Sparen am andern: Der soziale Aufstieg des Eigennutz

Werte-Erziehung (2)

Im letzten Heft besprach ich die negativen Aspekte der Konkurrenz als Werthaltung. Eng verbunden mit ihr ist die Bewunderung für Gewinnsteigerung, der sich als nahezu alleiniger Massstab erfolgreichen Wirkens durchzusetzen droht. Was bieten wir der heranwachsenden Generation damit als Wert an? Welche Auswirkungen auf soziale Ethik und alltägliches Verhalten handeln wir uns damit ein?

„Der Ehrliche ist der Dumme“ zu dieser niederschmetternden Bilanz kommt der ausgewiesene Nachrichtenspezialist der ARD Ulrich Wickert in seinem hinreissend geschriebenen Buch über die Entwicklung der Medien und die Veränderungen in den verbreiteten Informationen im letzten Jahrzehnte (Verlag Hoffmann & Campe 1994). Er zeichnet nach, was wir als Eltern, Erzieher und Psychotherapeuten täglich selber beobachten können, wie klare Haltungen, die Orientierung bieten, mehr und mehr der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Die unverhohlene Propaganda für „Cleverness“

Bei mir trifft ein unbestellter Fax ein, der für ein Gerät wirbt, mit dem ich Radarfallen umgehen könne. Kein Hinweis darauf, dass Geschwindigkeitslimiten Gesetze sind, die für alle gelten. Kein Hinweis, dass Übertretung rechtswidrig und gefährlich ist. Es wird geworben damit, dass ich mir den Ärger der Busse ersparen kann - nicht durch korrektes Verhalten, sondern durch einen technischen Apparat, der mich vor der Kontrolle warnt.

Zweites Beispiel: Versicherungen und Banken werben mit dem Argument, wenn ich ihre Produkte nutze, könne ich Steuern „sparen“. Keine Rede davon, dass Steuern Gelder sind, die der Staat für uns alle braucht und über deren Verwendung wir -zumal in unserer ausgebauten Demokratie - selber mitbestimmen können.

Drittes Beispiel: Die „Freistellung“ vieler Mitarbeiter erhöht die Gewinne der Betriebe. Nur wer den Gewinn steigert ist gut. Kein Wort davon, dass die „Freigestellten“ unter Arbeitslosigkeit leiden und die Arbeitslosenkasse und andere Sozialwerke finanziell belasten. Deren Gelder werden von den Arbeitenden selber und den oben eben angesprochenen Steuerzahlern berappt. Gespart wird also auf deren Kosten. Gleichzeitig wird mit mahnendem Finger auf die leeren Kassen eben dieser Sozialwerke gezeigt und verlangt, diese müssten „endlich“ sparen, ihre Ausgaben wüchsen zu rasch.

Die Argumente sind schlau. Sie packen jeden Einzelnen bei seinem Streben nach Eigennutz. Sie sagen: Steh doch nur für dich selber ein. Es ist legal, schlau zu sein. Dem Allgemeinwohl ein Schnippchen zu schlagen, auf dass es dir besser gehe, ist toll. Dabei wird Schlauheit (amerikanisch Cleverness) zu einem Wert, der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit in die Region des Dümmlichen oder Naiven rückt.

Idealismus, was ist das?

Was ist aus dem Wert Idealismus geworden? Für was lässt sich die Jugend begeistern? Schauen wir einige Jahrzehnte zurück, sehen wir, dass die grossen Ideen und begeisternden Leistungen sehr oft idealistisch angepackt und geschaffen wurden. Teilnahme an der Olympiade wurde um ihrer selbst willen angestrebt. Sport war Spiel unter einander und zur Freude der Zuschauer. Heute drängen die Klubs an die Börse, die Umsätze gehen in die Milliarden. Politisches Engagement, das sich nicht für eigene Vorteile nutzbar machen lässt, hatte auch schon mehr zulauf als heute. Für viele ehrenamtliche Posten lassen sich nur noch mit grossem Aufwand geeignete Leute auftreiben. Dies hat auch damit zu tun, dass die Würde, die die Bürde bringt, heute kaum noch „Marktwert“ im sozialen Umfeld und bei den Berichterstattern hat.

