Des Menschen Wille....

„... ist sein Himmelreich“. Wer aber Wille mit blossem Wünschen verwechselt, den führt sein Wünschen leicht zur Hölle eines verpfuschten Lebens: Denn Wille ist viel mehr als Wünschen oder Motivation. Wille muss gelernt werden. Von Geburt und Genen her ist der Mensch willensfähig. Die Fähigkeit entwickelt sich nur in Auseinandersetzung und Arbeit.

Wer eignen Willen errungen hat, kann sich von inneren und äusseren Motivationen frei machen: Das ist die Voraussetzung, um. zwischen ihnen wählen zu können. Besonders wichtig ist, dass diese Freiheit im selben Ausmass gegenüber den inneren und den äusseren Motivationen entwickelt wird. Einzelne Vertreter der modernen Hirnforschung glauben, dass sie diese Freiheit leugnen sollen. Dies kann nur behaupten, wer den Menschen als körperbetriebenen Organhaufen versteht. Dass diese Interpretation der Forschungsresultate strenger Logik nicht gerecht wird, kann hier nicht weiter erörtert werden. Nur soviel: Auch Wissenschaft ist immer ideengeleitete Interpretation von Datensätzen.

Wäre ihr Glaube zutreffend, bräuchten wir weder von Willen noch von Ethik oder Verantwortung zu sprechen. Zudem widerspricht die Deutung jeder alltäglichen Erfahrung: Sofern wir uns nicht in allen Stimmungslagen chemisch manipulieren (auch das verantworten wir aber selber), erleben wir, dass wir zu unseren Wünschen, zu unseren Gefühlen und zu den Angeboten der Umwelt Stellung nehmen können, - sollen und müssen. Wir verhalten uns zu ihnen. Das ist nicht immer bequem und vielleicht würden wir dem manchmal gerne ausweichen. Aber selbst das Ausweichen (Verantwortung abschieben, andere bestimmenlassen etc.) haben wir doch wieder selber zu verantworten.

Das Verschwinden des Willens...

Es ist bemerkenswert, dass in Pädagogik und Menschenkunde, in Ökonomie und Lernforschung, in Medizin und Psychologie kaum noch vom Willen gesprochen wird. Das Zauberwort, das den Willen ersetzt, heisst „Motivation“. Motivation soll gefordert und gefördert werden. Der Lehrer soll motivieren und der Vorgesetzte. Ich soll mich selber motivieren ... Motivation – so wie sie erforscht und gehandhabt wird – hat viel mit Manipulation zu tun. Im letzten Artikel war die Rede davon, wie z.B. Ritalin und andere Drogen benutzt werden, um Stimmungen, Spannungen und damit auch Motivationen über den Körper zu manipulieren. Dem setze ich heute die Betrachtung entgegen, was Willen ermöglicht und stärkt – als Gegenpol zu einer „depressiven Gesellschaft“, in der nur noch „Motivierte“ funktionieren.

Depressionen bei Menschen nehmen bekanntlich zu. Besonders in Zeiten von Lebensumbrüchen – gerade auch bei älteren Schulkindern und Adoleszenten – ist die Suizidrate hierzulande hoch. Denn in dieses Zeiten bricht der Alltagstrott zusammen: Die Frage, was ich mit meinem Leben will, wird hoch dringlich. Ihr auszuweichen kann das Leben ruinieren.

Nur wer „nein“ sagen kann, kann auch „ja“ sagen. Das „Ja zum Leben“ setzt Willensfreiheit voraus. Alternativloses Ja gibt es sowenig, wie ein alternativloses Nein! „Ja“ und „nein“ sind Äusserungen des eigenen Willens; allerdings gilt dies nur für das echte „Ja“ und „Nein!“, d.h. jenes, das auch die daraus resultierenden Konsequenzen trägt.

..eine Krankheit?

