Was ist Wahrheit?

Alles Wissen, das wir nicht aus eigenem Erleben erhalten, stammt von Erzählungen. Wem glauben wir? Wessen Erzählungen schenken wir Vertrauen? Dies entscheidet darüber, was wir für wahr halten.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir sogar im unmittelbaren Erleben stark beeinflusst sind von den Vorstellungen, die wir im Leben aufgebaut haben. Diese Vorstellungen sind wieder ein Gemisch aus Berichten anderer, eigenem Erleben und dem Überdenken, was wir erlebt haben. Unsere Vorstellungen von der Welt, von uns selber und von Zusammenspiel der Kräfte sind also sehr individuell geprägt: Durch den Lebenslauf, durch Erziehung und Bildung. Ein grosser Apparat, zu dem Schule aber auch Werbung etc. gehören, ist dazu aufgebaut, uns jene Vorstellungen zu vermitteln oder auch „einzubläuen“, die die Gesellschaft (resp. die Eltern, die einzelnen Lehrer, die Mission, die politischen und wirtschaftlichen Agenturen usw.) im einzelnen Menschen verankern möchte.
eigenes Weltbild
In einer offenen Gesellschaft haben wir den Vorteil, dass es einen Markt an Meinungen gibt und uns nicht zwingend vorgeschrieben wird, was wir für wahr halten müssen. Das ist in einem Gottesstaat oder in engen, ideologischen Diktaturen anders. Die verschiedenen Vorstellungen – wozu ich auch die Sammlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zähle – sind mehr oder weniger unzensuriert allen zugänglich. So frei, wie viele meinen, sind wir zwar auch nicht; denn im Zeitalter der Medien sind Manipulationen der Meldungen und Indoktrinationen z.B. durch PR-Kampagnen ein weites Feld, um die Vorstellungen der Einzelnen zu beeinflussen. Zudem brauchen wir für viele Informationen ein gehöriges Mass an Bildung, um sie überhaupt zu entziffern.
Dennoch ist der Wettbewerb der Ideen bei uns bedeutend umfassender. Da setzt aber gleich auch die Not der offenen Gesellschaft ein: Das Angebot an Vorstellungen ist riesig, chaotisch und überfordert den Einzelnen notwendigerweise. Der Wunsch nach Orientierung stammt aus der Notwendigkeit: Handeln kann nur, wer sich auf bestimmte Regeln verlassen kann. Im Augenblick, in dem ich handeln will oder muss, muss ich mich also auf ein eigenes Weltbild festlegen. Ich muss mich z.B. entscheiden, ob ich mehr an magische oder physikalische und chemische Kräfte glaube, wenn ich gegen eine Erkrankung vorgehen will.
Entscheid mit Folgen
Ich selber bin in einer rationalistischen Gesellschaft aufgewachsen. Also liegt mir das physikalisch-chemische Verständnis näher. Ich habe in der Schule auch viel mehr über diese Kräfte gelernt. Also vertraue ich diesen Vorstellungen auch mehr, weil ich sie besser kenne. Ein grosser Teil des Entscheides ist mir durch Ort und Zeit der Geburt abgenommen worden. Wäre ich in einem Gebiet des Schamanismus ausgewachsen, sähe das Ganze wohl umgekehrt aus.
Dennoch kann ich zur Kenntnis nehmen, dass grosse Teile der Menschheit anderes für wahr halten, in ihrer Wahrheit Erfahrungen machen und Kenntnisse anhäufen. Ich kann auch erkennen, dass ich vieles nicht verstehen kann, weil ich den Bildungsweg nicht zur Verfügung habe, um ihre Aussagen, Geschichten und Experimente zu verstehen. Bin ich einmal soweit vorgedrungen, wird auch klar, dass ich nicht in der Lage bin zu beurteilen, wessen „Wahrheit“ nun die richtigere ist. Manche dieser „Wahrheiten“ vertragen sich im logischen Denken miteinander. Andere schliessen sich aus. Im Ringen zwischen Naturwissenschaft und Christentum, welches das späte Mittelalter in schwere geistige Kämpfe stürzte, die schliesslich auch mit Waffen ausgetragen wurden, haben wir einen faulen Kompromiss erreicht: Wir tun öffentlich so, als ob sich naturwissenschaftliche Rationalität und christliche Lehre nicht widersprächen. Genau besehen, schauen wir einfach weg von der Konfliktlinie.
Wahrheiten