Hilfswerke rekrutierten sich weitgehend aus freiwilligen Helfern und finanzierten sich aus freiwilligen Spenden jener vermögenden und ärmeren Idealisten, die sich vom Hilfsprojekt begeistern lassen. Dies ist zwar nicht ganz vorbei. Aber ich lese doch die Kritik, dass die Hilfswerke nicht effizient genug arbeiten. Heute genüge Idealismus nicht mehr. Sie müssen professioneller werden. Professioneller bedeutet immer auch, dass die Arbeit eben Profession - also Beruf - sein soll. Die Idealisten sollen den „Realisten“ Platz machen, die wissen wie es geht. Vielleicht führen solche Berichte auch dazu, dass Spendengelder weniger fliessen und ihre Einsammlung professionalisiert werden soll. Schon gibt es Firmen, die gegen Bezahlung „fund raising“ betreiben.

Vielleicht stimmt sogar, was ich nicht überprüfen kann, dass so mehr Geld zusammen kommt. Neben dem Wert Geld und Sparen wandelt sich aber etwas in der Haltung. Hilfe wird direkt oder indirekt zum Geschäft. Ein Idealist? - Ein dummer alter Träumer.

Visionen jenseits des Marktes?

Auch der Begriff Visionen ist fest in den Griff der Marktstrategen aufgenommen worden. Sozialutopien, visionäre Vorstellungen über glückliches Zusammenleben und gerechte Verteilung der Güter, Sozialromantik in der Songliteratur sind in den Jugendmedien, auf dem Buchmarkt und im Musikbetrieb zur raren Seltenheit geworden.

Welche Zukunftsträume, welche Visionen bauen sich Jugendliche heute auf: Sie hören, dass die Weltressourcen ausgeplündert werden. Sie hören, dass mit einer „Sockelarbeitslosigkeit“ auf lange zu rechnen ist. Die Überbevölkerung wächst, was dagegen unternehmen? Verzicht auf eigene Kinder? Das Klima könnte kippen, Natur und Menschheit ist bedroht. Politiker sagen der Jugend, euer Alter wird schwierig werden, weil bis dann kein Geld mehr da ist. Die „Visionen“ jenseits des Marktes dieser Generation sind düster. Wieso ist - nach dem kalten Krieg - so viel Angst in uns Erwachsenen?

Nicht die Jugend wird immer schlechter, wie zweitausendjähriger Pessimismus immer wiederholt. Wir haben verlernt der Jugend Visionen anzubieten, für die sie sich begeistern können. Visionen und Utopien sind nämlich nicht wertlos. Sie mögen derzeit unrealistisch anmuten, das ist wahr. Aber nur gestandene Miesmacher können behaupten, dies sei ein Grund, der gegen die Entwicklung von Utopien spreche. Visionen und Utopien sind Triebfedern aus der Zukunft. Eine heranwachsende Generation kann sich nur begeistern lassen, wenn ihr Leitziele und Handlungsmöglichkeiten angeboten werden, die den jetzigen Zustand übersteigen.

Die derzeit fast einzig aufgebaute Motivation der Angst treibt Adoleszente in Konsumrausch, Ablenkung, Gewalt als Ablenkung und Schutz gegen Resignation und Depression. Dabei geht es uns eigentlich in der Schweiz so gut, wie selten zuvor. Nicht so den Jugendlichen; wir haben sie der Utopien beraubt, behaupten es sei kaum noch besser zu machen, der Trend der Veränderung gehe nur nach unten. Besitzstandwahrung sei das beste, was es noch zu hoffen gebe!

Der Wert „Sparen“

Ich möchte dies noch an der aktuellen Spardiskussion erläutern:

Unsere Jugend wächst unter einer Spareuphorie auf. Wenn sie beginnen, sich mit Politik und Zeitunglesen zu befassen, spricht fast jeder nur vom Geld. Überall ist zu wenig Geld, heisst es. Die Schulden, die wir vor zwanzig Jahren machten und mit denen wir „gut lebten“ sollen jetzt zurückgezahlt werden. In den Köpfen hat sich eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. Wer damals von Sparen sprach, schadete der Wirtschaft. Heute muss der Staat seinen Haushalt endlich in Ordnung bringen und das subito. (Vergl. Meinen Artikel über die Mentalität der Süchtigen: Subito!). Nur dann sind wir sicher vor der unheimlichen Konkurrenz. Hier ist sie wieder die Angst-motivation unseres Jahrzehnts: Sparen, weil es knapper wird! Doch die Börse boomt. Ist die Angst realistisch oder nur eine schwarze Utopie von schlecht Träumenden, die ihre Furcht vor dem Wandel bis ins Krankhafte steigern , sich aber selber als Realisten ausgeben?

Wie erkläre ich einem Jugendlichen, der in diese Welt hineinwachsen soll, wieso das so ist. Weshalb ist heute nicht mehr wahr, was vor 15 Jahren unanfechtbare Selbstverständlichkeit war? Weshalb muss der Staat sparen und Steuern senken, wenn Gewinne steigen?