Manchen schwierigen Phasen verpassen wir das Etikett „Krankheit“. Damit wird signalisiert, dass diese Menschen Opfer eines Geschehens seien. Ihr Zustand ist fremdverschuldet und soll beseitigt werden. Ablenken, Betäubungsmittel oder Stimmungsaufheller sollen helfen. Ich glaube, dass viele leidende Menschen so in ihrer Persönlichkeit nicht ernst genommen werden, und dass sie behindert werden, sich selber ernst zu nehmen. Manche Adoleszente und Kinder lassen wir im Stich, wenn wir zu wenig Zeit und Zuwendung aufbringen, um ihnen in ihrer Auseinandersetzung mit sich und ihrem Leben beizustehen und sie stattdessen mit Ablenkung oder Chemie abspeisen.

Die Etikette „Depression“ wird auf sehr Verschiedenes geklebt. Für viele Depressive – sicher nicht für alle (!!) – gilt, dass Verzerrung des Selbstbewusstseins und mangelnde Entwicklung resp. Verschwinden des Willens zu negativer Selbstwerteinschätzung führen. Der Weg zur Sinnkrise ist gebahnt, wenn ich mich nicht mehr selber spüre (z.B. wegen Manipulationen durch Substanzen, oder auch durch „Gehirnwäsche“ aller Art). Findet die Frage, was ich mit meinem Leben eigentlich will, andauernd weder Zeit noch Ort, ist reines Funktionieren nach den Forderungen anderer programmiert. Der fordernde Andere kann auch „der andere in mir selber“ sein, ein übertriebenes Gewissen oder verinnerlichte Gebote, die keiner Selbstreflexion unterstellt werden dürfen. Lassen Zeit oder Zwang keine Besinnung auf den eigenen Willen zu, höhlt dies über kurz oder lang die Persönlichkeit aus – bis zum Zusammenbruch.

Wenn Depression sehr oft mit der Lebenssituation und dem Verschwinden des Lebenswillen zu tun hat, müssen wir mit der Hoffnung gegensteuern, dass es sich lohnt, sich mit sich selber zu befassen. Dazu braucht es Zeit und vertrauenswürdige Gesprächspartner; ein grosses Thema für sich.

Wunsch und Wille

Oft wird im Sprachgebrauch kaum zwischen Wunsch und Willen unterschieden. Wünschen kann ich mir fast alles. Weihnachten ist die hohe Zeit der Wünsche. Wahlkämpfe, die wir hinter und vor uns haben, sind meist Zeiten der „frommen Wünsche“. Handlungen und Taten entspringen aber nicht den Wünschen allein; sie brauchen einen starken, bei grossen Widerständen eisernen Willen.

Der schreiende Säugling gibt zum Ausdruck, dass er von einem vordringlichen Wunsch (Bedürfnis) getrieben ist. Zur Erfüllung dieses Wunsches kann er nichts beitragen als andere darauf aufmerksam zu machen – zu schreien. Wenn Erwachsene – auch schon Adoleszente ! – ein Ziel erreichen wollen, sollten sie aber auf einer andern Entwicklungsstufe stehen, und nicht nur ihre Wünsche (Forderungen) stellen und die Erfüllung von andern erwarten.

Was unterscheidet also den Willen vom Wunsch? Wünsche und Bedürfnisse sind Impulse (Motive), die von innen (z.B. Hunger, Sozialkontakt etc.) oder von aussen (z.B. Forderungen, Aufgaben, aber auch Werbung, Verführung,) stammen. Der Wille verbindet selbst gewählte Handlungsziele (Motive) mit der Bereitschaft zur Eigenanstrengung: Die Person hat aus verschiedenen möglichen Motivationen ausgewählt und bindet sich an diese Ziele. Beim Willen ist der eigene Einsatz mitgedacht und mitgewollt. Ohne Einsatzbereitschaft handelt es sich nicht um Wille, sondern um Wünsche, Fantasien, Träumereien.

Voraussetzungen

Zur Ausbildung eines starken Willens bedarf es vielerlei Entwicklungsschritte. In einem ersten Schritt geht es um den Aufbau eines korrekten Selbstbewusstseins. Das Wort Selbstbewusstsein hat zwei Bedeutungen. Auf lange Sicht sind beide gemeint: Zunächst geht es um das Bewusstsein meiner selbst („ich spüre das..“, „ich fühle mich so“): in zweiter Bedeutung geht es um das Bewusstsein, dass ich etwas bewirke und was ich (nicht) kann.

