderungen greifen sowohl auf der geistigen wie auf der emotionellen Ebene der eigenen Persönlichkeit zu.
Die ersten Lebensjahre können auch als Zeit bezeichnet werden, in der der Säugling sich seine Normalität aufbaut. So wie in seiner Familie gefühlt, gedacht und miteinander umgegangen wird, ist für das Kind normal. Es kennt gar nichts anderes. Es gibt nur die eine Erfahrung: Wie es bei ihm zuhause ist, so ist es auf der Welt; so muss es sein.
Wenn das „Normale“ plötzlich „daneben“ ist
Nun tritt das Kind in der Kindergarten ein. Und siehe da, alles mögliche, was doch völlig normal ist, ist plötzlich „nicht richtig“ und soll anders gemacht werden. Für die Kinder beginnt ein schwieriger Prozess. Auch zwischen ihnen stossen sehr unterschiedliche Vorstellungen aufeinander, was normal ist. Und diese Unterschiede werden manchmal mit harten Bandagen ausgetragen, sei es mit Spott und Hohn, sei es mit Klagen bei der Kindergärtnerin, rätschen oder provozieren. Solches Verhalten ist nicht einfach als Unarten der Kinder zu betrachten und zu behandeln, sondern gehört in den wichtigen Prozess der Eingliederung in die Gemeinschaft und die Gestaltung des Zusammenlebens durch die Kinder. Vielleicht wird hier für das Leben mehr gelernt als in manchen Lektionen.
Als Eltern mit mehreren Kindern erleben wir, wie weit auseinander die Vorstellungen verschiedener Lehrkräfte liegen, was Selbstverständlichkeiten sind - nicht nur bezüglich der Kindererziehung sondern auch bezüglich der Elternverantwortung und der Zusammenarbeit: Auch von Schulstube zu Schulstube herrschen keineswegs dieselben Normalitäten: Für die Kindergärtnerin ab Seminar ist es vielleicht nicht „normal“, dass Buben öfters aufeinander losgehen. Für eine andere Kindergärtnerin - selber Mutter mehrerer Kinder - ist das selbstverständlich und gesund. Die einen Eltern stimmen der Kindergärtnerin zu, dass gute Stimmung aggressionsfrei sein muss; andere kritisieren die unterdrückende Haltung und Realitätsferne dieser Bestrebung.
Wo die Grenzen verlaufen, an die das Kind stösst, kann erheblich von dem abweichen, was es aus dem bisherigen Leben als selbstverständlich erfahren hat. Mit teilweise schmerzlichen Erfahrungen hat es sich Verhaltensweisen erworben, die es als willkommen und gültig akzeptieren lernte. Nun stösst es genau damit an.
Aussenseiter, Eigenbrötler, Führer
Oft haben Aussenseiter und Anführer in einer Klasse gemeinsam, dass sie sich nicht einfach ein- und unterordnen. Ob dieser Charakterzug ins Zentrum der Gruppe oder an den Rand führt, hängt zum Teil vom Selbstbewusstsein des Kindes, zum andern von der Gruppenzusammensetzung ab. Dass Stefan Eigenbrödler aber nicht Aussenseiter ist, verdankt er seiner Eigeninitiative und Tatendrang und einem Selbstbewusstsein, das ihn unabhängig von der Zustimmung anderer macht.
Schwieriger hat es Frank, der gerne dabei wäre und stark auf die Reaktionen der andern reagiert. Da er sich aber abgelehnt fühlt und einen Umgangsstil mitbringt, der aneckt, gerät er rasch in eine Negativspirale: Seine Angst ausgestossen zu werden und Minderwertigkeitsgefühle stacheln ihn zu provokantem Verhalten an, was - je nach Gruppe - zu Ablehnung führt. In einer andern Gruppe könnte er auch bewunderter Anführer derer werden, die mit Begeisterung „Saich“ machen. Je nach Weiterentwicklung könnte er auch zum neuen Schulhausschreck und Sündenbock avancieren.