Ich erinnere mich gut, wie unsere Eltern sparen mussten. Sparen hatte einen Sinn, der leicht zu vermitteln war. Es war zu wenig Geld da, um sich alle Wünsche zu erfüllen. Auch heute gibt es viele Familien, die tatsächlich sparen müssen. Ihr Geld ist knapp und wird knapper, weil die Unternehmen an den Löhnen sparen „müssen“. Die Börse boomt. Ist zu wenig Geld da?

Oder sind am Ende die schwarzen Zukunftsbilder „des Kaisers neue Kleider“. In Andersens Märchen gelingt es cleveren „Webern“ aller Welt glauben zu machen, sie hätten dem Kaiser besonders wertvolle Kleider gemacht. Niemand gibt zu, dass der Kaiser gar nichts anhat, bis ein Kind in seiner Naivität die Wahrheit anzweifelt, die alle Welt über des Kaisers wertvolle Kleider angibt. Die Betrüger sind mit ihrem ergaunerten Verdienst bereits über alle Berge bis die geprellten merken, dass sie einer Suggestion aufgesessen sind. Ist das Fehlen der Gelder die Suggestion, die erlaubt die Zuschauer still zu halten, bis die Profite eingestrichen sind? Clever - nicht?

Wessen Geld wird gespart?

Schuldenmachen ist ein soziales Problem. Familien die in Schuldenkrisen geraten, leben schlecht - gelegentlich unter grossem Leid. Sparen vor Ausgeben ist sicher eine richtige Devise, die auch Kinder und Jugendliche lernen und einüben sollen. Ich bin kein Freund der Kleinkreditwerbung: Gönn dir jetzt, zahle später!

Dennoch ist die Frage, ist in der öffentlichen Diskussion aus der Tugend nicht ein Laster geworden? Wenn der Reiche spart, sein Konto erhöht, zukauft und spart und wieder zukauft: Lebensversicherungen und Banken befinden sich zeitweise in Anlagenot: Wohin mit dem vielen Geld, das ihnen Sparer anvertrauen, um damit auch Steuern zu „sparen“? Hat sich hier die Tugend der klugen Jungfrauen nicht in das Laster der Geizhälse gewandelt? Für wen machen sie das? Was hat wer davon? Wozu dient dies mittelfristig, wenn dadurch die sozialen Spannungen wachsen, wenn die die Geld oder Arbeit haben, sparen und sparen und die, die weder das eine noch das andere haben, zu den „Ausplünderern des Sozialstaates“ gestempelt werden. Macht das gesparte Geld sicher, wenn ein sozialer Kolaps oder soziale Unruhen Milliardenwerte vernichten könnten.?

In der Diskussion mit Jugendlichen taucht auch die Frage auf, woher kommt das gesparte Geld? Wessen Geld ist es überhaupt. Kinder durchschnittlicher Eltern haben wenig Geld, das sie von diesen bekommen. Um Geld zu erhalten, müssen sie etwas leisten. Dies wollen sie auch und wenn sie eine Stelle finden, beginnen sie eigenes Geld einzunehmen. Ihre Arbeit, das wissen sie, erzeugt Werte, die dem Unternehmen zugute kommen. Woher kommt die Wertsteigerung sonst noch, ausser aus ihrer Arbeit? Wessen Geld ist es eigentlich, das den Betrieb immer wertvoller macht? Wie erkläre ich dem Jugendlichen, dass sein Lohnniveau eher sinken muss gemessen an Löhnen früherer Generationen?

Welche Werte sind unsere wahren Werte?

In der öffentlichen Diskussion dreht sich heute fast alles um Geld. Sind dies die einzigen Werte, die wir der Jugend anzubieten haben? Ist es das höchste der Gefühle und der Lebenssinn an sich, so vermögend zu sein, um sich alle Gelüste erfüllen zu können? - Auch die, die gar nicht meine sind, sondern als Ersatz für höhere Werte und als Fluchtwege aus der Sinnkrise dienen?

Ich bin überzeugt, dass wir nur eine friedliche und erfüllte Zukunft für uns und unsere Kinder erringen können, wenn wieder Ideale, Visionen und Utopien aufgebaut und vertreten werden, die über den Eigennutz hinausgehen. Wenn wir Räume schaffen für kulturelle Selbstentfaltung und Eigeninitiative Jugendlicher im Austausch mit der Gemeinschaft der Erwachsenen, die nach mehr strebt als der eigenen Bereicherung und Alterssicherung.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Weltbild, Werte, Konkurrenz, Schule, Adoleszenz, Beziehung