Be-Achtung!
Achtung kommt von Beachtung. Eine der schlimmsten Kränkungen ist stummes Übersehen. Missachtung „kränkt“, d.h. sie macht krank. Sie wird oft als Verachtung wahrgenommen und wirkt beschämend, d.h. sie lässt Scham und Selbstzweifel aufkommen, so schädigt Missachtung Selbstwert und Selbstvertrauen. Dies gilt für alle Altersstufen (auch in der Ehe!), aber ganz besonders für die Zeit der frühesten Kindheit.
„Kind, du nervst!“ Es gibt viele Gründe, sich von Kindern abzuwenden. Einige sind auch durchaus einfühlbar. Es gibt ja – zumal in unserer Kultur – viele andere Aufgaben zu erledigen. Man kann sich doch nicht nur ständig um die Kleinen kümmern. Auch gibt es Müdigkeit, ja Erschöpfung. Und dann will man den Anschluss nicht verpassen, sei es mit Freunden, sei es im Beruf. Und schliesslich sind noch die eigenen Interessen und Bedürfnisse. Und dann kommen vielleicht noch Vorhaltungen, die stolze Mutter solle nicht so fixiert auf ihr Kind sein.
Neben dieser (wie ich sie nennen möchte) „zerstreuten“ Nicht-Beachtung, gibt es andere Gründe, nicht auf kindliches Verhalten zu reagieren resp. die Kommunikation zu verweigern: Die gezielte Nicht-Beachtung als „pädagogische Massnahme“ wird von einigen „Ratgebern“ empfohlen. Auch gibt es „Nicht-Beachtung“ der Kinder als Folge krankhafter Prozesse im Erwachsenen, etwa wenn düstere Vorstellung, Selbstvorwürfe und krankhafte Sorgen alle Aufmerksamkeit von der aktuellen Situation abziehen oder wenn Wahnvorstellungen den Blick auf die aktuelle Realität verstellen. In diesem Heft gehe ich nur auf Wirkung, nicht auf die Gründe des Nicht-Beachtens ein.
Bedeutung des Beachtens
Schon das ganz kleine Kind ist auf einen seelischen Spiegel seines Tuns angewiesen, um sich und die Welt kennen zu lernen. Erst aus diesen Erlebnissen, dass es auf andere wirkt, erwächst ein positiver Tatendrang. Nur an Reaktionen der Mutter erfasst es, wie es nach aussen wirkt und lernt so menschlichen Umgang und innere Einstellung. Dort erfährt es, dass sein Handeln nicht nur etwas bewirkt, sondern auch etwas bedeutet. Dadurch erfährt es, dass seine Existenz nicht gleichgültig resp. nicht sinnlos ist. Während die Erfahrung von Erfolg auch aus dem Werkbezug des eigenen Tuns entstehen kann, entstammt das Erfassen von Sinn allein der Beziehung. Erfolg genügt aber nicht, um das Leben sinnerfüllt zu empfinden.
Wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, dass wir die tiefsten Gefühle von Lebensmut und Vertrauen in den Sinn des eigenen Daseins im Wesentlichen der lebensgeschichtlichen Erfahrung verdanken, beachtet zu sein. Nicht zufällig lauten die Taufformeln, dass Gott das Kind mit dem Namen gerufen habe; es also persönlich und individuell beachte. Dies ist ein frühes Kapital, das Zinsen trägt. Ist dieses Vertrauens- und Sinn“kapital“ in den ersten zwei, drei Jahren gut gefüllt, mag es manche Rückschläge und Demütigungen absetzen, ohne dass der Schaden allzu gross oder gar gesundheitsgefährdend wird. Ist das Sinnkapital zu Beginn des Lebens sehr klein, braucht es später ein Vielfaches an Beachtung, Aufwertung und Anteilnahme, um dieses Manko auszugleichen.
Auch bei schweren Schicksalsschlägen spielt es eine grosse Rolle, auf welche Basis ein Mensch zurückgreifen kann; ob ein Fangnetz da ist oder er ins Leere fällt.
