Konkurrenz: Der soziale Aufstieg des Neides
Die Erziehung zu Werthaltungen ist besonders abhängig vom Zeitgeist. Konkurrenz ist zur Gottheit eines neuen Zeitgeistes geworden. Wie halten wir es mit Werten wie Mitgefühl und Solidarität angesichts dieses „Megatrends“.
Im Namen der Konkurrenzfähigkeit wird zur Zeit nahezu jede soziale und mitmenschliche Haltung in Chefetagen als überholt und für das Überleben der Gesellschaft geradezu bedrohlich behandelt. In den Verlautbarungen sieht sich die Leitung gezwungen - leider, leider! - Arbeitsplätze zu vernichten. So verschwinden z.B. praktisch alle Plätze, die etwas von der Konkurrenz geschützt waren und die vormals auch durch seelisch weniger robuste Menschen ausgefüllt werden konnten. Die Wirtschaftskommentatoren tun ein übriges dies als Marktgesetz darzustellen, das unvermeidlich sei. Mit andern Worten: Den Stellenabbau und Arbeitslosigkeit hat niemand zu verantworten. Niemand kann ihn auch beeinflussen, denn alle folgen nur dem Gesetz. Es ist demnach auch gesetzmässig, dass Profitsteigerung oberstes wirtschaftliches Ziel ist. Der Glauben nimmt schon fast religiöse Züge an, denn dem Unternehmen, das nicht daran glaubt oder nicht danach handelt, wird in düsteren Farben das Aus prognostiziert. Dabei schwindet das Bewusstsein, dass es sich hier nicht um ein biologisches Naturgesetz handelt, sondern dass politische Entscheide die Zwänge hervorrufen. Hinter den Entscheiden stehen aber wieder Werthaltungen. Und diese werden seit Beginn der Rezession, die bald nach dem Fall der Mauer einsetzte (!) kaum mehr diskutiert.
Konkurrenz und Angst
Wenn wir einen psychologischen Blick auf das Geschehen werfen und die ökonomischen Fachdiskussion aus Distanz ansehen, fällt auf, wie viel Angst in diesem Thema steckt. Es beginnt mit der Einschüchterung jeder Kritik am neuen Glauben durch die Drohung von Arbeitsplatzverlust oder notwendig zu erwartender Schliessung der Produktionsstätte. Was zunächst als Ansporn für mehr Leistung und Effizienz (mehr Produkt in derselben Zeit und bei demselben Lohn) gut brauchbar schien, ist offenbar aus dem Ruder der bewussten Steuerung geraten. Hinter dem bewussten Schüren von Konkurrenz, steht der Glaubenssatz, dass das Ausspielen von Menschen, diese zu höherer Leistung antreibe. Diese Vorstellung steht auch dem Glauben Pate, Schulnoten hätten grundsätzlich eine lernfördernde Wirkung.
Was ist daran wahr? Tatsächlich schürt Konkurrenz die Angst, der andere könnte besser sein und deshalb meinen Platz einnehmen wollen. Konkurrenz lebt ebenso von der Angst vor dem Mitmenschen wie der Krieg. Diese Angst vor dem Mitmenschen wurde immer schon ausgebeutet. In der Kriegsrhetorik kann durch sie die Kampfbereitschaft eines Volkes erreicht werden. Angstgetrieben lassen sich Menschen zu vielen Taten lenken. Wirtschaftsstatistiker werden mir auch die Wahrheit des Glaubens vorhalten., weil sie durch den Erfolg bestätigt sei: Die Effizienzsteigerung der Wirtschaft ist in den letzten Jahren tatsächlich erstaunlich; ein voller Erfolg! Ja, wenn wir die menschlichen Kosten nicht miteinbeziehen, dann schon.
Was ist das aber für eine Gesellschaft und für ein Leben, das hauptsächlich durch angstmotivierte Leistungen aufrechterhalten wird. Und wie lange wird eine Bevölkerung den Angstdruck durchhalten. Andauernde Angst laugt aus und greift - zusammen mit dem Ausplündern der menschlichen Kraftreserven - die Gesundheit an. Dass die Gesundheitskosten steigen, muss endlich auch einmal in Beziehung zur Steigerung der Produktivität jedes einzelnen Arbeitnehmers gebracht werden.
Aber den Zauberlehrlingen scheint die Entwicklung aus der Hand zu gleiten: Erst künstlich geschürt und als Motivationsmittel eingesetzt, um Stimmvolk und Arbeitnehmer in die gewünschten Richtungen zu drängen (z.B. litaneihaft vorgebrachtes Argument „Arbeitsplatz“ vor jeder Abstimmung), scheint die Angst heute in den Chef-Etagen dergestalt Einzug gehalten zu haben, dass sich auch in dieser kaum einer mehr frei fühlt, nach menschlichem Ermessen zu entscheiden und andere Werte höher zu gewichten als: Effizienz, Konkurrenz und Profit.
