Notennot - Wert und Unwert von Schulnoten

Schulnoten prägen das Leben und das Lebensgefühl der Schulkinder. Sie bestimmen unsere Welterfahrung, ja unser Leben weit über den ursprünglichen Zweck hinaus.

Die Zeugnisse stehen bald wieder vor der Tür. Was werden sie bringen? Freude, Stolz, Selbstsicherheit, Hoffnungen - Enttäuschung, Minderwertigkeitsgefühle, Hoffnungslosigkeit - Lob, Belohnung, Zukunftspläne -Wut, Angst, Ärger - Familienspannungen, Streit, Beziehungsbruch - Neid, Eifersucht, Missgunst ?

Noten sind mehr als objektive Rückmeldungen

Vielleicht sind Sie erstaunt über die vielen Stichwörter, die ich mit Noten verbinde. Oft sehen wir nur die ursprünglich gewollte Bedeutung einer Handlung und übersehen „die Nebenwirkungen“.

Sind Zeugnisse und Noten denn Heilmittel: „Zu Nebenwirkungen fragen sie eine Fachperson und lesen sie die Packungsbeilage!“ Dummerweise haben Zeugnisse keine Packungsbeilage. Die wenigsten Eltern fragen eine Fachperson und die meisten Lehrer sind sich der vielfältigen Wirkung der Noten zu wenig bewusst. Die beabsichtigten Wirkungen der Noten haben ihren Sinn und Wert. Es bedarf aber der richtigen Anwendung, dass sie zum Guten wirken können.

Gewollt ist, dass sich das Kind mit Hilfe der Note selber einschätzen kann, wie gut es etwas kann. Richtige Rückmeldungen über die eigenen Leistungen sind erzieherisch sehr wertvoll; ja sie bilden ein unersetzbares Fundament, damit ich realistische Vorstellungen über mich, über die Erwartungen an mich und über meine Stellung in der Welt entwickeln kann. Soweit der Wert der Note.

Nun sind aber Noten in mehrfacher Hinsicht nicht einfach ein objektiver Spiegel der Leistungen, als das sie gerne angesehen werden, sondern ein das Leben beeinflussender Wirkfaktor. Näher besehen, werden Noten von manchen Lehrern und Lehrerinnen auch in dem Sinne eingesetzt. Sie sollen z.B. zu stärkerer Leistung motivieren. Im schlechteren Falle werden sie sogar zur Disziplinierung oder als Strafe missbraucht.

Was sagt „die Note“ dem Kind?

Der Primarschüler wird durch die erste Note in die Welt des Messbaren eingeführt. Die Note vermittelt direkt und unüberlegt den Eindruck, Menschen seien in Ziffern festzuhalten. Zudem verwandelt die Note Qualität in Quantität. Im Vergleich mit dem Mitschüler wird ein Unterschied rasch zur Frage „besser oder schlechter?“.

Dann sagt die Note aus, dass ich mich in dieser Welt mit den andern vergleichen muss und „besser“ sein muss als sie, um weiter zu kommen. Die Note stellt mich in die Rangreihenfolge meiner Klasse: Gabi ist halt eine 4-5-Schülerin und Stefan nur ein 3-4-Schüler. Die Eltern wissen es, der Lehrer weiss es, das Kind weiss es. Es beginnt daran zu glauben, dass es halt ein xy-Schüler ist: Kann es sich verändern oder hat es „ein Abonnement“ auf diese Beurteilung?

Mit der Note bricht ein ehernes Gesetz unserer Gesellschaftsordnung in die Kinderwelt ein: Ein entscheidender Lebenszweck ist, in der Konkurrenz möglichst auf der Siegerseite zu stehen: „Der Mitschüler ist bemüht seinen Mitschüler aus der Klasse hinauszuspicken!“ Man muss es nicht so ungeschminkt offen sagen, wie es der Mathe-Lehrer meines Bruders in der ersten Stunde seines Unterrichts tat. Die Botschaft ist doch darin versteckt und die Kinder hören und verstehen sie. Die Zahl der Repetierenden und vorzeitigen SchulabgängerInnen - besonders in Mittelschulen - tun ihr Übriges, um das den Schülern klar zu machen.

Mit dieser Einsicht wird allen auch bald deutlich: Mit Noten werden Lebenschancen verteilt. Noten entscheiden wesentlich über das Lebensschicksal. Es ist daher eigentlich nicht so verwunderlich, dass sich Jahr für Jahr einige Jugendliche im Zusammenhang mit ihrem Zeugnis das Leben nehmen oder abhauen.

Vom familiären Umgang mit Noten

Weitere das Leben prägende (Neben-)Wirkungen der Noten hängen davon ab, wie die Familie - Eltern und Geschwister - mit Noten und Zeugnissen umgehen und wie der Stil familiären Zusammenlebens geprägt ist:

„Nimm dir ein Vorbild an deiner Schwester!“: In manchen Familien entscheidet das Zeugnis über die Wertschätzung in der Konkurrenz der Geschwister in ihrer Beziehung zu den Eltern. Wohl ist die gewollte Absicht der Eltern, das Geschwister anzuspornen. Die „Nebenwirkung“ ist aber meist Eifersucht oder Streit zwischen den Geschwistern, Groll und Familienspannungen. Und nicht selten erdrückt die Nebenwirkung die Absicht ganz.