Noch anders geht es Uwe. Er hat wenig Fähigkeiten erwerben können, mit Gleichaltrigen Kontakte anzuknüpfen. Wird ihm dies nicht jetzt beigebracht und bei ihm entwickelt, festigt sich bei ihm das Selbstbild „anders zu sein“ als die Altersgenossen. Ohne starkes eigenes Selbstbewusstsein und ohne Vorstellung, wie bei der Gruppe anzukommen ist, lebt er unauffällig neben der Klasse her.
Die Bedeutung der ersten Erfahrungen
Der Lebensstil einer Familie kann erheblich von den Erwartungen der Klasse resp. der Lehrkraft abweichen. Wie mit dieser Differenz des „Normalen“ umgegangen wird - zuhause und in der Schule resp. Kindergarten - kann ein Leben massgeblich beeinflussen. „Karrieren“ in einer bestimmten Rolle prägen Leben und Charakter eines Menschen mehr als wir uns oft bewusst sind. In den ersten Tagen und Wochen der neuen Klasse werden ungesteuert und meist fast unbemerkt „Rollen“ verteilt. Die Rollen entstehen aus dem Zusammentreffen des jeweiligen Kindes mit seinen Selbstverständlichkeiten und Normalitäten mit der Klassenzusammensetzung und der Normalität des Lehrers.
Hat ein Kind eine Rolle „gefasst“, setzen oft selbstverstärkende Kreisläufe ein, die dem Kind täglich die Erfahrung vermitteln, ein Star, ein Abgelehnter oder ein Nicht-Beachteter zu sein. Die Rollenmuster einer Klasse widerstehen oft erstaunlich hartnäckig jedem Veränderungsversuch, selbst dort wo ein Lehrer in die Gruppendynamik einzugreifen versucht. Wir neigen alle dazu, uns mit den Eigenschaften zu identifizieren, die uns zugeschrieben werden: Der Schüler mit dem Notendurchschnitt 4 sieht sich meist selber als mittelmässig an. Der Mutige, der wagt auch mal frech zurückzugeben und die Lacher auf seiner Seite hat, wird sich als Witzbold gut fühlen und sein Selbstbild darauf aufbauen. Es ist für ihn normal.
Natürlich geschieht hier viel auf einmal, die Einflüsse überlagern sich und sind komplizierter als meine Beispiele. Und doch finde ich bei Erwachsenen oft ganz einschneidende Erlebnisse dieser Art, die ihr Selbstbild nachhaltig geprägt haben.
Veränderungen
Veränderungen lassen sich dort beobachten, wo sich die Gruppenzusammensetzung ändert. So war ein verspottetes Kind plötzlich „geheilt“ als ein neuer in die Klasse eintrat, der seine Rolle „erben“ musste. Indem er diesen mitverspottete, gehörte der frühere Aussenseiter plötzlich dazu. Eine eher problematische Form der Heilung, aber für ihn - zumindest im Moment - durchaus positiv wirksam. In diesem Fall kam eine Änderung von aussen.
Veränderungen können aber auch von innen kommen, wenn sich die Persönlichkeit des Kindes ändert, sei es durch neuartige Erfolgserlebnisse, durch veränderte Lebensbedingungen (z.B. Trennung der Eltern, Geburt eines Geschwisters) oder durch gezielte therapeutische Einwirkung. Kann Frank z.B. die Vorstellung ablegen, dass er nur durch auffällige Aktionen auf sich aufmerksam machen kann, reagiert er verändert in der Klasse. Oft werden auch Lehrer und andere Kinder dadurch zu neuen Formen des Zuganges zu Frank ermuntert. Dies ist wichtig; denn auch schon erlebte ich, dass grosse Fortschritte in Frage gestellt sind, wenn die Gruppe Veränderungen nicht zur Kenntnis nehmen will und auf den alten Vorstellungen (die nun zu Vorurteilen werden) beharren.
Es lohnt sich also, sich darüber Gedanken zu machen, was mir selbstverständlich ist, wie ich damit umgehe und was meine Kinder erleben, wie mit „Selbstverständlichkeiten“ umgesprungen wird. So könne wir viele Probleme von Kindern und Jugendlichen besser verstehen.
© Dr. Rudolf Buchmann