Mythos Freiheit

Freiheit wird bei uns sehr hoch eingeschätzt. Anpassung oder gar Unterordnung ist neuerdings eher ein Unwort. In der Pubertät und Adoleszenz proben die Jugendlichen den Aufstand gegen die Bindungen in Familie und Gesellschaft. Der Ruf nach Freiheit kann aber auch illusionäre Vorstellungen wecken.

Freiheit ist der Kampfruf der Aufklärung und der französischen Revolution. Diese Bewegungen siegten gegen die Unterordnung unter die Kirche und die Königswillkür. Von Diktaturen haben wir uns im Westen glücklich befreit – mal abgesehen von beherrschenden Mode- und Meinungsdiktaten.

Über Jahrtausende galt auch bei uns eine andere Werteordnung. Unsere Umwertung alter Glaubenssätze wurde aber nicht weltweit mitgemacht. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich andere Kulturen fragen, ob der europäisch-amerikanische Weg wirklich gut sei.

Selbstbestimmung

Unser Schlüsselwert ist Selbstbestimmung – auch in der Erziehung. Was wir oft übersehen: Wessen Selbstbestimmung wollen wir?

Schon früh wollen Kinder ihre Wünsche durchsetzen. Heute akzeptieren wir das zumeist unangefochten – jedenfalls theoretisch. Nur stören wir uns dann an rücksichtslosen Forderungen, am Verletzen von Anstandsregeln und Gewalttätigkeiten. Sind wir also doch gegen Selbstbestimmung? Und was ist mit der Selbstbestimmung z.B. der AnwohnerInnen im Quartier neben dem Szenetreff?

Noch komplizierter wird es, wenn wir von der Selbstbestimmung der Völker reden. Gibt es überhaupt ein Land, in dem nur ein Volk lebt? Gibt es ein Volk, in dem alle dasselbe wollen? Der politische Westen unterstützt jeden auf der Welt, der behauptet im Namen der Freiheit sich gegen die eigenen Regierungen und Ordnungen zu stellen – jedenfalls solange es unserer Kultur fremde Staaten sind. Vielleicht erhält er sogar Waffen; denn solange er unsere Interessen vertritt, ist er ja ein guter Demokrat – oder?

Wenn wir jedoch schauen, was jeweils nach der „Befreiung“, also dem Sturz der alten Ordnung, geschieht, können wir bemerken, dass Freiheit und Ordnung (Geborgenheit und Bindung) in einer Wechselbeziehung stehen. Wie viele „Befreiungen“ führten in kurzer Zeit eine noch unfreiere Diktatur herbei? Wie viele versinken im Chaos? Das ist kein Zufall; denn Freiheit der Individuen gibt es nicht ohne eine Ordnung, die gerade diese Freiheit beschränkt!

Ordnung

Philosophen nennen diese Notwendigkeit ein Paradox, einen Widerspruch. Es tönt nach logischem Widerspruch, dass die Freiheit des Einzelnen einer Ordnung unterstellt werden muss, damit sie überleben kann. Nun lehren uns aber die Realität und die Geschichte, dass Befreiungen nie erfolgreich sind, wenn sie nicht durch das Wachsen neuer Ordnungen herbeigeführt werden. Das gilt auch im privaten Leben und in der Entwicklung zum berühmten „mündigen Bürger“ resp. zur „mündigen Bürgerin“.

Auch im persönlichen Leben führen Befreiungen (z.B. Trennung, Abhauen, „Aussteigen“) leider nur allzu oft zur Enttäuschung und in der Folge nicht selten zum Anschluss an autoritäre Gruppen (z.B. fundamentalistische mit ihren Idealen der Unterordnung, in Sekten). Das Ideal der Selbstverwirklichung, das bald Züge der gesellschaftlichen Isolation und Formen rücksichtsloser Egotrips angenommen hatte, endete meist nicht in Verwirklichung, sondern in persönlichen Bankrotten. Auch das ist nicht zufällig: Sobald es um Beziehung, Sicherheit und Geborgenheit geht, kann kein Individuum dies allein bewerkstelligen. Die meisten Menschen sind auf Beziehungen zu andern so sehr angewiesen, wie sie Luft und Nahrung brauchen. Wollen sie sich also selbst verwirklichen, müssen sie sich in die Lage bringen, mit andern Menschen gemeinsame Sache zu machen.

