Trotzen

Trotzen hat einem Lebensabschnitt seinen Namen gegeben: Das Trotzalter. Es ist doppeltwertig: Ein Trotzkopf – ob in der Politik oder als EhepartnerIn – ist manchmal sehr unangenehm oder gefährlich. Die Fähigkeit Widerstand zu leisten, ist aber andererseits ein wichtiges Instrument zur Lebensbewältigung.

Welche Eltern kennen sie nicht – die mühsamen Trotzszenen: Komm Toni, wir gehen jetzt! – Nein! – Aber du hast doch selber .... – Nein! – Ich kauf’ dir dann auch etwas – Nein!! – Eine Überraschung – Nein! – Tu’ nicht so blöd, komm’ jetzt! (Erhöhte Stimmlage) – Nein!!!! – Jetzt ist aber Schluss! Sofort kommst du! – Nein!!! (erhöhte Stimmlage). – Sonst musst du ohne Essen ins Bett! – Geheul! – Du kannst selber wählen, kommst du jetzt oder nicht! – Nein! du Blöder! – und so weiter, und so weiter bis beide toben oder heulen, bis Schläge fallen mit oder ohne Fusstritte des Kleinen. Dann kommt die Mutter dazu: Aber Tonilein, was ist denn? Komm’ wir gehen! – Klar!

Man kann nicht sagen, dass sich hier der Vater resp. die Mutter nicht alle Mühe gegeben haben. Es könnte auch sein, dass keine Mutter dazu kommt oder ihr Auftreten nicht beruhigend wirkt. Es könnte z.B. auch zu einem Streit zwischen den Eltern kommen. Trotzanfälle sind meistens für alle Beteiligten und für Umstehende hoch emotionelle Ereignisse, die manchmal kürzer, manchmal aber auch lange nachwirken.

Mutter’s „Wunder“

„Will“ Toni „wirklich“ nicht zu den Einkäufen mitkommen? Hat er etwas gegen das Weggehen? Bei der Mutter ist er sofort bereit. Aha, hat er etwas gegen den Vater? Am Ende der Szene vielleicht schon. Die Weiche stellt sich, wenn der Vater ihm sagt, er solle nicht so blöde tun. Jetzt kann Toni nicht mehr zurück, wenn er sein Gesicht nicht verlieren will. Vater und Sohn sind in die Falle „Ehrensache“ getappt, aus der sie allein nicht mehr herausfinden. Wer jetzt nachgibt, hat verloren und muss sich schämen. Der Mutter, zumal sie mit besorgtem Ton auf Toni zukommt, kann er sich leicht unterordnen und ist froh, dass sie ihm einen Ausweg aus der Falle öffnet.

Die Rollenverteilung ist oft auch umgekehrt, wenn der Vater nach einem anstrengenden Erziehungsalltag der Mutter nach Hause kommt und als „Erlöser“ die unlösbaren Konflikte im Handumdrehen aus der Welt schafft. Es ist meist nicht das Verdienst oder die Grossartigkeit des Herrn Papa, der diese Wende schafft, wie wir uns das fälschlicherweise als Verdienst an den Hut stecken, oder wie Mutter und Kind das fälschlicherweise neidisch glauben. Es ist oftmals einfach die Tatsache, dass der bisher Unbeteiligte frei an die Sache herangehen kann und – wenn er sich nicht in den Streit hineinziehen lässt – diesem die emotionelle Brisanz nimmt.

Gefahr Elternneid

Zu warnen ist vor dem Neid zwischen den Eltern: Nur zu verständlich ist es, wenn der „unterlegene“ Teil neidisch auf den andern blickt, der Zustimmung und Wohlwollen des Kindes so leicht erringt. Wie rasch ist eine Familie nach Trotzanfällen in eine Drei-Ecks-Geschichte gedrängt, die nicht immer harmlos ausgeht: „Bei dir sagt er halt immer ja! Du verziehst ihn auch!“ – „Quatsch, wenn du ihn nicht so hart anfassen würdest....!“ - Oder: „Ich geb’s auf. Auf mich will er nicht hören, mach’ du in Zukunft ... „ Neben der Variante Elternstreit gibt es auch die Variante „Rückzug der beleidigten Leberwurst“. Beide Varianten sind mehrfach schädlich.