Das Wesentliche
Das Idealbild einer Elternschaft permanenter Beachtung würde eine Person mit mindestens acht Armen, mit mehreren Köpfen und mit vielen gleichzeitig laufenden Aufmerksamkeiten erfordern. Viele der oben erwähnten Ablenkungen des Vaters und der Mutter sind ehrenwert und verständlich. Es ist alles andere als einfach, eine „gute Mutter“ und ein „guter Vater“ zu sein.
Es ist nicht möglich, alle Ideale zu erfüllen. Tröstlich, dass ein Kind auch Pausen der Kommunikation und Eigenbeschäftigung ohne Kontrolle von aussen braucht – je älter es wird umso mehr. Dennoch muss in den ersten Jahren die ablenkungsfreie Zuwendung und zweckfreie Präsenz von Eltern eine grosse Zeitspanne einnehmen: Für solche Stunden gab es einmal das Wort „Gemütlichkeit“ – nicht zufällig; denn da bildet sich das Gemüt! In der heutigen Hektik muss wohl Gemütlichkeit aktiv geplant und in den Stundenplan eingesetzt werden. Diese Zeit sollte auch möglichst frei sein von innerer Ablenkung, von Sorgen, in die Ferne fantasieren, Stress.
Um das zu erreichen, müssen Prioritäten gesetzt, Arbeitsteilung abgemacht und Klarheit erarbeitet werden, was für diesen Lebensabschnitt das Wesentliche und was weniger wichtig ist. Eltern müssen auswählen und sich festlegen, um sich (und die Partnerin/den Partner) nicht zu überfordern.
Natürlich muss hier auch auf den gesellschaftlichen Skandal erster Ordnung hingewiesen werden: Dass das Aufziehen von Kindern ein Armutsrisiko ist; ist nicht nur ungerecht: Viele Eltern leisten mehr als mancher Manager; es ist zudem sehr kurzsichtig: Die Gesellschaft braucht grundsätzlich Kinder. Aber vor allem ist es auch seelisch und physisch schädlich: Sorgen und Nöte der Eltern mindern ihre seelisch-geistige Präsenz. Das Risiko steigt, den Kindern zu wenig Beachtung zu schenken.
Quadratur des Kreises
Aber auch in besser situierten Familien ist Verzichtplanung der Eltern gefragt. Dies kann sich auf Bedürfnisse der Elternteile, aber auch auf jene zwischen den Partnern beziehen, für die Zeit und Energie manchmal einfach nicht ausreichen. Wichtig ist, solche Frustrationen nicht dem PartnerIn allein anzulasten, sondern sich der Notwendigkeit und Realität der Einschränkung bewusst zu sein.
Es sei aber auch betont, dass Verzicht nicht in völlige Selbstaufgabe ausarten sollte. Das Auftanken und Verschaffen neuer Kräfte gehört in die Zeitplanung. Beachtung der Partnerin/des Partners und Selbstbeachtung dürfen nicht aus dem Blickwinkel verloren gehen. Eben: Die Quadratur des Kreises.
Manchmal gibt es ja glücklicherweise auch Mitmenschen, die zur Seite stehen und zeitweilig helfen, das Unmögliche möglich zu machen. Hierher gehören auch die Geschwister selber. Vom Geschwister gewinnt das Neugeborene neugierige Zuwendung und Anregung. Das ältere kann bald einmal Zuneigung und Bewunderung vom Jüngeren ernten. Ihre gegenseitige, blosse Anwesenheit bietet seelisch wichtige Beachtung an; selbst dann wenn sie untereinander streiten!!!
Wenn es darum geht, in seinem Leben das Wesentliche zu bestimmen, kann niemand niemandem die persönliche Antwort abnehmen. Ich setze voraus, dass ein Kind für seine Eltern zumindest etwas Wesentliches in ihrem Leben ist. Um Schwerpunkte sinnvoll auszuwählen, gehört Wissen über die Bedürfnisse eines Säuglings und Kleinkindes dazu.
