Rhythmus
Rhythmus ist eine bedeutsame ordnende Kraft in unserem Leben. Auf verschiedenen Ebenen sind verschiedene Rhythmen von lebenserhaltender Bedeutung. Körperlich sind es Puls und Atmung, in der Natur gibt es Tag-/Nacht- und Jahreszeitenabfolge, aber auch soziale Rhythmisierung hat hohe Bedeutung für die seelische Gesundheit.
Ich lade Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Stellen sie sich eine Welt ohne Rhythmus vor: Es wäre immer Taghell oder immer Nacht; es gäbe weder Durst noch Hunger und seine Befriedung; es gäbe keine Wochentage und keinen Sonntag; weder Jahreszeiten noch einen „Festkalender“. Die Einförmigkeit des Lebens würde wohl jede Lebensfreude erschlagen. Wer solcherart jede Zeitstruktur verliert, gerät in eine tiefe Gemütskrankheit, in ein dunkles Loch – trotz tagheiteren Lichtes, in tiefe Depression.
Unser Leben ist durch Rhythmen strukturiert, ohne die wir es uns kaum vorstellen, schon gar nicht aushalten könnten. Das Wiederkehren des Ähnlichen (eine Definition von Rhythmus) ist uns so selbstverständlich, dass er uns nur selten bewusst wird. Erst wenn er durchbrochen oder in Frage gestellt ist, merken wir, dass „etwas nicht stimmt“.
innere Rhythmen
Von Anbeginn hat unsere Natur innere Rhythmen eingerichtet. Da ist der Herzschlag zu nennen; das abwechselnde Ein und Ausatmen; die Wechsel von wach und schlafend; von hungrig und satt. Wir können sogar Leben als Rhythmus definieren, wenn in einem Organismus aller Rhythmus aufhört, ist er gestorben. Dieses tiefe Wissen tritt z.B. in unser Bewusstsein, wenn uns der Atem stockt oder Herzrhythmusstörungen mit tiefer Angst erlebt werden. Damit haben wir auch schon die Erkenntnis gewonnen, wie unauslöschlich Rhythmus mit dem Gefühl von Sicherheit, Störungen im Rhythmus mit existentieller Angst verknüpft ist.
Diese ursprüngliche Erfahrung bringen wir auf die Welt mit. Nicht nur der eigene Herzschlag sondern auch der Takt des Pulses der Mutter vor der Geburt bestimmen das Gefühl der Sicherheit. Im Mutterleib schwingt das Kind mit dem Herzschlag der Mutter mit, den es ab einem gewissen embryonalen Alter auch hört. Je mehr sich sein Körper vom mütterlichen verselbständigt, desto mehr können wir von Wechselwirkung sprechen. Was zuerst eins war, wird nun zu einer Art Rede und Antwort. Die erschreckende Mutter ändert den Herzschlag, und das Herz des Kindes stimmt darauf ein. Körperlich „erlebt“ es also den Schrecken der Mutter: Es erschrickt gleichsam mit ohne Ahnung der Ursache. Aber auch die gesunde Mutter spürt ihr Kind und reagiert auf seine Zuständlichkeit in ihrem Leib.
rhythmische Abstimmung
Dieses Modell der rhythmischen Abstimmung, die als emotionale Zwiesprache bezeichnet werden kann, bringt das Kind bei der Geburt in seine neue eigene Welt mit. Was in der Gebärmutter noch physiologisches Gesetz war, wird nun mehr und mehr zu einer psychologischen „Absprache“. Dazu bedarf es immer komplexerer Kommunikationsmittel je weiter sich die Körper voneinander entfernen. Ziel der Entwicklung wird es sein, dass das Kind seine eigenen Rhythmen mehr und mehr selbständig und unabhängig regulieren kann. Dies gilt insbesondere auch für den rhythmischen Wechsel von Erregung und Beruhigung.