Erstens sind Eltern, die sich nicht über die Situation stellen können, sehr gefährdet für Manipulationen und Intrigenspiele der Kinder. Deren Intrigieren ist kein moralischer Defekt, sondern das Natürlichste von der Welt: Wenn durch Ausspielen der Erwachsenen ein Vorteil für das Kind lockt, ist es zunächst nur ein Zeichen von Intelligenz, wenn das Kind zu dem Elternteil betteln geht, von dem es sich Zustimmung erhoffen kann. Lassen sich Eltern dadurch aber auseinander bringen, wird nicht nur ihre Beziehung beschädigt, sondern letztlich auch das Fundament, auf dem das Kind seine Entwicklung bauen soll.

Zweitens wird ein Kind früher oder später tiefe Schuldgefühle entwickeln, wenn es bemerken muss, wie seine Kämpfe die Eltern auseinanderbringen. Vielleicht baut es das Selbstbild auf, dass es ein Unheilstifter und ein böser Mensch ist.

Worum geht es?

Der Film Aristocates endet wie alle Disney-Filme mit der Schrift „The End“ auf der Leinwand. Dann erscheint in diesem Film aber nochmals der Kater, der sich im Stück immer als Führer aufgespielt hat und sagt: „I’m the leader, I’m saying, when it’s finished! – Finished!“ Über die Szene können wir lachen, weil sie so aus dem Leben gegriffen ist und jede und jeder sich an solche Szenen erinnert. Der Kater ist lächerlich, weil er etwas „befiehlt“, über das er gar keine Macht hat. Aber er macht zugleich eine starke Figur, weil er nicht einfach bereit ist, sich dem Schicksal oder höheren Mächten widerstandslos unterzuordnen. Er trotzt dem Regisseur, der natürlich viel stärker ist als er. Er gewinnt ein, zwei Sekunden, in denen er sich in Szene setzen kann. Auch wenn der Verlauf nicht abwendbar ist: Er markiert nochmals seinen Führungsanspruch.

Tatsächlich geht es im Trotzen darum, wie mit dem Problem Macht gegen Ohnmacht umgegangen wird. Im Trotzen entwickelt das Kind ein tiefsitzendes Gefühl über seine Stärke und seine Schwäche. Was es im Trotzen erlebt, prägt sein Selbstbild über seine Einflusskraft und „erzieht“ seine Einflussstrategien. Es beobachtet dabei auch den Umgang der Erwachsenen mit Macht, Anspruch und Willenskraft. Wer gibt zuerst nach? Ist das Nachgeben ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche? Ist Nachgeben Sanftmut oder grollender Rückzug, Selbstverschluss oder fröhliche Befreiung, wenn nach hartem Ringen beide Seiten über die bestandene Probe erleichtert aufatmen oder gar lachen?

Führungsanspruch

Im Trotzen geht es um den Führungsanspruch. Ist der Anspruch schlecht? Frühere Erziehungsbücher rieten, den Trotz zu brechen. Dem Kind müsse gezeigt werden, wer Herr im Hause ist. (Von Frau im Haus wurde eher nicht gesprochen!) Wenn das wirklich das Ziel der Eltern ist, handelt es sich um einen guten Rat. Nur soll dann nicht erwartet werden, dass das Kind später eine selbstsichere, initiative und verantwortungsbewusste Persönlichkeit wird.

Sollen wir also das Kind in der Familie herrschen lassen, wie es sogenannt antiautoritäre Ratgeber empfahlen? (Die geistigen Eltern der antiautoritären Idee haben dies allerdings nicht so gemeint!) Dieser Rat hat vielen Eltern einen bequemen Rückzug in Passivität erlaubt, den ich als äusserst gefährlich ansehe. Nicht selten ist daraus beinahe verwahrlosende Unaufmerksamkeit von Eltern gegenüber den kindlichen Bedürfnissen geworden. Auch diese Linie bringt keine selbstsicheren Menschen hervor, sondern solche, die hilflos der eigenen Gier ausgeliefert, anspruchsvoll gegenüber der Gesellschaft auftreten und den Anforderungen der Realität kaum gewachsen sind.

