Challenge Erziehung

Erziehen ist eine Herausforderung. Gesellschaftlich hat sie einen unschätzbaren Stellenwert, steht aber derzeit nicht ihrer Bedeutung gemäss in der öffentlichen Diskussion. Ökonomische und naturwissenschaftliche Blickwinkel des menschlichen Verhaltens verdecken den Blick auf die geistigen und seelischen Fundamente seelischer Gesundheit und erzieherischer Aufgaben. Dies könnte ins Auge gehen.

Erziehen heisst eine neue Generation grosszuziehen. Der geschichtliche Wandel basiert einerseits auf dem Erkenntnisgewinn der „Erwachsenen“ und dessen Anwendung (mit allen Pannen und Konflikten dabei) und dem neuen Blickwinkel neuer Generationen. Für die Entstehung des „neuen“ Blickwinkels bildet Erziehung das Scharnier zwischen bisheriger „Weltordnung“ und zukünftiger Gestaltungsmöglichkeit. Erziehung entlehnt Ziele, Werthaltungen und Vorstellungen der Vergangenheit und verknüpft sie mit Fantasien, Hoffnungen, Wünschen und Werthaltungen, die die Zukunft bringen soll.

Der Sinn des Generationenwechsels

Im Erneuerungszyklus der Natur spielt der Kreislauf von Werden, Aufblühen, Früchte tragen und Abstreben/Vergehen eine zentrale Rolle. Obwohl innerhalb dieses Zyklus gerade beim einzelnen Menschen schon eine tüchtige Portion von Veränderungsfähigkeit und Wandel enthalten ist, ist das Entstehen von Neuem und das Anpassen an Neues nur durch den Generationenwechsel garantiert. Mit zunehmendem Alter steigt das Verständnis, aber es sinkt die Bereitschaft und die Fähigkeit grundlegend Neuartiges aufzunehmen, zu lernen und sich diesem anzupassen. Oft geht damit einher, dass die Bereitschaft sinkt, selber Neues aufzubauen, zu verändern, neu zu gestalten.

In der Biologie scheint es so zu sein, dass der Wandel (die Evolution) über Jahrhunderte Zeit braucht, um neue Formen hervorzubringen. Dies ist wohl gerade deshalb so, weil sich bei Pflanzen und Tieren die Individuen im Verlauf des Lebens nicht so gründlich verändern können wie wir Menschen. Die Anpassung an neue Umweltverhältnisse gelingt meist nur den Jungtieren. Ausgewachsene Tiere zu erziehen (d.h. zu verändern) ist kaum möglich. Das führt dazu, dass natürlicher Wandel nur gering im Individuum stattfindet. Die Evolution erfolgt hauptsächlich über die Ablösung der Generationen.

Bei Menschen können wir dies trotz viel grösserer und länger andauernder Veränderungsfähigkeit auch beobachten: Aus welchem Winkel der Erde ein Säugling auch kommt, er kann sich praktisch überall einfügen, kann alle Sprachen lernen, die ihm angeboten werden. Voraussetzung ist nur, dass er das Notwendige an Pflege, Zuwendung, Sicherheit und Kommunikation erhält. Erwachsene MigrantInnen haben es da viel schwieriger. Manchen fällt es leichter, andern schwerer; aber im Vergleich mit dem Säugling „sehen alle Erwachsenen alt aus“.

