Behandeln oder Erziehen?

Im letzten Heft sprach ich von der Bedeutung des Generationenwechsels für den Wandel in Kultur und Gesellschaft. Veränderung und Neuerung nimmt Gegenwart und Vergangenheit zwar als Ausgangspunkt, zielt aber grundsätzlich auf Überschreitung der geltenden Regeln und auf Umwälzung der gegenwärtigen Verhältnisse.

Der Generationenkonflikt ist nicht eine gesellschaftliche Störung oder eine innerfamiliäre Panne, sondern ein wichtiger Motor in der Evolutionsgeschichte. Für manche mögen die Veränderungen zu schnell gehen. Die neue Generation muss sich aber auf veränderte Verhältnisse einstellen. In sehr veränderungsträgen Gesellschaften (was ich nicht wertend meine) kann sich Veränderung Zeit lassen: „Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen“ war in einzelnen Epochen (vielleicht?) möglich. Niemand wird bestreiten, dass sich die Änderungen heute so rasch vollziehen, dass manchmal Kinder bereits ihre Lehrer überholen bezüglich Kenntnisse und Handhabung moderner Techniken.

Wie begegnen wir Erziehenden, Eltern und Lehrer dieser Tatsache?

Gegensatzpaar der Ideale

Es gibt einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen konservativer und progressiver Weltanschauung. Konservative Ideale zielen auf den Erhalt des Status quo: Der derzeit gültige Normen und Verhältnisse sollen bleiben. Vertreter der konservativen Linie behaupten oft, dass ihre Vorstellungen sich schon immer bewährt hätten; dass Schwierigkeiten und Störungen hauptsächlich daraus entstünden, dass nichts mehr so gelten solle, wie es bisher war. Über viele Zeitalter war diese Vorstellung massgeblich für weltliche und religiöse Erziehung, für die Staatsorganisation und die Gesellschaftsordnung. In vielen Gegenden der Welt ist diese Sichtweise auch heute vorherrschend.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Europa und Amerika eine Gegenthese: Das wirklich Gute ist der Fortschritt, d.h. die Veränderung. Alles wird besser, wenn es sich ändert. Überleben kann nur, wer innovativ ist. Die technischen und medizinischen Errungenschaften, die diesem Glauben entspringen, sind nicht zu übersehen. Auch gesellschaftliche und mithin erzieherische Utopien wurden entwickelt. Ich verwende das Wort „Utopie“ nicht in der abwertenden Bedeutung von Hirngespinst. Utopisches Denken befasst sich mit möglichen Zukunftsszenarien, wie sich der aktuell beobachtbare Wandel auswirken könnte und wie er beeinflusst werden kann. Es geht in Utopien um Modellvorstellungen, wie die Zukunft menschlichen Zusammenlebens aussehen und sich verbessern könnte. Demokratie, wie sie sich in den letzten 200 Jahren in der Schweiz entwickelt hat, war zunächst eine „reine Utopie“ der liberalen Denker gewesen, d.h. der Freiheitsfanatiker, der Vordenker der französischen Revolution und den Nachfolgern ihrer Ideale.

Ohne Utopie

Fast alle Eltern haben ihre Utopien bezüglich ihrer Kinder. Sie fantasieren aus, in was für eine Stellung oder Situation sie diese gerne sähen. Sie bilden sich Hoffnungen und machen sich Sorgen, in welche Welt hinein sich diese entwickeln müssen. Sie denken voraus. Und das hilft den Kindern: Es gibt ihnen Perspektiven, auf die hin es lohnt sich anzustrengen. Sie machen sich selber Utopien und im Austausch mit den Vorstellungen der Eltern entwickeln sich Projekte, Lebenspläne und – es sei nicht verschwiegen – auch Illusionen.

Utopien haben es an sich, dass sich die Entwicklung nicht präzis nach ihnen richtet. Fast notwendigerweise gibt es Enttäuschungen und Frustrationen. Spricht dies dafür, auf Utopien zu verzichten, sie lächerlich zu machen oder „Idealisten“ doof zu finden. Was Erfindergeist im technischen Bereich, sind Utopien im gesellschaftlichen und kulturellen Leben

Am Beispiel der Liberalen sollten wir uns bewusst machen, dass zu ihrer Zeit als weltfremde Utopisten bezeichnete Denker manchmal – nicht immer – von der Nachwelt als Wegbereiter der neuen Zeit und somit als grosse Realisten zu bezeichnen sind. Und umgekehrt: Hätte es die Utopisten nicht gegeben und hätten sie sich für ihre Vorstellungen der Zukunft eingesetzt, wäre die aktuelle Realität auch nicht so geworden, wie sie heute ist.