Koexistenz (Leben und leben lassen) als praktische Bewältigung, sich widersprechende Weltbilder nebeneinander auszuhalten, ist ein gutes Modell für ein friedliches Zusammenleben mit sich gegenseitig ausschliessenden Weltverständnissen. Voraussetzung dazu ist, sich einzugestehen, dass Wahrheit nicht eine Einheit ist, sondern dass es verschiedene Wahrheiten gibt. Dies ist eine hohe intellektuelle Anforderung. Sie verlangt auch viel emotionale Kraft, weil Unsicherheit auszuhalten und Fehleinschätzungen zu tolerieren ist.
Diese Toleranz ist schon schwierig aufzubringen zwischen Menschen mit verschiedenen Grundüberzeugungen. Noch höhere Anforderungen stellt sich dem Einzelnen, wenn er in sich selber verschiedene Überzeugungen und Wahrheiten, die sich widersprechen, aushalten und mit ihnen klar kommen soll.
Weshalb diese Ausführungen in einem Artikel zur Kindererziehung?
Die ganze Kindheit dient dazu, den neugeborenen Menschen in eine Lebenswelt einzuführen, in der er sich selbständig bewegen kann. Um Boden unter die Füsse zu bekommen, lernt er, worauf er sich verlassen kann, und das heisst, welche Gesetzmässigkeiten und Regeln an seinem Lebensort gelten. Mit „Gesetzmässigkeiten“ bezeichne ich alle Regeln, nach denen unsere Welt geordnet ist und denen sie folgt: Die Gesetzmässigkeiten, die die Naturwissenschaften aufstellen, gehören ebenso dazu wie wirtschaftliche oder soziale Regeln, Anstand, geltende Bräuche usw.
Da ist es wichtig, dass solche Regeln gültig sind, auch wenn sie nicht „bewiesenermassen“ oder notwendigerweise genau so sein müssten. Praktisch heisst das: Nur wenige Regeln, die in der Erziehung vertreten werden, können rational begründet werden. Hingegen ist für die Lebensbewältigung und das Zusammenleben notwendig, dass Regeln gelten und befolgt werden.
Wer schon mal mit Adoleszenten über Regeln debattiert hat, weiss dass kaum eine Chance hat, wer beweisen will, dass es gerade diese Regel sein muss, die jetzt gefordert wird.
Diskussion und Handeln
An diesem Punkt werden die Überlegungen praktischer Erziehungsalltag. Begründungen für Forderungen und Erziehungsmassnahmen sind wichtig und richtig, damit Kinder ab einem gewissen Alter lernen, was sich der Erzieher gedacht hat oder welche Machtverhältnisse herrschen. Sobald die Diskussion zu sehr in die Richtung geht, die Notwendigkeit oder gar die absolute Gültigkeit zu beweisen, gerät sie zu einem Bazar, vielleicht einer philosophisch tiefgründigen Debatte, aus der man viel lernen kann. Dies ist sinnvoll, wenn wir dafür Zeit haben und uns darauf einlassen wollen.
Geht es aber darum, Alltagsaufgaben zu lösen, verzögert und verzettelt eine solche Debatte und erzeugt bei Kindern zudem Illusionen über ihre Machtstellung in ihrer Lebenswelt. Bestimmte Regeln werden gesetzt; sie müssen befolgt werden, damit das Leben weiter geht. Vielleicht sind sie ungerecht, vielleicht sind sie nicht der Weisheit letzter Schluss; aber Erzieher oder Behörden etc. haben sie nun mal so gesetzt. Und deshalb gelten sie. Es ist ehrlicher als Erzieher zu diesem Sachverhalt zu stehen, als Begründungen zu erfinden, die Kinder nur zu leicht widerlegen. Es ist auch ein Akt der Erziehung zur Wahrhaftigkeit.
Erziehung zur Wahrheit?
„Sag jetzt endlich die Wahrheit!“ Das ist einfacher gefordert als es in Wahrheit ist. Mit der Aufforderung verlangen wir, dass die Aussage dem real Geschehenen entsprechen soll. Diese Forderung setzt sehr viele abgeschlossene und beherrschte Entwicklungsschritte voraus. Nach den Ausführungen oben kann es sich auch immer nur um eine relative Wahrheit handeln. Was wir eigentlich verlangen können und müssen ist Ehrlichkeit. In der theologischen Philosophie wurde dafür der Begriff „Wahrhaftigkeit“ geprägt: Wir fordern, vom Kind (und vom Erwachsenen), so genau wie möglich sein Erleben des Vorgefallenen in Worte zu fassen.
Die Fähigkeit, in diesem Sinne die „Wahrheit“ zu sagen, entwickelt sich frühestens ab dem Kindergartenalter und wird bis zum Tode nie absolut beherrschbar sein! Die Wahrnehmungsverzerrungen, die durch eigene Interessenlagen, aufgebaute Vorstellungen und Vorurteile erzeugt werden, sind auch beim besten Selbstbeobachter nie ganz auszuräumen.

