Lügen, Schwindeln, Phantasieren
Wie erziehen wir Kinder dazu, die Wahrheit zu sagen? Stimmen die moralischen Gesetze mit der Lebenswirklichkeit überein? Üb immer Treu und Redlichkeit und das „gute Ruhekissen“: Sind das nicht selber Lebenslügen?
Eine einfache und alte pädagogische Binsenwahrheit sagt: Kinder lernen Ehrlichkeit, indem sie erleben, dass es gut ist für es, die Wahrheit zu sagen und indem es nicht erlebt, dass die Wahrheit sagen, schlecht ist für es. So einfach der Lernmechanismus, so schwierig ist er in die Praxis umzusetzen. Denn ist es nicht ein Schwindel, dem Kind nur Geschichten vorzusetzen, in denen das Festhalten an Treu und Glauben immer belohnt wird; das Kind in einer Weltsicht gross werden zu lassen, wonach die Erfolgreichen immer auch die Guten, die Ehrlichen sind? Kann eine Gewissenserziehung das Leben hindurch halten, wenn sie auf Unwahrheit und Phantasiewirklichkeiten aufgebaut ist?
Alle Eltern kennen die Geschichte, dass bei einem Streich, einer eingeschlagenen Scheibe oder ähnlichem, mehrere Versionen bestehen, wie es dazu gekommen ist. Jeder behauptet steif und fest, der Spielkamerad habe eben dazu angestiftet oder den verhängnisvollen Schuss eingeleitet. Das Ziel der Geschichten ist unzweifelhaft die Wirklichkeit so zu erfassen, dass man selber keinen Schaden aus dem Ereignis davonträgt. Dies ist eigentlich ein biologisch völlig zweckmässiges Verhalten.
Diese Anmerkung ist psychologisch betrachtet nicht so zynisch, wie sie vielleicht dem moralischen Standpunkt erscheinen mag. Es ist eine wesentliche Aufgabe der Phantasie, die Welt im Bewusstsein so zu gestalten, dass sie schöner, angenehmer oder vielleicht überhaupt erst erträglich wird. Dies bedeutet für unser Thema aber, dass die Phantasieverformung der Weltwahrnehmung um so dringlicher wird, je bedrohlicher oder unakzeptabler die Realität erscheint.
Wirklichkeit von Phantasie trennen: Ein Lernprozess
Die Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Phantasie untersteht im Alltag nicht unserem bewussten Entscheid. Sie erfolgt permanent. Wir täuschen uns gerne darin, dass wir uns zutrauen die Dinge unverfälscht so wahrzunehmen wie sie sind. Dies hängt aber wiederum mit der moralischen Forderung zusammen, die verlangt das Unvermeidliche zu vermeiden. Dieses "bei der Wahrheit bleiben" kann, wie wir eigentlich schon seit Kant wissen, nur als Absicht gefordert werden, weil es nur beschränkt möglich ist. Moralisch kann nur gefordert werden, dass sich jeder bemüht, danach zu streben, die Wirklichkeitswahrnehmung nicht zum Schaden anderer zu verfälschen.
Für das Verständnis der kindlichen Verfälschungen der Realität kommt erschwerend hinzu, dass das Trennen zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen Traum, Wunschvorstellung und Alltagserleben erst allmählich und auf sehr komplizierten Wegen gelernt wird. Wir müssen jedenfalls die Frage stellen, ab wann denn ein Mensch überhaupt fähig ist zu lügen. Lügen setzt voraus, dass die Vorstellung "wie es war" und die Vorstellung "wie man es lieber hätte" getrennt im Bewusstsein vorhanden sind. Lügen heisst, sich bewusst für die Wunschvorstellung zu entscheiden, um einen Vorteil zu erhalten oder einen Nachteil zu vermeiden. Es setzt also einen ziemlich klaren Kopf voraus.
Phantasieren oder Lügen?
Gerade dort, wo massive Affekte im Spiel sind, ist es oft - schon für viele Erwachsene - schwierig einen klaren Kopf zu behalten, wieviel schwieriger für Kinder. Vor dem Kindergartenalter, ja bei vielen Kindern bis ins erste Schulalter hinein, ist die Trennung von Wirklichkeit und Traum/Phantasie nur dann möglich, wenn sie emotional wenig engagiert sind, beziehungsweise keine starken Eigeninteressen bei der Beurteilung der Situation zu vertreten haben.