Ordnungsaufbau

Damit es im Zusammenleben nicht bei jeder Frage zu endloser Diskussion oder gar Streit kommt, sind länger andauernde Abmachungen notwendig. Im „Zweierticket“ geht dies mit privaten Abmachungen (und Gewohnheiten), die eine Grundordnung dieser Beziehung darstellen. Dieser Ordnung zuliebe wird verzichtet aus der gefühlten Erkenntnis heraus, dass die langfristige Sicherheit wichtiger ist als die kurzfristige Wunschbefriedigung.

Schauen wir über die Zweierbeziehung hinaus, müssen mehr Wünsche von (viel) mehr Menschen in ein Einvernehmen gebracht werden. Wer verzichtet auf was, und wem zuliebe tut er/sie das? Jeder Verzicht ist eine Einschränkung von Freiheit. Diesem Opfer steht der Gewinn von Berechenbarkeit und Sicherheit gegenüber. Dies gilt aber nur solange als die Gewähr besteht, dass die ausgehandelte Ordnung von Dauer ist. Solange lohnt sich Verzicht. Wird die Gültigkeit der Ordnung massiv in Frage gestellt, beginnt sich Verzicht nicht mehr zu lohnen.

Verantwortung

Wer garantiert die Aufrechterhaltung der Ordnung? Auf wen kann ich mich als Einzelne/r verlassen?

In der Zweierbeziehung ist es klar: Beide tragen dieselbe Verantwortung. Diese steht auf dem Fundament des gegenseitigen Vertrauens. Wird Vertrauen gebrochen, lockert sich die Kraft der miteinander vereinbarten Ordnungen. Die Partner fühlen sich nicht mehr an ihre Versprechen gebunden.

Je grösser die Zahl der Menschen ist, die einer Ordnung (z.B. der staatlichen) unterstellt ist, desto geringer empfinden die meisten Individuen eine Verantwortung für diese Ordnung. Und doch geht es auch hier in dieselbe Richtung. Eine Ordnung bleibt nur dann ein Garant für Sicherheit, wenn sich möglichst viele für deren Gültigkeit verantwortlich fühlen und sich deshalb auch daran halten.

Erstarrung

Ordnung schützt also gegen Chaos, vor der Willkür des Stärkeren und vor einer ungemütlichen Welt, in der jede/r für seine oder ihre Sicherheit selber sorgen muss. Darf aber niemand mehr die Ordnung in Frage stellen oder ist nicht organisiert, wie sie verändert werden kann, wird sie so unverrückbar und beherrschend, dass sie erstickend wirkt. Der Sicherheitsvorteil wiegt die Einschränkungen nicht mehr auf. Allein die Vergangenheit bestimmt noch die Gegenwart, so dass alles Leben zu erstarren und jede Entwicklung abzusterben droht.

Es entstehen Befreiungsbewegungen. An dieser Stelle entscheidet sich, ob Menschen in ihrem Alltag resp. Völker in ihrer historischen Entwicklung fähig sind, Ordnungen so umzubauen, dass sie neue Entwicklungen erlauben (Evolution) oder ob die Erstarrung so weit geht, dass nur ein Zerbrechen der bestehenden Regeln (Revolution) aus Sackgasse und Erstarrung führen.

Die Geschichte zeigt, dass Revolutionen oft nach kurzer Zeit wieder starre Ordnungen hervorbringen. Evolutionäre Prozesse, elastische Weiterentwicklungen bestehender Ordnungen, haben grössere Chancen, Freiheit auszuweiten und das Mass individuellen Verzichts ohne allzu grosse menschliche und materielle Verluste längerfristig zu begrenzen.