Die Beeinflussung dieser Rhythmen ist ab Geburt stark abhängig von äusserem Geschehen. So kommt der Nahrungsrhythmus nicht aus ohne die Bereitschaft der Umwelt, es zu nähren. Aber auch der gleichsam geistige Erregungsrhythmus braucht – mindestens zeitweise – die Anregung von aussen. So sucht schon Ihr Neugeborenes in gewissen Zeitabständen „neugierig“ nach Interessantem um es herum. Dann wieder lehnt es jede Anregung von aussen ab und zieht sich gleichsam in innere Betrachtungen zurück
Es hat sich nun in der Säuglingsforschung gezeigt, wie wichtig für die optimale Entwicklung eines Kindes ist, dass seine Zyklen beobachtet, beachtet und hinreichend aufmerksam beantwortet werden. Rhythmische Abstimmung ist keine Einbahnstrasse, beide Seiten ändern ihre Schwingungen zum Gemeinsamen hin, wenn die Kommunikation gelingen soll. Dies ist einerseits Basis aller Kommunikationsfähigkeit und andererseits Modell für die werdende Eigenart des Beziehungsverhaltens der Menschen.
äussere Rhythmen
So ist rhythmisches Einschwingen eine Verschmelzung des inneren mit dem äusseren Rhythmus: Eine symbolisch oder sogar physische Verschmelzung, in der Berührung erkennen sie die grosse beruhigende Wirkung des Streichelns – auch für den Streichelnden! Sogar physische Einschwingung kann allerdings auch ohne Berührung auskommen. – etwa im Angleichen der Atmungsrhythmen oder im Einstimmen auf den Erregungspegel sei es der Freude oder z.B. der Prüfungsangst. Gegenseitiges Gespür und Beachtung der Rhythmen des andern ist das Ideal jeder Beziehung.
Es dürfte nicht von ungefähr kommen, dass Tanzen – das gemeinsame Einschwingen auf gemeinsame Rhythmen und Eingehen der eigenen Bewegungen auf die Bewegungen eines oder mehrerer andern – eine zentrale Form der Annäherung von Menschen ist. Die meisten Kinder freuen sich spontan am Tanzen. In vielen Kulturen und Religionen ist es ein zentrales Element der gemeinschaftlichen Kommunikation, das meist lustvoll betont und mit Freude verbunden ist.
Wer schwingt bei wem ein?
Nun gibt es einen „Gelehrtenstreit“ unter den Erziehungsberatern für Säuglingserziehung. Die einen sagen (etwas pointiert zugespitzt), dass Kind müsse von Anbeginn lernen, den Rhythmus der Aussenwelt zu akzeptieren – sonst lerne es nie zu gehorchen. Demnach muss das Kind im 4-Stundenrhythmus gestillt werden. Die andern sagen: Völlig falsch! Wenn sich die Mutter nicht dem Rhythmus des Kindes unterordnet (free demand-Methode), so werde das Kind ab Geburt sich selber entfremdet und lebenslängliche Beeinträchtigungen erleiden.
Dahinter steht die ideologiebeladene Frage, wie ein Kind zu einer lebensfähigen Haltung kommt, äussere Strukturen zu beachten und eigene Triebe zu beherrschen. Oder von der andern Position her formuliert: Wie kann dem Kind Vertrauen in die eigenen Regulationen (Rhythmen, eigenen Körper etc.) erhalten werden, ohne dass es egozentrisch bleibt, d.h. über seine Zeit hinaus im Säuglingszustand zurückgehalten wird..
Nicht für oder gegen das Kind
Bei dieser Frage ist wichtig im Auge zu behalten, dass das Anpassen an Rhythmen etwas Lebenssicherndes und die Frage, welche Rhythmen nun gelten zweitrangig ist. Auch ein Kind, das früh lernt sich fremden Regulationen anzupassen, kann glücklich werden, ebenso wie das Kind, das erleben durfte, wie sein Rhythmus ernstgenommen wurde. Die grosse Bedrohung entsteht für das Kind, wenn keine verlässlichen und kontinuierliche Rhythmisierung zu Stande kommt. Schlimm ist der unzuverlässige Wechsel, auf den es sich nicht verlassen kann. Wer sich für die eine Ideologie entscheidet, ist nicht gegen oder für das Kind. Wichtig ist, dass es ihr oder ihm gelingt, die Entscheidung durchzuhalten. Dazu ist es wichtig, dass die Mutter bezw. der Vater innerlich überzeugt ist vom Entscheid und nicht nur „auf die Verantwortung“ des andern oder des Beraters handelt.
