Beurteilung - Notwendigkeit und Risiko

Wir erkennen uns selber nur im Spiegel der Mitmenschen. Umso bedeutsamer, dass der Beurteilende kein Zerrspiegel ist, resp. dass er anerkennt, immer nur vom eigenen Blickwinkel aus zu urteilen.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts prägte Martin Buber den bemerkenswerten Satz: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Damit stellte er eine psychologische und pädagogische Tatsache in den Mittelpunkt, die in unseren Tagen wieder neu entdeckt und betont werden muss: Die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit gründet in der Beziehung. Es gibt kein „Ego“ und kein „Selbst“, das nicht aus der Beziehung stammt. Sogar „Selbstfindung“ gewinne ich nicht ohne Mitmenschen, auf die ich mich beziehe. Selbständigkeit und Selbstverwirklichung kann nicht als „Egotrip“ und Abschottung von anderen erworben werden.

Der norwegische Schriftsteller Henrik Ibsen bringt dasselbe auf den Punkt: In seinem Drama „Peer Gynt“ lässt er dem auftrumpfenden Peer, der sein Leben unter das Motto „Sei du selbst!“ stellt und rücksichtslos nur seinen Bedürfnissen leben will, den Obertroll entgegnen: „Du bist nicht du selbst; Du bist dir nur selbst genug!“ Er gehöre deshalb ins Reich der Trolle, der seelenlosen Dahinvegetierer ohne wirkliches Wissen um sich selber.

Bewusstsein entsteht über Rückmeldungen

Nur den eigenen Trieben oder Wünschen ausgeliefert, kann kein soziales Wesen entstehen. Wären wir als Menschen genetisch festgelegt, bräuchten wir kaum eine mitmenschliche Welt, in der sich unser Verhalten und unser Charakter ausbildet. Wir würden uns der Genetik entsprechend „ent-wickeln“. Dass dies nicht so ist, wissen wir eigentlich - zumal als Eltern - längst. Nun wird es auch durch die moderne beobachtende Säuglingsforschung eindrucksvoll bestätigt.

Spätestens von Geburt an finden feinste Austauschprozesse zwischen Kind und Betreuern statt. In der ersten Zeit wird der Austausch nur in den grossen Gesten bewusst geplant oder gezielt eingesetzt. Wichtiger ist ein Lächeln auf die auffordernde Zuwendung des Kindes; ein beruhigender Ton auf ein erschrecktes Wimmern. Die einfühlsam bezogene Reaktion auf den Ausdruck des Kleinkindes festigt seine Sicherheitsgefühle. Sie ist ihm Rückmeldung, erwünscht und „gut“ zu sein: Ein unschätzbar wichtiger Grundstein im Aufbau des Selbstwertgefühles.

Schon bald greifen wir zu bewussteren Reaktionen auf das kindliche Verhalten. Missbilligung oder freudestrahlendes Lob geben dem Kind Rückmeldung, was an seiner Art erwünscht und was missliebig ist. Hier beginnt die Arbeit der Eltern, die wir Erziehung nennen.

Von der Rückmeldung zur Beurteilung

Mit wachsendem Sprachverständnis teilen wir dem Kind direkt mit, was wir von ihm erwarten, von ihm halten und an ihm sehen. In unserem Verhalten, in Sprache, Gefühlsausdruck und Gesten teilen wir mit, wie es auf uns wirkt. Diese „Meldungen“ sind für das Kind - wie für Menschen allen Alters - eine Art Spiegel, in dem es sich selber erfährt und kennenlernt. Fehlt dieser Spiegel oder ist er stumpf, können sich weder Gefühlsleben noch Charakter verfeinern. Wir sind Spiegel für unsere Umgebung und in den Reaktionen unserer Umwelt (auch unserer Kinder) spiegeln wir uns. Erst in bewusster Auseinandersetzung damit lernen wir uns besser kennen und helfen unsern Mitmenschen, sich besser zu verstehen. Werden diese Rückmeldungen bewusst überlegt und ausformuliert, sprechen wir von Beurteilung.

Die Entwicklung von Selbsterkenntnis braucht viel Zeit und verschiedene Beziehungen; denn auch die „Spiegel“ sind individuelle Menschen mit Stärken, Schwächen und blinden Flecken. Herkunft, Bildung, gegenwärtigen Lebensumstände, Werthaltungen, Pflichten und Ziele prägen sowohl unseren Blick als auch unsere Reaktionen und Urteile.