Im Weiteren brauchen wir Geduld mit uns selber und mit den Widerständen in der Welt (Frustrationstoleranz). Wenn ein Kind ein Vogelhäuschen machen will, leisten Holz und technische Geräte „Widerstand“. Wer beim ersten krummen Nagel verzweifelt, erreicht sein Ziel schlecht. Vielleicht hat auch der Vater nie Zeit, das versprochene Häuschen in Angriff zu nehmen: Ein Kind, das nicht locker lässt, überwindet in dem Fall einen sozialen Widerstand. Oft geht Gelassenheit gegenüber äusserlichen Widerständigkeiten, Ansinnen, Angeboten (Verführungen) und Zumutungen aus der Umwelt Hand in Hand mit der Fähigkeit, innere Spannungen (Bedürfnisse, Ärger, Angst etc.) auszuhalten. Mit dieser Gelassenheit (Frustrationstoleranz) wird Wahlfreiheit gewonnen.

Um erfolgreich zu handeln, brauchen wir natürlich auch möglichst zutreffende Kenntnisse über die Abläufe in der materiellen und in der sozialen Welt. Solche Kenntnisse allein genügen aber nicht, um in der Welt erfolgreich zu handeln. Wem die Kenntnis über sich selber fehlt, resp. wer sich massiv über sich selber täuscht, wird Enttäuschung an Enttäuschung reihen. Nicht selten folgt dann die nächste Täuschung: Am Misserfolg sind immer die andern schuld.

Selbstbewusstheit

Wie oben gesagt, sindt Selbstbewusstsein und Selbstbewusstheit zentrale Voraussetzungen für ein „gelingendes Leben“. Es geht um das Wissen über mich selbst und das Spüren und Fühlen meiner inneren Zustände (körperlich und seelisch!). Dieses Wissen stammt aus eigenen Erfahrungen, Erlebnissen und aus der Selbstreflexion einerseits und aus Rückmeldungen – ehrlichen Meinungen, neudeutsch Feedbacks, altertümlich „Zensuren“ - anderseits.

Nun sind feedbacks nie reine Spiegelbilder meiner Taten und Zustände. Der Spiegel kann trübe oder verzerrt sein. Hier gilt es, die eigenen Erlebnisse (Innenwahrnehmung) mit den äusseren Feedbacks zu vergleichen. Der Umgang mit diesen feedbacks entscheidet massgeblich, ob sich ein starkes und zutreffendes Selbstbild aufbaut. Ein gesundes Selbstbewusstsein besteht also in einem lebenslangen Prozess, in dem Eigenwahrnehmung mit Fremdwahrnehmung verglichen und gewichtet wird. Viele Märchen berichten davon, wie sich Menschen aus falschen (niederträchtigen) „Feedbacks“ der bösen Geschwister oder der Stiefmutter befreien müssen. Aber auch die bösen Schwestern – bei Aschenputtel z.B. – sind Opfer falscher Bilder. Mit Stiefmutter meinen die Märchen übrigens nicht den Zivilstand, sondern jene Mutter, die ihr falsches Bild über die Kinder ausbreitet oder ohne Einfühlung und Beziehung zu ihnen, unangemessene Forderungen an sie stellt.

Man ist, was man isst ?

Wenn ich im letzten Artikel auf die Gefahren von Ritalin und andern stimmungsbeeinflussenden Substanzen hingewiesen habe, dann nicht zuletzt auch deshalb, weil Substanzen den inneren Spiegel verändern. Es kann kaum noch unterschieden werden: was mein Anteil und was eine Folge der Chemie ist, oder was an den unangemessenen Forderungen (z.B. überlanges Stillesitzen) liegt. Die Weichen hin zu einem falschen Selbst werden gestellt. Und damit ist eine Hauptbasis der Entwicklung zum eigenen Willen gefährdet.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Wünschen, Wille, Motivation, Ritalin, Gesundheit, Anpassung, Bewusstsein, ADHS