Tagesrhythmus nicht Stundenplan!

Free-demand-Methode oder Fütterung nach Plan? Zwischen der Haltung, dass alle Pflege nur von den Bedürfniskundgebungen und Wünschen des Säuglings geleitet sein darf und der Forderung, dass schon kleinste Kinder sich an die Stundenpläne der Erwachsenen halten müssen, gibt es einen dritten Weg!

Die meisten Eltern wollen alles richtig machen. Die meisten Eltern sind nach der Geburt verunsichert. Es ist nie ganz so, wie wir es uns vorgestellt haben. Das zweite Kind ist auch nicht so, wie das erste war. Die Aufmerksamkeit, die das erste Kind haben konnte, muss nun geteilt werden. Das ist nicht nur eine zusätzliche Anforderung ans ältere Geschwister, sondern auch an die Eltern selbst! Kurz: Vater und Mutter sind nicht frei, so zu tun wie sie möchten oder wie sie es „eigentlich“ gut finden würden.

Manche suchen Rat; andern wird der Rat ohne ihre Nachfrage – z.B. in der Wöchnerinnenabteilung oder bei Verwandtenbesuchen – zugeraunt. Auch von „handfesteren“ Vorschriften, was richtig und was falsch ist, habe ich schon gehört; von Drohungen gar, was spätere Folgen beim Kind seien.Selbstzweifeln (eine gute Mutter kann das!) werden eingepflanzt und Bereitschaft zu Schuldgefühlen, wenn man nicht so kann, wie gefordert.

Guter Rat ist nie Diktat

Lassen Sie sich wenn immer möglich nicht kleinkriegen von Ratschlägen, die mehr schlagen als raten. Guter Rat entsteht immer erst aus gemeinsamem Beraten. Hören die „Beratenden“ nicht zu, sind Sie in die falschen Hände geraten. Lassen „Beratende“ nur ihre eigenen Weisheiten gelten, handelt es sich nicht um Rat, sondern nur um Belehrungen. Belehrung ist gut und wichtig für das theoretische Lernen und für Ausbildungen – als Vorbereitung für die Ernstsituation und als Ideen eigenes Verhalten zu überdenken. Für die Beratung im praktischen Feld sind sie fehl am Platz.

Guter Rat möchte erst die Erfahrungen, Erlebnisse, die aktuelle Befindlichkeit und die Nöte der Ratsuchenden kennenlernen. Guter Rat ist erst mal Anhören der Beteiligten, wie sie ihre Probleme selber verstehen und welche Lösungsphantasien schon aufgetaucht sind und - vielleicht auch - welche Schläge aus früherem Rat bis heute nachwirken!

Das Ziel von Beratung (ob mit FreundInnen, Verwandten oder professionell) muss immer sein, tragende Haltungen zu entwickeln, die sich im praktischen Alltag bewähren und die diejenigen Personen, die sich tatsächlich um die Kinder kümmern, durchzuführen in der Lage sind. Hilfreich für Eltern und Kind (!) ist nur, was zu ihren Persönlichkeiten (und Lebenssituationen) passt. Es gibt erstaunliche Erziehungserfolge trotz – aus meiner Sicht – bedenklichen Einstellungen und es gibt überraschende Misserfolge trotz – aus meiner Sicht – besten Einstellungen.

Nicht für oder gegen das Kind

Daher: Wer sich für eine bestimmte Ideologie entscheidet, ist nicht gegen oder für das Kind. Wichtig ist, dass die Entscheidung stimmt und zu den Eltern passt, so dass es ihr und ihm gelingt, die Haltung durchzuhalten. Voraussetzung dazu ist, dass sich die Mutter und der Vater innerlich nicht verbiegen, dass sie ihren Empfindungen keine Gewalt antun oder nur „auf Verantwortung“ der andern (z.B. der Ratgeber) handeln.

Unabhängig von einem bestimmten Pflegeverhalten oder Erziehungsstandpunkt gilt jedoch, dass Sicherheitsgefühle und Heimat (Urvertrauen) aus deim Wiederkehren des Ähnlichen in ähnlich bleibenden Abständen entstehen. Dies ist eine Definition von Rhythmus. Sind diese Rhythmen ausreichend gesichert, kann sich das Kind darauf einrichten – auch wenn es vielleicht zunächst dagegen protestiert. Es weiss, was gilt, es weiss ungefähr, was kommt oder eben nicht kommt. Die Welt wird für es berechenbar.