Der Aufbau von Beurteilungen

Mein Blick auf die andern bestimmt meine Beurteilung mit. Beurteilt wird immer nur das, was wahrgenommen (beobachtet) wurde. Durch Ablenkung oder Nachlässigkeit verzerrt, durch Liebe oder Hass getrübt, durch eigene Wünsche oder Vorurteile bewegt, wird die Wahrnehmung stark beeinflusst.

Ich kann versuchen, sehr konzentriert zu beobachten und mich möglichst wenig von meinem Hintergrund lenken zu lassen. Dennoch ist es immer mein eigener Blickwinkel, aus dem heraus ich Begebenheiten wahrnehme. In jeder „Tatsachenfeststellung“ ist nicht nur die Tat enthalten. Aspekte und Haltungen dessen, der sie feststellt, sind hineingemischt. Absolut objektive Wahrnehmung ist ein Ding der Unmöglichkeit.

In einem nächsten Schritt kommt die Interpretation des Gesehenen hinzu. Wir erklären uns, wieso Fritz seinen Bruder an den Haaren reisst oder weshalb Jonathan so viele Fehler im Diktat macht. Ja sogar, warum Lisa rote Haare hat („der Urgrossonkel der Mutter“). Die Interpretation verändert bemerkt oder unbemerkt unsere Einschätzung des Beobachteten.

Eine eigentliche Beurteilung enthält noch einen dritten Schritt: In der Bewertung wird die Beobachtung mit einem Massstab (Kriterium) verglichen. Was hier und jetzt als moralisch gut oder schlecht; was als schön oder hässlich; als leistungsstark, als altersgemäss usw. gilt, entscheidet mit darüber, wie das Beobachtete beurteilt wird.

Relativität, Vielfalt der Beziehungen und Bewusstsein

Besprayt jemand eine Betonwand, kann er zum Künstler aufsteigen und als gefeierte Kapazität in Ausstellungen auftreten oder als Sachbeschädiger vor den Schranken des Gerichtes landen. Die Handlung ist dieselbe. Aber der Beobachter sieht den Wert der Wand oder er sieht die stilistischen Feinheiten der Strichführung. Der Urteilende erklärt sich die Sprayerei als Ausdruck kreativen und ästhetischen Bemühens oder als Ausfluss jugendlicher Langeweile oder als aggressiver Akt gegen das geordnete Zusammenleben. In der Beurteilung resp. Verurteilung wird die interpretierte Beobachtung mit einem Wertkriterium verglichen: Ist die Unversehrtheit der Wand (der gesellschaftlichen Ordnung) oder die Originalität des Ausdrucks höherwertig. Welches ist der angemessene Massstab um die Tat zu beurteilen?

Zumeist urteilen wir rasch und überdenken nicht jeden dieser Schritte. Aber in jedem von ihnen werden vom Beurteilenden bestimmte Entscheide - oft unbewusst - getroffen: Schon was ich sehe und was ich übersehe nimmt Einfluss auf die Beurteilung. Was ich verstehe und was ich nicht oder falsch verstehe, wirkt auf die Beurteilung ein. Schliesslich sind meine Ideale und Normvorstellunen ausschlaggebend, welche Kriterien ich anlege.

Jeder dieser Schritte ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich geprägt. Beurteilungen sind also immer eine Mischung aus Objektivem (was tatsächlich geschah) und aus Subjektivem (was ich davon wahrnahm, verstand und mir wichtig war). Diese Relativität gilt es, sich immer vor Augen zu halten.

Soll deshalb auf Beurteilung verzichtet werden? Dies ginge nur um den Preis des Verzichtes auf Erziehung und Bildung! Die richtige Folgerung ist, dafür zu sorgen, dass verschiedene Menschen in der Beurteilung, der Rückmeldung und dem Zusammenleben mitwirken.. Unterschiedliche Beurteilungen sind dabei als Chance zu neuer Erkenntnis zu begrüssen, und sollen nicht im Hick-Hack, wer recht hat, verloren gehen.

Und Schulnoten?