Wer bestimmt die Spielregeln

Was als normales Verhalten gilt, ist also ein Prozess ständiger Veränderung. Würden wir „hochgestellten“ Personen noch so begegnen, wie dies noch vor fünfzig Jahren gang und gäbe war, würden wir uns lächerlich machen. Gestelzt, verschroben, abnormal wäre, was damals ein Mindestmass an Anstand war.

Wenn Erziehen ein Zukunftsprojekt ist, stellt sich die wichtige Frage: Was wird in den nächsten Jahren normal sein? Wer bestimmt das?

Eltern und Lehrern ist in den letzten Jahrzehnten ein einflussreicher Miterzieher erwachsen: Die Unterhaltungsmedien. In elektronischen Spielen und Fernsehfilmen werden Kindern Umgangsformen vorgeführt, die sie zum Modell nehmen. Ich erwähne beispielhaft nur die Allgegenwärtigkeit von gewalttätigem Umgang, von Machtverherrlichung, die Sexualisierung der Geschlechterbeziehung und die „fröhlicher Entwertung“ des Fremden, des Unbekannten und Andersdenkenden bis hin zum „Kampf der Kulturen“. Erhellend ist z.B. nur schon, wer als böser Gegenspieler von James Bond auftritt: Schon lange vor den Anschlägen in New York wandelte er sich vom sowjetischen geheimdienst zum machthungrigen, anonymen Terroristen. Mitmenschlicher Umgang, der vor einigen Jahrzehnten noch die Jugendschutzbehörden auf den Plan gerufen hätten, sind schon kleinen Kindern mehr oder minder frei zugänglich.

Mit Verbieten und Schutzbehörden haben wir die Entwicklung kaum verlangsamen, schon gar nicht aufhalten können. Einige Kreise wollen das auch gar nicht, sondern sehen darin Fortschritte der Freiheit.

Störend, gestört?

Ab wann ist ein störendes Verhalten als Störung des Kindes zu werten? Manchmal stellt sich die Frage, ob das mangelnde Interesse und die ständige innere Abwesenheit eines Kindes ein „gesundes“ Wehren im Sinne des Generationenkonfliktes ist gegenüber veralteten, unsinnigen Forderungen. Oder ist das Beharren auf Gerechtigkeitsidealen eine Unbotmässigkeit, Undiszipliniertheit oder gar Verhaltensstörung? Wäre Gleichgültigkeit gegenüber dem sozialen Geschehen in einer Klasse normaler?

Wenn verschiedene Menschen „nicht miteinander können“, sich aber nicht ausweichen dürfen, weil sie z.B. einer bestimmten Klasse zugeteilt sind, entstehen naturgemäss Konflikte. Eskalieren sie in Gewalt, in Schlafstörungen oder geht ein Kind „in die innere Emigration“, müssen wir als Erziehende eingreifen. Wessen Störung aber Ursache für diese Entwicklung ist, ist oft nicht leicht zu bestimmen. Oftmals ist dies eine falsche Fragestellung. Ohne Zweifel: Das Kind braucht Hilfe; aber die Erziehenden auch!

Oft geht es im Kern um grundlegende Differenzen von Werthaltungen, mithin um philosophische Konflikte. Die Weltanschauung des Kindes sträubt sich gegen die geforderte Anpassung.

Behandeln oder Erziehen?

Wie gehen wir mit solchen Konflikten um?

Wir können das Kind „behandeln“ in dem Sinne, dass wir die Anpassungsfähigkeit des Kindes zu fördern suchen, resp. seine Widerstandskraft schwächen: Die störenden Symptome sollen verschwinden. Wir geben Schlaftabletten oder Beruhigungshormone, damit sie stillsitzen können. Ziel ist, sich einfügen in die geltenden Normen. Damit unterstützen wir dann die konservative Haltung, wenn wir nicht nach dem Sinn des Konfliktes (der Störung) suchen, sondern annehmen, dass Anpassen und Einfügen das Sinnvolle und Normale ist.

Diese Behandlungsformen gewannen an Beliebtheit, lassen aus der Perspektive des Wandels aber grosse Fragezeichen auftauchen. Ist das derzeit Gültige so gut und dauerhaft, dass es konfliktfrei aufgenommen werden muss? Oder haben wir nicht verlernt resp. nie gelernt das kreative Potential von Konflikten zu nutzen.

Hier beginnt für mich Erziehung und Bildung, die über das blosse Vermitteln von bestehendem Wissen hinausgeht. Erziehen ist Auseinandersetzung mit dem Konflikt und den eingebundenen Kontrahenten. Erziehung kann sich heute nicht mehr darauf beschränken, Forderungen gegen abweichende Einsichten gewaltsam durchzusetzen.