Vielen Kindern wird unrecht getan mit dem Vorwurf zu lügen, wo sie doch einfach phantasieren. Ertappen sie sich aber selber oder haben wir ein Einsehen in die kindliche Seelentätigkeit, wird denn auch durch den Ausdruck ^Schwindeln" oder "Flunkern" die moralische Verurteilung abgeschwächt, die im Vorwurf "Lügen" enthalten ist. Tun wir das nicht, wird das Kind für etwas moralisch verantwortlich gemacht, das gar nicht seinem bewussten Entscheid untersteht:
Eine nach unserer Moralität selber unmoralische Anschuldigung und moralische Überforderung seiner geistigen Kräfte.
Zur Wahrhaftigkeit erziehen
Müssen wir demnach darauf verzichten, das Kind zur Wahrhaftigkeit zu erziehen? Wir dürfen darauf aus moralischen, aber auch aus Gründen der gesunden Verstandesentwicklung nicht verzichten. Überforderungen sind jedoch zu vermeiden. Sonst verwirren wir nicht nur die Moralität, sondern auch das Selbstvertrauen des Menschen in seine eigenen Fähigkeiten, die Welt zu verstehen - die Basis, um sich vor Geistesverwirrung zu schützen.
Erzieherisch ergeben sich zwei Konsequenzen:
- Einerseits müssen wir gleichgewichtig Freude an der Realität wie an der Phantasie fördern und Schritt für Schritt ihre Trennung einführen. Dies ist der Anteil der kognitiven Erziehung.
- Andererseits muss die Erziehung darauf achten, dass der gefühlsmäs-sige Druck (die Verführung), die Realität zu verfälschen, niedrig bleibt.
Die Intelligenzerziehung soll sowohl zur Realitätsbeobachtung hinführen als auch zum phantasievollen Umgang mit dieser Realität. Dies sind zwei verschiedene Wege des Zugriffes auf die Wirklichkeit. Das Kind sollte in beiden unterstützt werden und zunehmend lernen, diese auseinanderzuhalten. Als Voraussetzung zu phantasievollem Umgang mit der Welt gehört das Kennenlernen verschiedener Veränderungstechniken (Werken, Denken, Alternativen suchen) dazu. Die Grenze zwischen Denken und Phantasie beziehungsweise Kreativität ist gar nicht leicht zu ziehen. Lügen ist hier zunächst eine Veränderungstechnik auf der Ebene der Vorstellungen. Lügen kann intelligent sein!
Soziale Realität
Die zweite angesprochene Ebene ist weder technisch noch kognitiv. Sie bezieht sich auf die soziale Realität. Das Lügen kann hier nicht isoliert gesehen werden. Es geht um die Frage des verantwortungsvollen Einsatzes der menschlichen Möglichkeiten im Umgang mit der Welt. Nur Menschen können lügen. Damit stellt sich die Frage in den Rahmen der Erziehung, Verantwortung zu tragen und Verzicht zu ertragen. Hier geht es immer auch um Fragen der Verhältnismäs-sigkeit und Zumutbarkeit. Ist dem Kinde zuzumuten, einen Unfug auf sich zu nehmen und zu bekennen, wenn ihm schwere Strafe droht oder tiefe Beschämung zu befürchten ist? Der Umgang mit Strafe hier und jetzt bestimmt wesentlich die Ehrlichkeit in einem kommenden "Fall". Mit harten Strafandrohungen und abschreckenden Strafdurchführungen fördert man jedenfalls die Ehrlichkeit nicht. Wir wissen, dass sie die Unehrlichkeit viel eher in die tieferen Schichten der Persönlichkeit verdrängen.
Menschen mit überstarkem Gewissen sind nicht ohne weiteres ehrlicher oder stärkere Persönlichkeiten. Oft sind sie gerade ängstlicher und eventuell verschlossener oder verschwommener sich selber gegenüber. Überstarkes Gewissen kann auch zu Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit führen, so dass diese Menschen in ihrer Welterfassung leichter die Schuld auf andere projizieren und eigene Tendenzen und Verhaltensweisen bei sich selber weniger sehen können. Die Angst vor den Folgen, wenn sie sich selbst durchschauen würden, ist zu gross, als dass sie dies wagen können. So kommt aus der moralischen Ebene wieder eine unerwünschte Wirkung auf die kognitive Ebene zurück. Moralität kann zur Selbstgerechtigkeit und Ursache der Täuschung führen.
© Dr. Rudolf Buchmann