Dies gilt nun sowohl für rhythmusbetonte als auch für taktartig geplante Tagesabläufe. Hingegen sehe ich diese grundlegende Berechenbarkeit gefährdet bei einer extremen Auslegung von „free-demand-Methode“.

Takt oder Rhythmus

Bei der Wahl zwischen Takt und Rhythmus ziehe ich eindeutig eine rhythmische Tagesstruktur vor; denn das Leben aller Lebewesen ist auf Rhythmus und nicht auf Takt angelegt. Stundenpläne schreiben ein bestimmtes Verhalten zu einer genauen Zeit vor: Fütterung 8 Uhr, 12 Uhr, 16 Uhr, 20 Uhr; Schlafen von dann bis dann. Sie prägen die Botschaft ein: Füttern nicht dann, wenn Hunger da ist resp. signalisiert wird, aber auch nicht dann, wenn die Milch einschiesst, sondern dann, wenn die Uhr auf Fütterung steht. Das mag in einer grossen Klinik aus betrieblichen Gründen notwendig (?) sein, Begründungen „aus Sicht des Kindeswohles“ halte ich für ziemlich realitätsfremd. Möglich wird sie auch erst mit der Erfindung und Verbreitung der Uhr in unserem Leben.

Ähnliches in ähnlichen Abständen – nicht gleiches in gleichen Abständen ist lebendige Realität. Der Hunger meldet sich nicht taktisch, sondern rhythmisch, nicht jeden Tag gleich aber ähnlich. Daraus wird deutlich: Rhythmus ist fliessend oder flexibler als Takt. Er hat mehr mit Anfrage und Antwort zu tun. Stundenplan und Stundentakt frägt nicht nach Menschen, sondern nach einer Uhr, roboterhaft: Zeitpunkt = Nahrung. Takt in der Zeitstruktur entspricht dem Denken des mechanischen Zeitalters. Rhythmus hingegen ist der Beziehung und dem Begegnen verwandt.

Tagesstruktur – Persönlichkeitsstruktur

Persönlichkeitsstruktur hat viel mit „innerer Sicherheit“ zu tun. Diese Sicherheit basiert im Wesentlichen auf der Verlässlichkeit der Strukturen und deren flexible Bezogenheit zwischen den einzelnen Elementen: Wie eine gotische Kuppel durch die feinen Verstrebungen viel Tragkraft gewinnt und oft schwere Erdbeben übersteht, stützen sich eine Vielzahl einzelner Erfahrungen von guten, wechselseitigen Beziehungen, die - antwortend aufeinander bezogen - in der Entwicklung aufgebaut wurden.

Hier können wir den Unterschied zwischen äusseren und inneren Strukturen zunächst mal getrost bei Seite lassen. Die äussere (Beziehungs-)sicherheit geht in die innere Vertrauensgewissheit über. Flexiblere Strukturen sind überall in der Natur stabiler als starre. Aus Untersuchungen in Kriegsgebieten wissen wir, dass Eindrücke von grauenhaften Ereignissen gerade auch von Kleinkindern sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Im Vorteil sind jene, die auf eine innere Sicherheit oder eben flexible Persönlichkeitsstruktur zurückgreifen können.

Deshalb soll betont werden, dass flexible Stabilität, Kontinuität und Verlässlichkeit der äusseren Ordnung viel dazu beiträgt, dass ein Kind eine innere Stabilität oder eben Persönlichkeitsstruktur aufbauen kann: Die Sicherheit entsteht aus dem Glauben an die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, die Aufgaben, die ihm das Leben stellt, bewältigen zu können. Ist die Welt berechenbar, ist dies einfacher.

Essens- und Schlafenszeiten

Ein wichtiger Sicherheitsgeber ist ein ähnlich bleibender Rhythmus im Tagesablauf: Die Tagesstruktur. Deshalb wird Menschen mit schweren seelischen und geistigen Krankheiten zuerst Tagesstruktur angeboten als erster Schritt der Hilfe. Dasselbe gilt für Säuglinge und Kinder bis weit in die Schulzeit hinein. Von den physiologischen Bedürfnissen her sind Schlafrhythmus und Essensrhythmus eine der ersten durchgehenden Erfahrungen. Den kindlichen Rhythmus in Schlaf- und Essenszeiten zu unterstützen, ist daher sehr hilfreich.