„DAS“ Wesentliche aus der Kinderperspektive
Was wissen wir denn, was für das Kleinkind wesentlich ist? Hier streiten sich die Gelehrten: Ist striktes Einhalten eines Zeitplans oder Antworten aus dem Gefühl korrekter? Sind körperliche (Nahrung und ihre perfekte Zubereitung, Sauberkeit/Hygiene, Schlafrhythmus) oder seelische Bedürfnisse (Zuwendung, Spiel, Gemütlichkeit) wichtiger? Nicht selten erfahre ich Streit zwischen den Eltern über solche Fragen! Manchmal ist der Vater „nachgiebiger“ und die Mutter sehr strikt; manchmal ist es umgekehrt. Manchmal werden die Akzente in verschiedenen Themenbereichen gesetzt: Rechtzeitig ins Bett ist für Mutter fast eine Frage des Seelenheils, während der Vater auf der peinlich genauen Einhaltung der Körperpflege besteht.
Welcher Elternteil hat recht? Die Eltern suchen nach Wissen. Nun ist es aber so, dass jeder Elternteil für seine Prinzipien den entsprechenden Artikel oder Rat wird zitieren können. Dies ist so, weil jede/r BeraterIn aus dem eigenen Sachgebiet heraus die Akzente setzt und aus dem verfügbaren Wissen nach seiner Werthaltung auswählt und sein Fachgebiet für das wichtigste hält: Fluch und Segen der Spezialisierung! Die Eltern müssen ihre eigenen Akzente wählen; denn alles erfüllen können sie sowieso nie. Aber sie müssen handeln!
Trotz diesen Einschränkungen erlaube ich mir, aus meinem Fachgebiet das mir besonders wesentlich Erscheinende aus der Säuglings- und Kleinkinderperspektive vorzutragen.
Beachtung
In sogenannt primitiven Kulturen – nicht in allen! – tragen Mütter den Säugling den ganzen Tag mit sich herum. Der Körperkontakt ist fast ununterbrochen. Trotz heftiger Bewegungen, z.B. beim Waschen oder Maniok-Zerstampfen, scheinen die Kleinen nicht nur keinen Schaden zu nehmen, sondern wirken recht zufrieden. In unserer Kultur wird der Körperkontakt mehr oder weniger massiv eingeschränkt. Dies hat Auswirkungen auf die ganze Entwicklung und den späteren Charakter.
Beobachten wir den Unterschied. Je weniger selbstverständlich der Körperkontakt, desto mehr Eigenleistung muss das Kind aufbringen, um die Nähe der Mutter zu spüren. Früh lehren wir die Kinder Distanz zwischen den Menschen. Dort wo wir auf ihre Werbung um Aufmerksamkeit eingehen, lernt es, diese Distanz zu überwinden. Wo selten oder nur dank lautem Protest Aufmerksamkeit zu kriegen ist, lernt es entweder die Distanziertheit zu ertragen oder kommunikativ zu resignieren. Im günstigeren Fall kann es sich in Eigenaktivität flüchten und lernen, sich selber zu holen, was es braucht. Eventuell eine Vorübung zu späterem Egoismus. Eher noch ungünstiger ist, „Kälte der mitmenschlichen Welt“ als Grundgefühl seines Weltverständnisses zu lernen. Es kann später im Gefühl der Langeweile oder als tiefsitzendes Einsamkeitsgefühl die Quelle depressiver Leiden werden.
Eine selbstverständliche Beachtung, d.h. eine seelisch-geistige Präsenz und Bezogenheit auf das Kind kann die reduzierte Körpernähe ausgleichen. Nicht zu verwechseln ist diese Bezogenheit mit ständiger Einmischung, pausenloser Anregung oder andauernder Kontrolle; denn Unversehrtheit des Eigenlebens, die Zeit ungestört sein „Inneres zu ordnen“ ist von Beginn ein ebenso wichtiger Wert. Rhythmus zwischen Zuwendung und in Ruhe lassen sowie ein Gespür, wann welches Verhalten jeweils angebracht ist, sehe ich als bedeutsame erzieherische Fähigkeit an.
© Dr. phil. Rudolf Buchmann