Gier und Konkurrenz
Dabei ist die Sparquote in der Schweiz der letzten zehn Jahre kontinuierlich gestiegen. In den Pensionskassen sammelt sich Kapital unvorstellbaren Ausmasses an. Haben wir denn nicht genug, dass uns gleichbleibender Profit (Nullwachstum) schon Angst macht?
Damit kommen wir zu einem springenden Punkt. Damit das Konkurrenzargument verfängt, muss ihm ein tieferliegendes Bedürfnis oder ein Affekt die Energie leihen. Schon erwähnt ist die Angst vor den Mitmenschen. Sie ist eine bedeutsame Kraft, für deren Entfaltung schon ab frühester Kindheit Weichen gestellt werden. Sie ist nicht naturnotwendig, aber in unseren Breitengraden verbreitet und wird bei unseren Betreuungsgewohnheiten von Kleinkindern stark gefördert.
Eine ebenso wichtige Energiequelle ist „Gier“. Mir ist wichtig, deutlich zwischen Bedürfnis und Gier zu unterscheiden. Essen und Trinken sind grundlegende Bedürfnisse, auf die wir nicht verzichten können. Ebenso grundlegend sind die sozialen Bedürfnisse Beachtung, Achtung und Anerkennung. Bedürfnisse werden dann zu Gier, wenn ihre Befriedigung in Gefahr zu sein scheint.
Beobachten wir Säuglinge können wir mit etwas Gespür leicht sehen, wann Hunger in Notgeschrei übergeht. Solange die Hoffnung besteht, dass der Schoppen kommt, stört der Hunger das Sicherheitsgefühl nicht. Er wird in verschiedenen Tönen ausgedrückt, die Betreuer nach kurzer Zeit richtig zuordnen können. Das Verlangen in diesen Tönen wird immer deutlicher. Zunehmend steigt Angst auf, trotz anderer Erfahrungen nicht zur benötigten Sache zu kommen. Wird mit der angemessenen Antwort zulange zugewartet und wiederholt sich die Erfahrung oft, verknüpfen sich Angst und Bedürfnis: Wir haben aus natürlichen Bedürfnissen Gier gezüchtet. Die Angst, nicht zur Sache oder zur Zuwendung zu kommen, die wir dringend benötigen, steht im Zentrum der Gier.
Wird diese Angst, zu kurz zu kommen, ausgebaut und immer mehr Wünsche als „Existenzminimum“ hingestellt (Konsumerziehung) wird Gier zur kulturbestimmenden Macht.
Solidarität: Gegenwert zur Gier
Wir wissen seit einigen Jahrzehnten, dass unser Planet zwar riesige, aber doch nur beschränkte Güter bereitstellt für künftiges Leben. Die logische Konsequenz daraus wäre Einschränkung und gezielter Verzicht zugunsten anderer Gesellschaften und künftiger Generationen. Dieser Gedanke ist unter dem Begriff „Solidarität“ zu einem gesellschaftlichen Wert geworden. Eigentlich ist der Wert schon mindestens 2’000 Jahre alt, beginnt er doch spätestens mit der Brüderlichkeit im Christentum. In allen Jahrhunderten hatte er es aber schwer, sich gegen die Gier durchzusetzen.
Dennoch erstaunt mich, wie Solidarität und Fürsorglichkeit in unserer Gegenwart beinahe zu einem Negativwert geworden ist. Wenn ein Bankchef sagt, er sei zum Geld verdienen da und nicht dafür, um Preise für ein Volksfest zu stiften, zeugt dies von einer Verachtung gegenüber der res publica (der Sache der Gemeinschaft), die aufhorchen lässt. Es spiegelt aber nur besonders krass, wie kaufmännisch unser Denken geworden ist. Der Nutzen muss überall in Heller und Pfennig bewiesen werden, sonst hat eine Arbeit scheinbar keinen Wert mehr.
Wenn es knapp wird
Begründet wird dies alles mit einer Knappheit an Finanzen, die heute zwar in öffentlichen Haushalten besteht, aber doch offensichtlich künstlich hergestellt wird. Insgesamt wäre genug Geld, Arbeitskraft und Nahrung vorhanden, um niemanden Not leiden zu lassen. Wenn aber niemand mehr bereit ist für andere einzustehen, dann wird es tatsächlich eng. Wenn alles Geld nur zur Profitsteigerung eingesetzt werden darf, wird durch diesen Glaubenssatz verordnet, dass es uns für Kultur und Soziales fehle.