Erziehen als „Fortpflanzung“

Was auf biologischer Ebene die Erbanlagen ist kulturell und gesellschaftlich die Erziehung. Nur über Erziehung tradiert sich eine Kultur, ob das nun Sehgewohnheiten, Fingerfertigkeiten oder Umgangsformen, Brauchtum, Kunst oder Glaubensvorstellungen sind. Insofern können wir sagen: Erziehung ist eines der kulturell wichtigsten Zukunftsprojekte einer Gesellschaft. Genetisches „Übertragen“ in die nächste Generation sichert weder das Weiterleben noch die Weiterentwicklung unserer Kultur- und Gesellschaftsvorstellungen. Vor hundert Jahren glaubten einige Forscher noch an angeborene Ethik und Gewissen. Wir mussten uns in den grässlichen Erfahrungen der Kriegswirren im 1. Weltkrieg eines andern belehren lassen. Wer dafür noch einen Beleg brauchen würde, kann sich z.B. die Studien von Makarenko anschauen, der elternlos herumirrende Kinderbanden in Russland studierte (und ihnen eine neue Heimat gab). Sie belegen eindeutig, dass sich nur die „Moral“ physischer Übermacht durchsetzt, wo kein kulturell geleitetes Handeln den Menschen kultiviert. Dieses Handeln bezeichnen wir als Erziehen.

Moderne Erzieher in der Falle der „Gesellschaft“

Gesellschaftlich haben wir das grösste Interesse, dass Erziehen auf einem hohen Niveau stattfindet. Nun stehen aber gerade die gesellschaftlichen Ziele und die Wünsche an die Erziehung in unauflöslichem Widerspruch zueinander: Einerseits wird gewünscht, dass die Kinder flexibel, mobil und innovativ „gemacht“ werden. Andererseits sollen sie sich aber strikt (nach meiner Einschätzung immer strikter) an immer engmaschigere Regelungen und Gesetze halten können. Dieser Trend ist ablesbar an der stetig steigenden Regelungsdichte und dem Ausbau von Kontrollmechanismen (Stichwort: Qualitätskontrolle, Aufstockung von Polizei und Schutzorganisationen). Andererseits wird aber Ungebundenheit an Regeln, Traditionen und Orte verlangt. (Stichworte: Flexibilität, Globalisierung, ununterbrochene Umstrukturierungen). Der innere Gehalt dieser Forderungen heisst psychologisch übersetzt: Erziehung zur Wurzellosigkeit.

So wird verständlich, weshalb derzeit eine Auslagerung der Kontrolle aus dem Individuum in äussere Organisationen stattfindet. Statt Selbstbeherrschung, Solidarität, Zivilcourage, Beharrungsvermögen zu fördern, werden Kontrollorgane aufgebaut und mit zunehmender Machtbefugnis ausgestattet. Im Masse wie diese Werte für mitmenschlichen Umgang und Erziehung sinken, steigt das Bedürfnis nach Sicherung durch „die andern“; denn auf die „Erzogenheit“ der Mitmenschen, auf Fairness, Anstand, Ehrlichkeit ist nicht mehr Verlass. (Beispiele finden sich im Buch des Nachrichtenmoderators Ulrich Wickert: „Der Ehrliche ist der Dumme“). Dies ruft dann wieder nach dem Staatsschutz oder der eigenen Schutzorganisation; nach dem starken Führer auf dem Pausenhof z.B.

Da dieser gesellschaftliche Widerstreit nicht diskutiert wird, überlässt man die Durchführung generös den Eltern und der Schule. Positiv werte ich daran, dass für Kindheit und frühe Prägungen noch Vielfalt und Gestaltungsfreiheit bestehen bleiben darf. Das Regime der Reglementierung wird durch das Erziehungsrecht der Eltern beschränkt. Negativ daran ist, dass ihnen die Verantwortung für die Brüche und das fast notwendige Versagen der Erziehung überbürdet wird.

Verwurzelung erwünscht?

Wir haben Süchtige erzogen, wir haben menschliche Kampfmaschinen und Leute erzogen, die über Leichen gehen – und sogar sagen, dass das für den Fortschritt notwendig sei (und trotzdem den Nobelpreis bekommen). Wir haben Verschwender und Terroristen erzogen. Sicher haben wir auch Hilfsbereite, Aufopfernde, Verantwortungsbewusste erzogen. Natürlich sind es nicht dieselben Eltern und dieselben Schulen, die die verschiedenen Charaktere hervorbringen. Hinter vielen Störungen und Problemen moderner Menschen steht nicht zuletzt der Glaube, dass „Entwurzelung“ als natürliche Folge der Entwurzelung des Kapitals auch zum Erziehungsziel erklärt werden müsse. Dieser Trend führt zu grossen kulturellen und gesellschaftlichen Konflikten.

