Trotz - oder unvereinbare Standpunkte
Trotz ist eine sehr ambivalent gewertete Verhaltensweise. Als Standhaftigkeit und Wehrhaftigkeit wird sie positiv gesehen. Als Widerstand gegen erzieherische Anstrengungen oder gegen „vernünftige Argumente“ hat Trotz – trotz den trutzigen Eidgenossen – wenig Sympathie.
Im Laden stehen die Süssigkeiten nahe bei der Kasse, vor der man lange anstehen muss, sich langweilt und so genau Zeit hat, um so richtig nach allem Schönen Lust zu entwickeln: Lust auf Konsum als Ersatz für die aktuelle Einschränkung jeder anderen Aktivität.
Auch die Mutter ist gelangweilt und leicht ärgerlich, dass es so lange dauert. Sie könnte die Zeit wirklich anders gebrauchen. Die ausgestreckte Hand des Kindes im Einkaufswagen reicht gerade nicht bis zum Gestell. Es bettelt um einen Zuckerstengel. Nein, es gibt schon bald Mittagessen, und Zuckerstengel verdirbt den Appetit. Die Forderungen des Kindes werden heftiger und die Schlange vor der Kasse nur langsam kürzer. Die Zurückweisung der Bettelei wird heftiger. Der Ärger bezieht sich langsam auch auf das Verhalten des Kindes. Nicht der Wunsch des Kindes allein ärgert, die Beharrlichkeit des Kindes ärgert noch mehr.
Endlich ist die Kasse erreicht. Aber zum Missfallen der Mutter stimmt erstaunlicherweise die alte Kinderstubenweisheit "aus den Augen, aus dem Sinn" nicht. Das Kind quängelt weiter. Weshalb? Es ist etwas Zusätzliches, was es reklamiert. Nicht mehr der Zuckerstengel steht im Zentrum seiner Attacken. Vielleicht ist er schon "aus dem Sinn". Aber das Abweisen seines Wunsches ist ihm geblieben, und die Mutter ist ja noch da. Die Mutter ärgert sich genauso, wie sich das Kind ärgert. Folge: Wutausbruch beidseits. Das Kind beschliesst, der Mutter auch nichts zuliebe zu tun, was die Mutter höchst ungerecht findet. Sie schwankt. Wäre es nicht einfacher, einen Zuckerstengel oder nur einen Ersatz dafür zu kaufen und den Frieden wiederherzustellen?
Lernen, Spannungen zu ertragen
Die Jugendliche will abends frei sein, wann sie nach Hause zurückkehren wird. Der Vater bestimmt - nach Rücksprache mit der Mutter - eine vernünftige, sogar grosszügige, sehr tolerante Zeit. Aber einerseits ist die Zeit viel zu früh, und andererseits will sie sich überhaupt nicht auf eine Zeit festlegen lassen. Immer diese dumme, völlig veraltete Angst der Eltern! Immer verderben sie die Freude. Sie haben überhaupt kein Vertrauen, sind überhaupt selbstsüchtig und verständnislos. Gerade das darf man aber diesen Eltern nicht vorwerfen. Im Gegenteil, sie geben sich Mühe, sie sind besonders tolerant und vertrauensvoll. Aber nach dieser Attacke sind sie wütend. Wenn die Tochter das grosse Bemühen der Eltern nicht einsehen kann, dann sehen sie sich schon gar nicht mehr veranlasst, noch weiter auf die Wünsche der "Frau Tochter" einzutreten. Wie wenn sie vorher bereitgewesen wären! Wutausbruch beidseits.
Nachgeben um des Friedens willen?
Aber! Aber! Weshalb denn gleich Streit; man muss halt reden miteinander! Die Ebene oder die Taktik verlagert sich: Es wird jetzt verbal gefochten oder flattiert, geworben und überzeugt. Aber alles hat eine Grenze: Die Tochter muss doch einsehen, dass für ihr Alter die Zeitgrenze ein sehr generöses Angebot ist. Nein, vielmehr müssen die Eltern einsehen, dass sich die Zeiten geändert haben. Dass man heute Töchter nicht mehr als kleine Mädchen zu Hause einschliesst. Aber das ist doch ein völlig ungerechtfertigter Vorwurf. Wer will denn das? Wir sicher nicht! (Langsam schleicht sich eine Ungewissheit ein: Sollen sie nicht lieber nachgeben und den Frieden wiederherstellen?)
