Du sollst nicht lügen!

Das Ideal werden die meisten Erziehenden anerkennen. Wie erlangt ein Mensch aber überhaupt die Fähigkeit, die Wahrheit zu sagen? Und wo sind die Grenzen? Kann die Forderung auch Fehlentwicklungen und seelische Störungen auslösen?

Sag die Wahrheit, ist ein berechtigter Anspruch, um zwischenmenschliches Vertrauen aufzubauen und zu erhalten. Aber: Lügen oder „die Wahrheit sagen“ setzt viel Bewusstsein voraus: Erstens die Wahr-nehmung – also das sinnliche Erfassen der Welt ausser uns und in uns selber. Zweitens die korrekte Verarbeitung der Sinneseindrücke (das Denken); drittens die Ausdrucksmittel, um das Erfasste auszudrücken. Diese 3 Fähigkeiten wirken nicht unabhängig voneinander: Die Wahrnehmung ist in Wechselwirkung mit Mitteln des Denkens und Ausdrucksmitteln. Die Sprache z.B. lenkt, was wir beachten oder übersehen. Darin enthalten sind immer Denkabläufe (Verstehen, Werten), was beachtenswert ist.

Lüge ich, wenn ich etwas nicht beachtet habe oder erst dann, wenn ich es nicht ausspreche? Lüge ich, wenn meine eigenen Überlegungen und Erklärungen in das Gesehene einfliessen?

Innen-Aussen-Grenze

Unter dem Begriff Realitätskontrolle bearbeitet die Psychoanalyse die Frage, wie ein Mensch lernt, äussere Sinneseindrücke von eigenen Fantasien zu unterscheiden. Die Realität des Säuglings kennt die Grenze zwischen innen und aussen nicht: Sein Hunger gehört derselben Welt an, wie die Rassel in der Hand. Für ihn gibt es keine von der inneren Welt geschiedene äussere Welt. Das bedeutet auch, dass alle Wahrnehmung des Äusseren völlig von inneren Zuständen gesteuert ist.

Das Idealziel der Erziehung ist, Kinder zu befähigen, diese Grenze strikt zu ziehen. Das habe ich „aussen“ gesehen (so war es „objektiv“), das waren meine Gefühle, Überlegungen etc. („subjektiv“) Nur wer diese Grenze willentlich und bewusst verwischt – obwohl er sie innerlich zieht! – der lügt.

Seien wir aber ehrlich! Können wir Erwachsenen das im Alltag? Erfahren wir nicht immer wieder das Gegenteil: Im Zorn glauben wir eine scherzhafte Bemerkung sei eine schwere Attacke auf unseren Selbstwert. In der Angst ist jedes Knacken im Gebälk das Geräusch des Einbrechers. Im Einkaufsstress erleben wir das Kind nervig und ungezogen, das sich vom extra für es hingestellten Süssigkeitenkasten nicht trennen will. Zwar stimmt – es hat ungehörig getrotzt und getobt, aber haben wir auch den Anlass dazu gesehen? Weshalb haben wir das Kind gemassregelt und nicht den Kasten umgestossen?

Innensteuerung der Wahrnehmung

In der Erkenntnistheorie wurde dieser Einfluss als „forschungsleitendes Interesse“ bezeichnet: Wissenschaftlich bewiesen wird nur das, wonach wir fragen und forschen. Die Fragestellung bestimmt einen wichtigen Teil dessen, was als Antwort gefunden wird. Dies gilt auch im Alltag: Es gibt „wahrnehmungsleitende“ Gefühle, Interessen, Ideale und Vorstellungen. Die Innenwelt bestimmt mit, was wir wahrnehmen, was und wie wir es verstehen; erst recht, was wir aussprechen.

Zur Innenwelt gehört im obigen Beispiel des tobenden Kindes auch die Furcht vor Konflikten mit Stärkeren: Was wir gemeinhin als Feigheit bezeichnen, kann allerdings oft ebenso gut Klugheit genannt werden. Feig hingegen ist vielleicht das Massregeln des Kindes: Am schwächeren wird der Zorn abreagiert, der eigentlich dem Verkaufskonzept im Supermark gelten sollte. Oder blenden wir die Wahrnehmung des Verführungskastens vorsichtshalber aus? Es ist einfacher störende Dinge zu übersehen, als sich von ihnen plagen zu lassen! Das ist ein gesunder Selbstschutz, um sich nicht dauernd aufregen zu müssen! Aber: Ist das Verhalten nicht bereits Lügen auf der Handlungsebene? Erziehen wir – ohne es zu merken – hier ein Kind bereits zur Unaufrichtigkeit? Vielleicht etwas radikal gedacht, aber das berühmte Körnchen Wahrheit gilt es zu überlegen.

Aussenwelt und Neugier

Merksatz 1 der Wahrnehmungslehre: Wir sehen nur das, was wir auch sehen „wollen“.

