Festlegen und Freilassen: Der Puls lebendiger Entwicklung

(Beurteilung III)

Ein scheinbarer Widerspruch wird Motor der Entwicklung. Beurteilen legt fest. Gerade dies aber stösst die Auseinandersetzung mit dem Urteil an und kann zu Veränderungen führen, sofern wir uns nicht auf einmal abgegebene Beurteilungen versteifen und uns an sie klammern.

Anja wird zu mir gebracht, weil niemand ihr Verhalten versteht. Sie wird Zuhause und in der Schule fast nicht ausgehalten. Ich soll feststellen, was Anja fehlt. Die Lehrer wollen wissen, was mit Anja los ist, die Krankenkasse will eine Diagnose, die Eltern wollen klare Feststellungen über die Ursachen für die Probleme - und natürlich wenn immer möglich solche, die aus-serhalb der Familie und der Elternverantwortung liegt.

Die Erwartung

Ich soll also aus Mosaiksteinen fremder und eigener Beobachtungen, Erwartungen und Ansichten ein zutreffendes Bild von Anja entwickeln, das allen Beteiligten als Landkarte dienen kann, nach der sie sich richten und mit Anja „richtig umgehen“ können. Eine schwere Verantwortung! Es soll festhalten, was sie nötig hat, was wessen Mängel und was wessen Fehler sind.

Nüchtern betrachtet ist es meine Aufgabe, ein lebendiges Wesen, das sich in einem unaufhörlichen Prozess innerer und äusserer Wandlungen, Beeinflussungen und einem komplexen Zusammenspiel von Wünschen, Ängsten, Erwartungen, Hoffnungen und Anforderungen steckt, zu fixieren. Ich soll es festlegen auf einige Begriffe: Verhaltensstörung, abgewehrte Depression, Angstneurose, Retardierung!

Da stehe ich mit Anja im Sprechzimmer; ein hübsches Mädchen mit unruhigen Augen. Es weiss, dass es Schwierigkeiten macht: Ob es sich anpassen will und nicht kann? Oder will es sich gar nicht anpassen? In was soll es sich wohl fügen? Wer weiss?

Wie sieht ihr inneres Kräftespiel aus? Wie ist dieses Zustandsbild entstanden? Was beeinflusst das Mädchen aktuell, wie und von wem lässt es sich beeindrucken? Welche Rolle spielen frühere Erfahrungen, welcher Art sind sie und wie hat das Kind versucht, sie zu meistern oder zu vergessen?

Der Fragenkatalog ist lang und kann - so lang er werden sollte - doch nie vollständig sein; denn das Leben ist keine Maschine, deren Einzelfunktionen Schritt für Schritt auf korrekt oder fehlerhaft überprüft werden kann; zumindest ist es damit nicht getan. Wie soll ich das Lebendige fassen und festlegen, damit daraus Entscheide fallen und verantwortet werden können?

Das Dilemma

Dem Mädchen muss geholfen werden und auch seinen Eltern, Lehrern, Geschwistern usw. Ich muss mir ein Bild machen, damit ich mit allen beraten kann, was zu tun sei und um eine Richtung und Zielsetzung für mein Tun zu finden. Ich muss mich auf eine Aussage festlegen, damit nicht geschwaudert und gewurstelt wird. Damit lege ich aber auch das Kind fest; lasse den lebendigen Fluss zu einem festgefügten Modell erstarren.

Was wird mit meiner Diagnose oder meinem Zeugnis geschehen? Verhaltensgestört! Wird Anja die nächsten Jahren unter diesem Etikett von Klasse zu Klasse, von Lehrerin zu Lehrer weitergereicht? Löst sie bei den Eltern Schamgefühle aus oder benutzen sie die Diagnose, um sich vom Kind zu distanzieren nach dem Motto: „Es ist halt krank“, es liegt an ihm, wir können oder wir müssen nichts machen?

Das Dilemma besteht in der Notwendigkeit möglichst klare Aussagen zu machen und der Gefahr, lebendige Entwicklungsmöglichkeiten einzuschränken, dem Kind Zukunft zu verbauen oder gar Störungen auszulösen durch das Festschreiben (Fixieren) von Verhältnissen, die im Fluss sind.

Ausweichen oder verantworten?

Was mache ich also mit Anja? Verzichte ich auf eine Aussage oder verfasse ich sie so vage, dass ich nicht darauf behaftet werden kann? Dies ist sicher keine Lösung! Solche Berichte, Gutachten oder Zeugnisse (es gibt sie) sind sogar sehr gefährlich, weil der Leserin/dem Leser Tür und Tor für eigene Phantasien geöffnet werden, was der „Fachmann/-frau“ gemeint habe. Alle ziehen dann an dem Strick, den sie verstanden haben - ein heilloses Durcheinander.

Ich komme nicht darum herum, nach klaren Aussagen über Anja zu suchen. Ich werde aber sehr deutlich sein müssen und auch sagen, was ich nicht gesehen und was nicht verstanden habe. Wieder und wieder ist auch zu betonen, dass alle Aussagen vorläufigen Charakter haben. Es sind Arbeitshypothesen, auf die wir uns zwar verlassen müssen, um überhaupt zu handeln. Wir wissen aber, dass eine Revision, selten vielleicht sogar eine völlige Rücknahme dieser Sicht möglich ist und nötig werden kann. Denn erstens ist das seelische Leben nie so festgelegt wie unsere Aussage darüber und zweitens ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ein neuer, damals übersehener oder nicht sichtbarer Gesichtspunkt auftaucht, der das Bild grundlegend ändert.