Dabei ist trotz allem Standhaftigkeit der Erziehenden gefragt, das dem bequemen vorschnellen Nachgeben widersteht. Nachgeben, um der Kontroverse auszuweichen, ist auch kein sinnvoller Umgang mit Konflikten. Auch mit dieser Reaktion würde das kreative Potential verscherzt. Standhaftigkeit setzt Sicherheit gegenüber dem eigenen Standpunkt voraus. Woher beziehen wir sie?

Die Hilfe der Wissenschaft

Hier besteht eine grosse Verwirrung. Das Setzen von Werten, z.B. welche Umgangsformen gelten sollen, ist kein wissenschaftliches Unterfangen. Deshalb kann es auch an keine Forschung abgetreten werden, sei diese psychologisch, biologisch-medizinisch oder gar chemisch. Die Verhaltensforschung kann uns wohl die Variabilität der Umgangsformen in der Tierwelt beschreiben. Dies kann sehr erhellend sein. Sie kann damit aber noch nicht einmal sagen, was „natürliches“ Verhalten ist, geschweige denn, was menschlich angemessen wäre. Dasselbe gilt für die vergleichende Völkerkunde, Kulturwissenschaften, Psychologie, die menschliches Verhalten beschreiben. Wohl können wir von diesen Wissenschaften erfahren, was alles menschenmöglich ist. Da bekommen wir aber alles serviert: Vom harmonischen Zusammenleben bis zum bestialischen Vernichtungskampf, vom konstruktiven Dialog bis zur destruktivsten Zerstörungswut. Möglich ist fast alles. Was ist normal?

Es ist auch keine Aufgabe des Arztes oder des Psychologen, dies zu bestimmen. Was sie uns sagen können, ist welche körperlichen und seelischen Reaktionen bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse bei vielen Menschen (der statistischen Mehrheit) auslösen. Wir wissen z.B., welche Probleme zu erwarten sind, wenn Übergriffe erlebt worden sind oder tiefe Beschämungen das Weltvertrauen zerstören. Ob wir solches Verhalten aber einsetzen dürfen, sagt uns die Wissenschaft nicht. Unrühmliches Beispiel dafür ist, dass medizinische und psychologische Kenntnisse auch zu Folterzwecken eingesetzt werden können und – von ausgebildeten Menschen im vollen Bewusstsein, was sie da tun – eingesetzt werden!

Bedeutung des Menschenbildes

Alle normativen (wertenden) Aussagen (was normal und was krank ist z.B.) beziehen ihre Gültigkeit aus dem dahinterliegenden Wertesystem. Sie stammen nicht aus der Ebene des Beschreibens der Zusammenhänge, das der Naturwissenschaft zugänglich ist, sondern aus der Ebene der dahinterliegenden Menschenbilder. Vielen ist ihr eigenes Menschenbild nicht bewusst. Viele gehen naiv davon aus, dass für alle gleich und global gültig sei, was sie sich – oft wenig bewusst – zurecht gelegt haben. Da fordern uns Kinder manchmal massiv heraus: Menschenbilder (die Vorstellungen also, was der Mensch ist und das Menschliche ausmacht) müssen philosophisch, religiös und – bei uns – politisch ausgehandelt werden: Wollen wir Kampfmaschinen? Wollen wir perfekt eingepasste Funktionäre? Wollen wir den Maschinen angepasste Wesen, die in der Lage sind sich der Automation unterzuordnen? Wollen wir selbständige und selbstbewusste Gestalter ihres eigenen Lebensweges? Wollen wir einfühlsame und hilfsbereite „Gruppenmenschen“? Vieles davon ist menschenmöglich, aber was ist unsere Wunschvorstellung? Was ist normal? Heute? Und was ist unsere Utopie für morgen?

Dies sind Fragen, die wir auch mit Kindern diskutieren müssen. Dies ist Erziehung. Hier liegt der „Challenge“: Die eigene Gestaltung der Erziehung im Spannungsfeld der sich ändernden Forderungen und Revolutionen der Werthaltungen durchzuhalten, ist eine gewichtige und schwere Arbeit.

Behandlung kann Erziehung unterstützen, wenn sie zum Ziel hat, in der Verwirrung des Alltagsgeflechtes einen Überblick zu gewinnen, den eigenen Einfluss zu erkennen und eigene Standpunkte dazu zu entwickeln. Im Erkennen des Zusammenspiels der Kräfte kann Behandlung Menschen massgeblich fördern. Wo sie aber nur angepasst machen will, wird sie dem Einzelnen und der Zukunft manchmal mehr schaden als nutzen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Störungsbilder, Gesundheit, Erziehen, Pädagogik