Ein Kind und seine Familie müssen sich im Laufe des ersten Jahres gemeinsame Rhythmen aufbauen. Zu prüfen ist, ab wann das Kind z.B. Hungerspannungen wie lange bewältigen kann und wie sich alle Familienmitglieder gegenseitig eingewöhnen lernen. Die Vorstellung, Kinder ab Geburt strikt auf die Erwachsenenpläne festzulegen, halte ich für altersunangepasst und eine klare Überforderung aller. Sie bringen nicht nur den Kindern frühen Stress, sondern auch den Eltern.

Problematisch ist es anderseits, den Zeitpunkt zu verpassen, an dem diese Angleichung des Kindes an seine Umwelt lebensförderlich wird. Es geht um eine Kommunikationsfrage: Wie gestalten sie mit ihrem Kind das gegenseitige Einschwingen auf gemeinsame Rhythmen. Die Zeiten sollen resp. können sich nicht stur nach der Uhr richten, aber sie sollen im Lauf der ersten Wochen und Monate für das Kind abschätzbar werden: Wann kommt die Zeit und kann ich mich darauf verlassen, dass Nahrung, Linderung oder Tröstung kommen. Gut fährt man oft mit bestimmten Ritualen, die dem Kind signalisieren: Bald wird es so weit sein. Aufmunterung durchzuhalten und Tröstung während Wartezeiten, die sie langsam verlängern können, beruhigen den Stress. So helfen sie Frustrationstoleranz aufzubauen, die Zeitdauer also, in der dem Kin d möglich wird zu warten und dem inneren Druck standzuhalten.

Protest

Auf die Dauer kommt es nicht gut, wenn Sie sich über Jahre gegen Ihren eigenen Rhythmus resp. gegen jenen der Familie stellen und fast nur die Bedürfniskundgebungen des immer grösser werdenden Säuglings sehen. Er muss den Schritt zum Kleinkind vollziehen! Diesen macht er einerseits durch sein organisches Wachsen (mehr Durchhaltekraft z.B.), aber andererseits nicht ohne Hilfestellungen von aussen. Eine dieser Hilfestellungen sind Forderungen, die gegen seinen Protest durchgehalten werden. Dieser sollte zwar nicht gebrochen werden, aber das heisst nicht ihm rasch nachzugeben. Es ist eine besondere erzieherische Anstrengung, kindlichen Protest auszuhalten!

Eine – manchmal nicht leichte - Aufgabe ist, die Qualität des Protestes abzuschätzen: Merken sie, dass er berechtigt ist – also dass sie das Kind mit ihrem Verhalten noch überfordern -, müssen sie nachgaben. Kommen sie zur Überzeugung, das Kind sei fähig, die Forderung zu erfüllen, ist es gut, ruhig und bestimmt auf der Forderung zu beharren. Es darf protestieren. Sie und es können Protest aushalten. Es kann nicht immer alles nach eigenen Wünschen gehen, aber darüber klagen oder wüten ist nur natürlich und einfühlbar. Eine Anerkennung, dass Nachgeben schwierig und Verzichten schwer ist, kann Kindern helfen. Neben dem Schmerz über die eingetretene Niederlage muss es dann nicht auch noch mit dem Gefühl kämpfen, nicht verstanden oder überhaupt nicht geliebt zu sein.

Wer diese Spannungen nicht aushält, gerät leicht in Gefahr, den Protest des Kindes zu verhöhnen („eine kleine Welt verrückt“) oder als Angriff auf sich selber aufzufassen. Handgreifliches, aber auch symbolisches Zurückschlagen ist unangemessen. Ebenso unangemessen wäre aber auch das Zurückschrauben der Forderung, von der sie überzeugt sind, es dem Kind zumuten zu können.

Ritual und Rhythmus als Ordnung des zeitlichen Tagesablaufes bringen Struktur in die Persönlichkeit des Kindes und Orientierungsmöglichkeiten im Zusammenleben und schliesslich berechenbare Ordnung auch in die Lebenswelt der Kinder.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Erziehung, Pädagogik, Säuglingsalter, Schulalter, Bewusstsein, Motivation