Dialektik des Lebens

Ordnung und Freiheit stehen also in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Der Mythos Freiheit lobt den einsamen Helden, der das Geschick seines Lebens und seiner Gemeinschaft in die eigenen Hände nimmt (der lonely cowboy, Bond, Superman, manche Prediger und Sektenführer). Gerade in Sekten sehen wir aber, wie rasch aus dieser Selbstbestimmung Unterdrückung und manchmal Sklaverei für jene Mitglieder werden, die nicht dem bestimmenden Klüngel angehören.

„Lonely“ geht es nicht. Freiheit geht immer auf Kosten anderer, wenn sie nicht in einen geordneten Rahmen gebunden ist. Hochbedeutsam ist nun, wer diesen Rahmen setzt und schützt und wer (alles) ihn verändern kann. Dazu hat „die Natur“ die Generationenfolge „erfunden“: Das Alte muss vergehen und dem Neuen Platz machen. Aber das Alte sollte Humus werden und nicht verseuchte Abfalllandschaft oder kriegsversehrte Ruinen.

Generationenfolge

Hier ist die Erziehung (und Selbsterziehung) Adoleszenter und junger Erwachsener gefordert. Die entwicklungspsychologische Aufgabe dieses Alters ist die „Befreiung“ aus der Herkunftsfamilie und die kreative Überwindung der Herkunft. Gefährdet wird Entwicklung, wenn sie meint, Zukunft nur mit Hilfe von Zerstörung des Bisherigen zu gewinnen.

Die junge Generation soll – nach unserer Freiheitsvorstellung – nicht mehr nach der Pfeife des Familienoberhauptes tanzen, sondern das Leben in die eignen Hände nehmen. Aber dieser Befreiungsschritt wird mit Unsicherheit erkauft. Das Verlassen der „alten Ordnung“ erhöht die Forderung nach Eigenverantwortung. Dies zu begleiten ist sehr wichtig; denn der Freude an der Freiheit steht nicht selten eine Überforderung der Selbstverantwortung entgegen. Wer in diesem Schritt die Verantwortung nicht selber übernehmen kann oder will, sucht sich Sündenböcke (oft die Eltern oder Lehrer). Familienfremde Ordnungsangebote werden bestimmend. Ein Angebot sind die Mode-Ordnungen, die verschiedene Industriezweige anbieten (Brustimplantate, Outfit, Drogen, Medikamente usw.). Der Freiheitsverzicht, der hier stattfindet wird oft nicht erlebt, weil der Taumel der Befreiung vom Bisherigen die Selbstbeobachtung benebelt.

In-Gruppe als Schutz

Ein anderes Angebot sind Gruppen, die sich als neue Ordnungen anbieten. Sie haben oft eine direkte Sogwirkung auf ein überfordertes Gewissen. Selbstverantwortung bedeutet eben, dass das eigene Gewissen die Richtschnur im künftigen Leben sein muss. Wer aber hat in der Adoleszenz bereits ein so sicheres Gewissen? Auch gilt es ja gerade, das andere auszuprobieren, Grenzen zu überschreiten. Die alte Moral muss getestet werden, sonst verfehlen die Jugendlichen ihre Aufgabe der Erneuerung.

Adoleszenz ist ein Wagnis wie das Ausschlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe, ein zerbrechliches Alter: Fester Zugriff erdrückt, schutzlos den Überfällen des Alltags und der Verführung ausgesetzt birgt es die Gefahr des Absturzes. Das müssen wir akzeptieren: Freiheit ist nicht nur schön. Sie ist auch riskant und anstrengend. Auch darüber sollten wir mit Adoleszenten sprechen – sowohl ermutigend als auch aufklärend -, damit sie nicht einem Mythos Freiheit verfallen, dem keine Wirklichkeit des Lebens entspricht.

Rudolf Buchmann

rb@praxis-buchmann.ch

Stichworte: Werte, Realität, Weltbild, Selbstbild, Adoleszenz