Gehen wir davon aus, dass Geld und Naturgaben knapp werden, ist Angst berechtigt. Es gibt zwei Antworten darauf: Sich einschränken und teilen oder aber: Dafür kämpfen selber die besseren und grösseren Anteile davon zu erhalten. Alle Eltern wissen, dass die kämpferische Haltung diejenige des unerzogenen Kindes ist. Wenn wir uns selber in einer stillen Stunde zurückerinnern, hat wohl jeder die Erfahrung gemacht, dem Geschwister oder dem Nachbarkind gewisse Dinge geneidet zu haben. Der Vorrat an Betreuungszeit der Eltern ist z.B. begrenzt; muss er auf 2 oder 5 Geschwister aufgeteilt werden, wird jedes einmal das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Eifersucht tritt auf und mit der Eifersucht die Konkurrenz, wer mehr an der Mutter saugen oder näher bei ihr stehen kann. Streitgrund Nummer 1 in jeder Kinderstube.
Konkurrenz: Vergötterung des Neides
Eifersucht und Neid ist zutiefst menschlich. Eine Erziehungsfrage ist jedoch, wie wir mit diesen Gefühlen umgehen lernen. Selbst wenn sich Eltern von den Kindern auffressen liessen, könnten sie nicht vermeiden, dass diese hin und wieder Gefühl plagt, zu wenig zu bekommen. Ebenso naturnotwendig wie die Erfahrung von Neid und Eifersucht, ist das lernen von Verzicht und Begrenzung. Haben Kinder dies einmal eingesehen und angenommen, tritt eine grosse Beruhigung ein - auch für sie selber. Die Angst, nur sie selber kämen zu kurz, weicht einer Einsicht, dass durch das Teilen plötzlich mehr da ist. Wenn die Geschwister auch bekommen, kann es allen besser gehen. Alte Weisheiten, die im Moment aber wie vergessen zu sein scheinen.
Globalisierung wird unter dem Gütesiegel „mehr Konkurrenz“ herum geboten und als Heil für die Entwicklung der Menschheit angeboten!: Kampf jedes Betriebes gegen jeden. Der Betrieb, der denselben Markt sucht, ist ein gefährlicher Konkurrent: Aus dem Rennen werfen oder aufkaufen! Vernichten! Der eiserne Vorhang ist besiegt. Eine Zeit ohne Kampf, eine schreckliche Zeit! (??) Fressen oder Gefressen werden! Wie wenn die Menschheit am Ende des 20. Jahrhunderts sich nicht anders verständigen und zusammenspannen könnte als Kleinkinder, die dem Neid völlig ausgeliefert sind.
Die Katastrophe fehlender oder fehlgeschlagener Erziehung wird zum Heil der Menschen erhoben.
Eine Liga gegen die Konkurrenz tut not!
Wie sind Menschheitsideale wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Solidarität den Kindern unserer Zeit zu vermitteln, angesichts der fast schrankenlos aufgeheizten Angst vor der Zukunft? Wie ein Gift dringt sie durch die Lebensalter immer tiefer bis in die frühe Kindheit. Das Konkurrenzbewusstsein ist mancherorts bereits in der frühe Primarschulklasse eingedrungen. Es wird nicht einmal als Gefahr für das soziale Leben anerkannt, weil Gier und Neid unter dem Namen der Konkurrenz in unserer Welt derart salonfähig geworden sind. Kampfgehabe wird teilweise direkt begrüsst. Schon kleine Kinder werden in Kampfsportarten geschickt und auf Selbstverteidigung getrimmt. Auch die Kinderunterhaltung ist sehr kampfbetont geworden. Vielleicht ohne zu merken geht auch hier die Botschaft der Angst mit ein, Bedrohung ist überall; man muss sich selber wehren; wer schwach ist hat kaum Chancen. Diesen Botschaften steht relativ wenig Einübung von Solidaritätsverhalten gegenüber.
Du lernst nicht nur für dich!
Ich bin überzeugt, dass wir einer Wende in der Werterziehung bedürfen. Solidarische Hilfe, Einstehen für einander, Hinsehen auf die Not (und die Freude) der andern muss wieder einen viel grösseren Raum in der Erziehung und der Schule finden. Schule soll nicht nur mir etwas nützen: „Du lernst für dich, nicht für die Schule“, steht diesem Wert krass entgegen und zementiert den Eigennutz. Vielmehr muss es heissen: Du lernst für dich und für die Schule. Das heisst: Es geht in der Schule nicht nur um dich, sondern auch um die anderen, die Gemeinschaft, die Gesellschaft, die dich mit deinem Können brauchen wird. Wieviele Schüler lernen „für den Lehrer“ und sind dadurch motiviert? Und das ist gut so! Werten wir den Einsatz für andere wieder auf! Entlarven wir die Konkurrenz als Geisel der Menschheit, die alle ins Verderben treiben kann! Hinter ihr stehen die Affekte der Gier, der Angst und des Neides.
© Dr. R. Buchmann