Ja, wenn hier leicht zu raten wäre! Die Trotzreaktion hat die Tendenz vom ursprünglichen Anlass zu einer Prinzipienfrage überzugleiten, von der es dann kein Zurück mehr gibt, ohne dass einer das Gesicht verliert. Dies gilt meist für beide Seiten; denn Trotz ist immer etwas, das in der Beziehung entsteht.
Nicht nur die Kinder trotzen
Interessant ist der Wertewandel, den der Trotz durch die Jahrzehnte und je nach der Seite, auf der man steht, durchmacht. Die trutzigen Schweizer sind in jedem Schulbuch zum Thema Heimatkunde ein Vorbild. Konsequente Haltung zeigen ist in der Erziehung sehr gefragt. Trotzige Kinder dagegen sind ungezogen, frech und böse. Zu ihnen kommt der Osterhase nicht (vgl. das Bilderbuch "Unterm Märchenbaum").
Beim Trotzen geht es um das Festhalten an unterschiedlichen Standpunkten, und je nach Standpunkt hält man an unterschiedlichen Vorstellungen fest. Eines ist also klar: Nicht nur die Kinder trotzen. Erziehen heisst nicht einmal so selten, den Wünschen und Vorstellungen der Kinder zu trotzen. Ist es schlechter, wenn ein Kind das kann, als wenn es die Erzieher können? Ahmt das Kind in der Art des Trotzens nicht des Erziehers eigenes Trotzverhalten nach?
Beleidigt Sie diese Sicht der Dinge? Dann können Sie sich wenigstens in den Standpunkt trotzender Kinder einfühlen. Auch sie fühlen sich beleidigt, wenn sie des Trotzens geziehen werden.
Ist der Konflikt lösbar?
Ja schön, aber was nun? Ist denn der Konflikt lösbar? Soll das heissen, würdige und souveräne Eltern geben immer nach, passen sich immer und überall den Kinderwünschen an, oder sie schlucken eisern alle Anwürfe der Kinder und bleiben schön ruhig und unnahbar überlegen? Oder aber sie weisen das Trotzige zurecht?
Die richtige Antwort auf diese Fragen hängt ganz zentral davon ab, zu was wir unsere Kinder erziehen wollen, respektive welche Werte für die Menschheit die wichtigsten sind:
- Sollen die Kinder keine Werte entwickeln, die über ihre unmittelbaren Bedürfnisse hinausreichen, wählen wir die Variante des raschen Nachgebens. Dann ist es aber falsch zu hoffen, Dankbarkeit und Verzichtbereitschaft erwüchsen in der Pubertät von selber aus nie beschränkter Befriedigung in der Kindheit. Tatsächlich und leider muss gelernt werden, zugunsten "höherer Motive" auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten. Zwar darf man diesen Lernprozess dem Säugling noch nicht zumuten, aber beim 2- bis 4- jährigen sollte man den Moment nicht verpassen. Es wird später nicht einfacher.
- Sollen die Kinder zu selbstorientierten Tatmenschen werden, die in Politik und Wirtschaft hart ihren Standpunkt durchsetzen, dann müssen wir immer zäh verhandeln und dann schliesslich doch nachgeben, oder aber wir bestrafen den Trotz von Anbeginn konsequent, so dass das Gefühl stark wird, sich immer nur auf sich selber verlassen zu können.
- Sollen die Kinder in erster Linie das Verzichten lernen ohne es selber zu merken (Verlust der eigenen Wünsche) und lernen, nur auf Standpunkte der anderen einzugehen, müssen wir den Trotz des Kindes umgehen, verschleiern und von ihm ablenken. Disharmonie muss tabuisiert werden.
- Sollen die Kinder offen ihre Standpunkte im Streitgespräch vertreten lernen, müssen wir danach trachten, im Trotz und trotz des Trotzes, uns und die Kinder immer wieder zum Ursprung des Konfliktes zurückzuführen. Wir müssen trachten, die Standpunkte der Kinder zu verstehen, ohne deshalb schon unseren eigenen ändern zu müssen. Dies bedeutet Spannungen ertragen lernen. Wir dürfen unsere Würde und Selbstachtung ebensowenig in den wütenden Attacken verlieren, wie wir jene der Kinder nicht gefährden dürfen. Eine zugegeben sehr schwere Aufgabe, die sicher besser zu lösen ist, wenn das eigene Selbstwertgefühl aus dem eigenen Werdegang intakt ist.
Im Trotz geht es um verschiedene Standpunkte. Trotz ist nicht und darf nicht aus der Welt geschaffen werden, wenn wir freie, selbständige Menschen haben wollen. Er ist der - nicht immer angenehme - Preis dafür.
Dr. Rudolf Buchmann, Psychotherapeut SPV/ASP