Verlangen wir mit der Forderung nach „Wahrheit“, dass die kindliche Aussage mit unserer Wahrnehmung – oder gar nur Vorstellung des Geschehens – übereinstimmt, wird die Forderung leicht zu einer Mogelpackung mit Folgen! „Wahrheit“ verkommt zu einer kriecherischen Unterordnung unter die geäusserte Beurteilung des Erwachsenen. Zwar wird ein Konflikt vermieden, aber die Erziehung zu Ehrlichkeit oder Wahrhaftigkeit erleidet einen schweren Schaden.

Gelehrige Schüler, die an der Prüfung den Wortlaut gewisser Lehrsätze der Schulbücher wiedergeben, beweisen keinesfalls, dass sie irgend etwas verstanden haben. Wer nicht Gelegenheit bekommt, seine Sicht der Geschehnisse in eigenen Worten darzustellen, lernt keine Ehrlichkeit.

Vom Lügen

Als Erziehende müssen wir damit umgehen lernen: Nicht jeder, der selber an seine Aussagen glaubt, bringt auch die reale Nachricht, also einen Bericht, der mit dem Geschehen identisch ist. Hier ist der Unterschied zwischen Täuschung und Selbsttäuschung zu bedenken. Wer als wahr ausgibt, an das er selber nicht glaubt, der lügt. Wer an seine Wahrheit glaubt, kann sich aber dennoch täuschen. Der Grat zwischen Täuschung und Selbsttäuschung ist schmal und von aussen manchmal nicht leicht zu erkennen.

Es gibt aber natürlich Lügner und Lügnerinnen. Ein schlechter Lügner, dem seine Falschaussage bewusst ist, gerät meist in eine grobe innere Verunsicherung, die sogar von aussen auffallen kann.

Zuviel Erfolg beim Lügen ist sehr ungesund, weil es die innere Klarheit aufzulösen hilft. Das Lügen wird zu einer bequemen Flucht davor, sich Konflikten zu stellen. Zudem lehrt das psychologische Experiment, dass Menschen ihr inneres Gleichgewicht dadurch wiederherstellen, dass sie ihre Lüge mit der Zeit selber als Wahrheit glauben. In diesem Prozess löst sich die Grenze zwischen Trug und Selbsttäuschung mehr und mehr auf. Solche Menschen riskieren, dass sie ein wesentlichen Pfeiler ihres inneren Haltes und Kompass verlieren. (Nur angedeutet sei die Gefahr, wenn sich Politiker zu stark den Leitlinien einer PR-Kampagne zu Wahlzwecken beugen).

Daher ist der Umgang mit dem Lügen von grosser erzieherischer Bedeutung. Mehr davon im nächsten Heft.

Rudolf Buchmann Psychotherapeut SPV/ASP

Stichworte: Weltbild, Realität, Ethik, Wahrnehmung, Bewusstsein, Wahrheit