Sicherheitsgefühl entsteht im wiederkehrenden Ähnlichen in ähnlich bleibenden Abständen – eine Definition von Rhythmus. Sind diese Rhythmen ausreichend gesichert, kann sich das Kind darauf einrichten – auch wenn es vielleicht zunächst dagegen protestiert. Es weiss, was gilt, es weiss ungefähr, was kommt oder eben nicht kommt. Die Welt wird für es berechenbar.
Tagesstruktur – Persönlichkeitsstruktur
Persönlichkeitsstruktur hat viel mit „innerer Sicherheit“ zu tun. Diese Sicherheit basiert im wesentlichen auf der Verlässlichkeit der Strukturen. Hier können wir den Unterschied zwischen äusserer und innerer zunächst einmal getrost bei Seite lassen. Aus Untersuchungen in Kriegsgebieten wissen wir, dass die Auswirkungen von grauenhaften Ereignissen individuell auch von Kindern sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Im Vorteil sind jene, die auf eine innere Sicherheit oder eben Persönlichkeitsstruktur zurückgreifen können. Allerdings hat natürlich auch dieser Rückgriff Grenzen, wenn die Erschütterung – etwa einer Vergewaltigung – alles Vertrauen in die Weltordnung dahin fegt.
Dennoch kann betont werden, dass Stabilität, Kontinuität und Verlässlichkeit der äusseren Ordnung viel dazu beiträgt, dass ein Kind eine innere Stabilität oder eben Persönlichkeitsstruktur aufbauen kann: Die Sicherheit entsteht aus dem Glauben an die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, die Aufgaben, die ihm das Leben stellt, bewältigen zu können. Ist die Welt berechenbar, ist dies einfacher. Ist allerdings diese Berechenbarkeit zu naiv, können schon einfachere Abweichungen Erschütterungen darstellen.
Essens- und Schlafenszeiten
Ein wichtiger Sicherheitsgeber ist der ähnliche bleibende Rhythmus des Tagesablaufes, die Tagesstruktur. Deshalb ist auch für Menschen mit schweren seelischen und geistigen Krankheiten oft der erste Schritt der Hilfe, ihnen eine solche Tagesstruktur anzubieten. Dasselbe gilt aber auch für Säuglinge und Kinder bis weit in die Schulzeit hinein. Von physiologischen Bedürfnissen her ist der Schlafrhythmus und der Essensrhythmus eine grundlegende Erfahrung.
Die Frage ist nicht, ob das Kind sich an die Rhythmen der Familie anpassen muss, sondern nur ab wann und wie es eingewöhnt wird. Den Versuch das Kind ab Geburt strikte darauf festzulegen, halte ich für eine altersunangemessene Überforderung. Problematisch ist aber auch den Zeitpunkt zu verpassen, an dem diese Angleichung des Kindes an seine Unwelt lebensförderlich ist. Es geht um das Kommunikationsmuster: Wie gestalten sie mit ihrem Kind das gegenseitige Einschwingen. Auf die Dauer kommt es nicht gut, wenn sie sich über Jahre gegen ihren eigenen Rhythmus resp. jenen der Familie auf die Seite des immer grösser werdenden Säuglings stellen. Er muss den Schritt zum Kleinkind vollziehen und diesen macht er einerseits von innen heraus, andererseits aber nicht ohne Hilfestellungen von aussen. Eine dieser Hilfestellungen sind auch Forderungen, die gegen seinen Protest durchgehalten werden. Dabei sollte der Protest nicht gebrochen werden. Protest muss ausgehalten werden, d.h. sie müssen dessen Berechtigung abschätzen: Sind sie der Meinung, er sei berechtigt, müssen sie nachgaben. Sind sie der Meinung er sei unberechtigt (d.h. das Kind sei fähig, die Forderung zu erfüllen), ist es ideal, wenn sie ruhig auf der Forderung beharren. Wer dies nicht aushält, gerät leicht in Gefahr, den Protest des Kindes zu verhöhnen („eine kleine Welt verrückt“) oder als Angriff aus sich aufzufassen. Auch ein buchstäbliches oder symbolisches Zurückschlagen ist unangemessen. Unangemessen wäre aber auch das Zurückschrauben der Forderung, von der sie überzeugt sind, es dem Kind zumuten zu können.
© Dr. Rudolf Buchmann