Macht und Ohnmacht

Niemand soll die Macht kleiner Kinder unterschätzen. Aber ihre Macht liegt hauptsächlich in der Verweigerung – und in der Verführung. Verführung belässt aber die Machtverhältnisse oberflächlich bestehen: Die Eltern werden darin als die Mächtigen anerkannt.

Im auftrumpfenden „Nein!“ wird die Macht der Eltern auf die Probe gestellt. Und tatsächlich - bei einer inständigen Verweigerung muss die Macht des Ohnmächtigen anerkannt werden. Das ist die Strategie des zivilen Ungehorsams, mit der der Inder Gandhi sein Land von der Unterjochung der gewaltbereiten Engländer befreit hat. Gesiegt hat der, der die Gewalt vermeiden konnte und die Herzen gewann! Auf Dauer kann Gewalt keine Macht aufrechterhalten, höchstens vorübergehend gewinnen.

Dies gilt auch in der Erziehung. Die Kunst der Eltern ist, sich ihrer eigenen Ohnmacht bewusst zu sein und sie auszuhalten. Der Trotzkampf ist verloren, wenn sich die Eltern dem Kind als die Mächtigen präsentieren, die alles durchsetzen können. Ich selber glaube aber nicht an die Möglichkeit völlig herrschaftsfreien Umganges. Trotzen, Siege und Niederlagen sind nicht zu vermeiden. Es geht darum, die Kooperation des Kindes auf lange Sicht zu gewinnen. Nur wo das Kind merkt, dass es in seiner Ohnmacht nicht verachtet wird und die Eltern über ihre eigene Ohnmacht nicht verzweifeln, lässt sich ein partnerschaftliches Miteinander entwickeln. Nicht hilfreich sind da etwa Sprüche wie „Da ist aber eine kleine Welt wütend!“ Im Machtkampf Verlieren-können muss auch ehrenhaft sein. Das können die Eltern dem Kinde vorleben, z.B. in ihren eigenen Auseinandersetzungen um unterschiedliche Interessen und Meinungen.

Guter Rat ist billig

Je nach Situation haben die Eltern allerdings nicht viel Zeit oder Nerven sich auf endlose Debatten einzulassen. Auch gibt es für Eltern oft Zwänge, etwas zu verlangen und durchzusetzen. Da gilt es manchmal, das Kind mitzuschleppen oder vom Strassenrand wegzureissen und das folgende Geschrei zu ertragen. Ertragen heisst Aushalten, ohne sich in Wut abzureagieren oder in empörte Abwendung und Kälte zurückzuziehen.

Es bleibt der Trost, dass vernünftige Nachbarn und Menschen, die etwas von Kindern verstehen, Eltern mit trotzschreienden Kindern nicht verachten oder verhöhnen. Auch mit guten Ratschlägen sind sie nicht zu überhäufen, weil sie sich oft schon elend genug fühlen, wenn das Geschrei im Supermarkt oder im Bus anhebt.

Das Trotzalter ist eine wichtige Zeit und die Kämpfe können je nach Temperament ganz schön „an die Nieren“ gehen. Jede Situation ist zudem anders, so dass alle „Rezepte“ falsch sind. Wir wissen, Eltern und Kinder müssen da durch. Es ist psychologisch auf die Zukunft gesehen günstiger, wenn sich ein Kind getraut zu trotzen und seinen eigenen Standpunkt nicht so leicht aufgibt. Besonderes Glück hat es, wenn seine Eltern in der Lage sind, emotional in die Auseinandersetzung einzusteigen, ohne daran zu Zerbrechen oder Achtung und Selbstachtung zu verlieren. Ich weiss: Eine hohe Anforderung!

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Familiendynamik, Kleinkindalter, Wille, Weltbild, Intelligenz