Gerade auch im Wissen darum ist ein Ausweichen vor klaren Aussagen aber nicht verantwortbar. Immerhin ist die Feststellung „hier bin ich überfordert, ich weiss nichts gesichertes zu sagen“ auch eine klare Aussage.

Was das Vorgehen entscheidet

Was mache ich mit Anja?

Das Einfachste ist zu prüfen, wie ihre kognitiven und gewisse biologische Fähigkeiten sind. Sie kann so und so viel und das geht nicht, da reagiert sie verlangsamt, gar nicht oder verwickelt. „Das Einfachste“: Schon dies ist meist sehr kompliziert, aber es ist das Sicht- und Hörbare; alles was mit naturwissenschaftlichen Mitteln der Medizin und der Psychologie einigermassen präzise erfassbar ist. Da wir uns hier auf relativ gesichertem Terrain befinden, tendieren viele Fachkreise dahin, nur diese Aussagen aufzunehmen und weiterzuleiten. Noch weiter gehen solche, die nur diese als aussagekräftig gelten lassen wollen.

Dies mag dort genügen, wo die Massnahme auch relativ „einfach“ ist: z.B. Depression also Stimmungsaufheller verschreiben und schauen wie er wirkt. Für meine psychotherapeutische Intervention oder für die Beratung und die Entscheide für das mitmenschliche Verhalten in Familie, Schule oder unterstützende Institution genügt es nicht!

Wir kommen um die Frage nicht herum: Wieso „funktionieren“ die Fähigkeiten nicht, was hemmt dieses Kind, diesen Körper, diesen Menschen oder bringt seine lebenswichtigen Funktionen aus dem Gleichgewicht? Was ist der Sinn der Probleme, die Anja sich selber und ihrer Umgebung macht? Selbst bei organischen Fehlfunktionen oder Mangelerscheinungen kann es sinnvoll sein, die Frage nach der Einbettung in das Ganze dieses Lebens zu stellen.

Das heisst: Ich muss meinen Blick und meine Abklärung auf das ganze Lebensumfeld und die Ganzheit ihrer Persönlichkeit ausdehnen. Anja selber weiss vielleicht etwas, oder sie zeigt es in offenkundigen oder verschlüsselten Botschaften. Ihre Eltern wissen etwas, die Lehrer, die Hortnerin etc. Oft weiss niemand das Ganze.

Das Paradox: Festlegen dient der Verflüssigung

Schon das Zusammentragen von Beurteilungen und Beobachtungen bringt es oft mit sich, dass sich das Bild der Störung laufend ändert - bei mir, bei den Eltern oder Betreuern, aber auch beim Kind. Da sehen die Erwachsenen plötzlich etwas anders als zuvor. Kleine Haltungs- und Verhaltensänderungen bringen manchmal schon grosse Änderungen beim Kind hervor. Oft brauchen diese Prozesse aber auch länger. Gemeinsam ist der Abklärung und der Psychotherapie, dass sich Beurteilungen laufend revidieren müssen - besser gesagt dürfen.

Ideal ist, wenn sich die Beurteilung am Schluss einer Therapie oder Beratung überflüssig macht - nicht indem wir auf klare Aussagen verzichten und ablassen, treffende Beurteilungen zu suchen, sondern indem wir mit allem Ernst nach klaren Aussagen suchen und in der Auseinandersetzung mit unseren Feststellungen Festgefahrenes wieder in Fluss bringen. Das Beziehen von ausdrücklichen Positionen ermöglicht erst das Erkennen von Strukturen. Und nur zu erkannten Strukturen kann Stellung genommen werden, unterstützend, auflösend oder umbauend, je nach Wert der entdeckten Struktur. Verfestigung, Aufweichung, Auflösung und neue Verfestigung charakterisieren den Wandel, den wir Entwicklung - Leben nennen.

Datenschutz - nicht nur ein ethisches Erfordernis

Aus diesen Überlegungen versteht sich von selbst, dass Diagnosen vergänglich sind. Sie sind ähnlich zu handhaben wie die Berichte von Zeitzeugen für die Geschichtsforschung. Unter entwicklungspsychologischem oder allenfalls krankheitsgeschichtlichen Aspekt kann eine alte Diagnose wichtig sein. Sie ist aber immer in zweierlei Hinsicht zu lesen: 1. Was ging wohl damals im Beurteilten und mit dem Beurteilten vor? Und 2. Was hat der damalige Beurteiler verstanden resp. nicht verstanden? Daraus kann die/der fachlich Geschulte eine Vorstellung ableiten, was dem Beurteilten aus Diagnose oder Zeugnis erwachsen ist: Wo hat sie ihn unterstützt und wo geschädigt?!

Alte Diagnosen in Händen Unbefugter oder Unbefähigter sind aber wie Landminen aus früheren Kriegen. Nur strikter Datenschutz kann sie entschärfen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Beurteilung, Noten, Selbstwert, Diagnose