Der Auftrieb fundamentalistischer Kreise – nicht nur im Islam! – zeigt, dass die Entwurzelung Menschen emotional überfordert. Intellektuell können einige Erfolgreiche diesen Zustand wohl eine Zeit lang aushalten und materiell profitieren – bis zum „burn out“.

Jenen Ökonomen, die die Beschleunigung der Flexibilisierung fordern und weitertreiben, sind wohl die psychischen Mechanismus nicht bekannt. Ich will ihnen nicht Verantwortungslosigkeit unterstellen. Ihr Menschenbild ist – wie sie auch immer dazu gekommen sind – jedenfalls wenig realistisch. Ihnen kommt der Denkansatz der Genetiker entgegen: Wenn die Gene unser Verhalten in überwiegendem Masse steuern, kann man auf Verwurzelung am stabilen Lebensort und auf Gesellschaftstraditionen weitgehend verzichten. Die Bedeutung der Erziehung schrumpft massiv. (Dass Erziehung die Gene beeinflusst, ist zwar keineswegs widerlegt, wird aber nicht öffentlich diskutiert.)

Erziehung und Politik

Wie auch immer: Bedeutung und Stellenwert der Erziehung hängen wesentlich vom Menschenbild ab, das eine Gesellschaft pflegt, resp. unter konkurrierenden Menschenbildern auswählt. Gegenwärtig ist das somatisch-naturwissenschaftliche Menschenbild immer noch im Vormarsch – wohl als dialektischer Gegenschlag zum übertriebenen Glauben an die reine Erziehbarkeit („Machbarkeit“) des Menschen vor 2 – 3 Jahrzehnten. Genen wird die Allmacht über das Verhalten des Menschen zugeschrieben. Biologische Eingriffe zur Verhaltenssteuerung und Angepasstheit der Kinder erhalten immer mehr Anhänger. Mit der chemischen Regulierung (Beruhigungsmittel, Aufputschmittel, Hormonpräparate gegen Veränderungen der Stimmungslage bei Alterungsprozessen usw.) reduzieren wir die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, die gesellschaftlichen Verantwortlichkeit der Mitmenschen und die erzieherische Verantwortlichkeit der Eltern und der Lehrer. Wir nehmen ihnen die Belastung für ihre Verantwortung ab, zugleich sinkt aber auch ihr Gewicht, ihre Selbstsicherheit und ihr Vertrauen in ihre Einflussmöglichkeiten und ihre Erziehungsmitteln.

Die Medikalisierung der Erziehung führt unbemerkt auch zu deren Entwertung. So senken wir indirekt den Einfluss der Erziehung auf die nächste Generation, in dem wir Kompetenz und Autorität der Eltern und Lehrer im öffentlichen Urteil reduzieren. Sozial- und Leistungsnormen werden an diagnostisches Personal delegiert. „Behandlung statt Erziehung?“

Mit der Schwächung und dem Verantwortungsverlust der Erziehenden reduziert sich auch ihr politisches Gewicht; denn Erziehung bestimmt die Ansichten und Einsichten künftiger Stimmbürger. Wird mein Erziehungserfolg, dass sich Sohn oder Tochter nicht alles bieten lassen, zum Defekt und Verhaltensstörung erklärt, muss ich ihn wegtherapieren lassen oder medikamentös unterdrücken.

Eine wichtige Frage ist hier: Wer setzt die Norm. Wer sagt, was normales Verhalten ist?

Auf diese Problematik gehe ich im nächsten Heft unter dem Titel Behandeln oder Erziehen? ein.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Elternschaft, Eziehen, Generationenwechsel, Gesundheit