Solchen Überlegungen gelten auch für Schulnoten. In den Siebzigerjahren wurden empirische Untersuchungen über die Zuverlässigkeit schulischer Benotung durchgeführt. Zum grossen Erstaunen selbst der Forscher resultierte, dass sogar Benotungen im Fach Rechnen erheblich schwankten, je nachdem welche Lehrkraft dieselbe Schülerarbeit beurteilte. Dies liegt nun nicht an mangelnder Ausbildung oder Korrektheit der Korrigierenden, sondern an dem oben beschriebenen Sachverhalt, der unausweichlichen Relativität von Beurteilung.

Auch die Schulnote entsteht aus Beobachtungen, den Gewichtungen des Beobachteten und dem Massstab, der an die Beobachtung angelegt wird: In jeder Note ist nicht nur die Leistung enthalten, sondern auch der Massstab, der an sie angelegt wurde.

Nun ist der Massstab etwas ausserordentlich Wandelbares und Uneinheitliches: Wird im Aufsatz mehr Gewicht auf Satzbau, auf Orthographie, auf Stil oder auf Gedankentiefe gelegt: Die Note kann von ausgezeichnet bis zu ungenügend schwanken.

In der Zahlenbeurteilung sagt die Bewertung ebenso viel (oder ebenso wenig) aus über den Lehrer wie es über das Kin. Ich erfahre etwas über das Mass der Übereinstimmung zwischen den Erwartungen des Lehrers (die ich nicht kenne) und den Arbeiten des Kindes. Lese ich eine Note, weiss ich eigentlich nur, dass dieser Lehrer/diese Lehrerin die Taten des Kindes gut, mittel oder schlecht findet. Ich weiss nicht, was der Lehrer verlangt hat und nicht, was das Kind tat.

Es liegt auf der Hand, dass sich Erwachsene hinter Bewertungen verstecken können, wenn sie diese nicht ausdrücklich begründen müssen. Noten können zu Machtdemonstrationen verkommen und viele Jugendliche erleben dies so. In dem Sinne sind Beurteilungen eine Gefahr.

Jugendliches Bedürfnis nach Beurteilung

Andererseits suchen Kinder und Jugendliche die Beurteilung. Schauen wir auf die Begeisterung vieler für sportliche Wettkämpfe. Das Bedürfnis nach Rückmeldungen ist vorhanden. Kinder und Jugendliche spüren, dass sie Rückmeldung für den Aufbau ihres Selbstbewusstsein und ihrer Selbsteinschätzung brauchen. Der Vorteil im offenen Wettkampf ist, dass die Regeln bekannt und durchschaubar sind. Die Resultate sind meist leicht messbar oder gar augenblicklich zu vergleichen. Hier erleben Jugendliche echtes Kräftemessen und direkten Vergleich in der Altersgruppe. Der weiterführende Erfolg oder die zurückwerfende Niederlage kann direkt mitverfolgt werden und ist daher auch leichter zu akzeptieren.

Würden Schulberichte geschrieben, könnte der Leser selber auseinanderhalten: Dies ist die Beobachtung, dies sind die Überlegungen dazu, dies ist der Massstab und daraus erfolgt diese Beurteilung. Wären Noten transparent begründet, würden sie wohl die in sie gesteckten Erwartungen eher erfüllen können: Tadel (schlechte Note) könnte leichter als Ansporn dienen, Lob (gute Note) mehr Wissen über sich selber fördern. Für den Aufbau eines klaren Bewusstseins über sich selber genügt das Wissen „mich findet der Lehrer gut/schlecht“ nicht. Viel bedeutsamer wäre zu wissen: In dem und dem Aspekt werde ich super eingeschätzt, weil ....; dort wird das und das mehr erwartet, in jenem verstehe ich noch zu wenig. Solches Beurteilen erhöht sicher die Anforderung an den Beurteilenden, trägt aber auch zu dessen klarerem Überblick über seine Anforderungen bei und würde die Diskussion über Bildungsziele konkreter und durchschaubarer machen. Die Beurteilung wird dann zur brauchbaren Rückmeldung, an der sich Schüler, Eltern und später auch Lehrmeister etc. orientieren könnten.

In dem Sinne ist es nicht einfach Kritik oder Misstrauen, wenn Eltern oder Schüler eine Begründung für Noten verlangen, sondern kluges Engagement für die Weiterentwicklung der Schüler und der Schule.

© Dr. R. Buchmann, Psychotherapeut

Stichworte: Beurteilung, Diagnose, Schule, Noten, Motivation