„Das verstehst du ja doch nicht du Schwachkopf. Du bist und bleibst ein Versager!“ So unwahrscheinlich es klingt: In Therapie und Abklärungen erzählen KlientInnen, solche Sätze von Eltern, Geschwister, ja sogar von LehrerInnen, die eigentlich pädagogisch gebildet sein sollten, erlitten zu haben. Der geschwisterliche Triumph - vielleicht noch eher verständlich - ist Öl ins Feuer. Aber wo ein sehr konkurrenzbetonter Umgang in der Familie herrscht, fällt diese Reaktion eigentlich nicht einmal aus dem Rahmen, sondern zeigt nur, dass das Geschwister die kulturelle Botschaft sich schon sehr zu eigen gemacht hat.

Wohlgemeinter Trost: „Jeder hat seine starke und seine schwache Seite, du bist dafür ein liebes“, kann etwas Linderung bringen; kann vom Kind aber ebenso leicht als Ausflucht gehört werden, dass sich die Eltern der Enttäuschung - seiner Enttäuschung - nicht stellen.

„Was hat sich der Lehrer auch gedacht. Der ist ja völlig ungerecht!“ Die Reaktion bringt dem Kind vielleicht etwas Entlastung, belastet aber andererseits sein Vertrauen in den Lehrer und in die Schule: Gilt die Note also nichts? Bin ich Opfer des Lehrers? Weshalb muss ich dann noch hingehen: Die „Schuld“ am Versagen liegt nicht an ihm, sondern an der feindlichen Umwelt.

„Ich weiss wirklich nicht mehr, wie es weitergehen soll mit dir!“ In dieser Reaktion übernehmen Eltern die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit des Kindes und verstärken sie. Sie spiegelt vielleicht auch die elterliche Angst vor Versagen, vor dem Versagen des Kindes aber auch vor dem Versagen der elterlichen Erziehungsleistung.

„Ich habe dir immer gesagt, dass du dich mehr anstrengen musst!“ Dem Kind wird die „Schuld“ an seiner Note zugeschrieben und mit seinem Einsatz erklärt. Kinder können dies auf drei Arten verarbeiten: 1. Es nimmt die Aussage als Ansporn mehr zu tun. Diese Reaktion ist wohl die, die Eltern und Lehrer sich erhoffen. Ich bin aber sicher, dass hier die gängige Motivationstheorie, der viele Lehrer aufsitzen, ein Holzweg ist und einer gefährlichen Illusion nachjagt. Viel öfter werden die anderen Auswege sein: Es sagt sich, 2. eigentlich könnte ich es. Wenn ich nur will - später einmal - wird es leicht gut gehen. Es zieht sich in illusionäre Grossartigkeit zurück, um weiterhin wenig zu tun. 3. Es fühlt sich nicht verstanden, überfordert oder beleidigt. Es zieht sich ängstlich zurück und traut sich noch weniger zu. Schulangst bis hin zu Schulkrankheit können die Folge sein.

Die Wirkkraft der Noten

Weitere Reaktionsmuster zu besprechen würde den Rahmen sprengen. Entscheidend ist, wie unterschiedlich unsere Reaktionen auf die Noten sind. Die Note - selber eine Beurteilung des Kindes - wird in den Reaktionen der Eltern nochmals beurteilt resp. interpretiert. Das Zeugnis trifft auf ein ganz bestimmtes Familien- und Wertsystem, das von Familie zu Familie sehr unterschiedlich ist. Es ist geprägt von Erwartungen, Verhaltensregeln und Selbstverständlichkeiten genau dieser Familie. Durch dieses Zusammentreffen entfaltet das Zeugnis eine kaum vorhersehbare Wirkung auf das Kind, die weit über die Schule hinausgreift. Wir müssen darauf achten, die Nebenwirkungen ebenso ernst zu nehmen, wie die beabsichtigten Einflüsse. Bedeutsam ist letztlich, was wirklich geschieht und nicht, was die Absicht dahinter ist. Noten und Zeugnisse beeinflussen das Eltern-Kind-Geschwister-Verhältnis, die Lehrer-Kind-Beziehung, die Selbsteinschätzung des Kindes, die Position in der Klasse usw. und entscheiden über lebensbestimmende Wiechenstellungen.. Dies geschieht schon alles, bevor wir noch die Frage stellen, wie korrekt die Note überhaupt ist.

Die Wirkkraft der Noten hängt wesentlich davon ab, wie wichtig resp. ernst Eltern (und Kinder) die Noten nehmen. Ich bin weit davon entfernt, die Notwendigkeit von Beurteilungen für den Aufbau einer gesunden Persönlichkeit zu unterschätzen.. Eine kritische Distanz dazu ist aber ebenso entscheidend. Denn Noten und Zeugnisse sind keine naturwissenschaftlichen Wahrheiten. Sie sind immer nur relativ richtig. Um Noten korrekt zu verstehen und zu deuten, müssen wir wissen, wie sie entstanden sind. (Davon im nächsten Heft )

Trotz nur relativer Gültigkeit von Noten entscheiden sie in der heutigen Zeit mehr und mehr über die Lebenschancen. Der numerus clausus an deutschen Hochschulen führt dies bis zum Exzess, wo Notenbruchteile über Studienwahl und Studienort entscheiden. „Bericht, Schulnote, Diagnose - ihre Relativität und ihre bestimmende Kraft“ lautet daher der Untertitel meines Büchleins „Das Kind im Netz der Beurteilung“ (BaZ-Buchverlag, Basel 1980).

© Dr. phil. Rudolf Buchmann

Stichworte: Beurteilung, Noten, Selbstwert, Bewertung