Leider ist es noch komplizierter: Wenn ein Kleinkind eine Laborausrüstung anschaut, hat es keine Ahnung, was das sein könnte; der erwachsene Laie ahnt, dass damit – vielleicht – Blutuntersuchungen gemacht werden. Ich könnte mich aber auch täuschen. Ist es ein Messgerät für radioaktive Strahlung? Und wenn ja, - was wird da überhaupt gemessen. Viel „Realität“ kennen wir auch als Erwachsene fast nur als sprachliche Etiketten. Gegenüber dem Kleinkind ist das schon ein tüchtiger Vorsprung, aber von Kenntnis der Realität zu sprechen, wäre doch mächtig geblufft. Neugier möchte diesem Bluffen entgehen. Leisten kann sie sich aber nur, wer Zeit hat. (Vgl. Artikel im nächsten Heft: „Die Beobachter“)

Merksatz 2: Wir sehen im allgemeinen das, was wir verstehen.

„Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn“ dichtete Matthias Claudius schon vor zwei Jahrhunderten und es stimmt immer noch!

Alltags-Fiction

Unser Alltag besteht zu einem übermächtigen Teil aus „Fiction“, aus für wahr gehaltenen Geschichten, die uns erzählt wurden. Es geht gar nicht anders. Wer wollte in seinem Leben zugleich überprüfen, ob die Darstellungen über die Stromerzeugung stimmen, die das Elektrisch im Haushalt ermöglichen, und gleichzeitig durchschauen, wie der Geldmarkt tatsächlich den Wert seines Ersparten beeinflusst? Ganz zu schweigen von allen Kenntnissen, die wir über die Nachbarn, die Schule und die Konflikte im Kaukasus haben.

Nicht jede Kenntnis ist notwendig, um sich im eigenen Leben zu orientieren und eigenes Handeln zu planen. Nur zu oft sind jedoch auch diese Kenntnisse ungenau oder unrichtig, also nicht wahr! Nicht wahr? Sogar was wir selbst erlebt haben, kann sich in der Erinnerung anders färben. Wir täuschen uns über frühere Abmachungen. Es fällt uns wie Schuppen von den Augen und im neuen Lichte sieht alles anders aus.

Die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit ist nicht so klar und fest, wie unsere Wunschfantasien das vorgaukeln. Wir interpretieren uns die Realität gerne nach unseren Wünschen und schauen lieber nicht so genau hin. Alle Nachrichten, auf die wir uns stützen (müssen!), sind Erzählungen davon, was jemand anderer gesehen, gehört und sich so oder anders erklärt hat: Fiktionen.

Beruhigende Geschichten

Das schöne an Krimi’s ist, dass nach all den Täuschungen die Wahrheit ans Licht kommt. Am Ende wissen wir: So war es wirklich! Die spannungserzeugenden Zweifel sind ausgeräumt: Es war nicht so, wie alle dachten, wie sie sich erzählten oder wie sie glaubten. Krimis (auch Western, Terminators usw.) zelebrieren den Sieg der Wahrheit und die Illusion der Eindeutigkeit. Daher sind sie als Genre so beliebt, weil sie jeden Zweifel beruhigen.

Leider ist es im realen Leben nicht so. Das Leben ausserhalb dieser Traumwelten ist wesentlich anspruchsvoller. Leben, handeln und politisieren in Traumwelten der klaren Botschaften ist attraktiv; die ungebrochene Überzeugungskraft ihrer Verfechter verführerisch. Lügen sie?

Der Zweifel, dass es auch anders sein könnte, als wir uns selber und alle glauben machen wollen, öffnet die Chance, Entdecker und Erfinder zu werden. Allerdings sind Zweifler meist nicht beliebt. Sie reissen den Vorhang weg, der uns schützt vor dem Blick auf die verwirrende, unheimliche Fülle des Unbekannten.

Die Erkenntnis, kaum etwas zu wissen oder sich schwer getäuscht zu haben, kann Entsetzen, Schrecken und Angst auslösen. Der grosse Moralist Max Frisch schrieb dazu das Drama Andorra. Der auflösende Schluss, in dem der Zuschauer erfährt wie es wirklich war, verschleiert nicht die Warnung, dass wir uns grauenhaft in der Beurteilung von Umständen und anderen Menschen täuschen können.

Phantasieren oder Lügen

Was heisst das jetzt für den Umgang mit „Lügen“? Wir haben gesehen: Wo massive Affekte im Spiel sind, ist es oft schwierig, einen klaren Kopf zu behalten. Oft wird den andern dann vorgeworfen, emotional und nicht sachlich zu sein. Der Vorwurf gehört jedoch meist selber schon in die eigene Traumwelt. Die gewaltige Emotionalität, mit der solche Anwürfe meist vorgetragen werden, deuten auf panische Angst hin, nicht mehr vermeiden zu können, in die unheimliche Fülle des Unbekannten zu blicken. Lügen sie?

Wieviel „Objektivität“ dürfen wir von Kindern erwarten? Im Lauf des Kindergartenalters baut sich die Fähigkeit, Wirklichkeit und Traum/Phantasie zu trennen, laufend auf. In dieser Phase ist die Erziehung besonders gefordert, Kinder nicht als Zeugen zu missbrauchen und deren Beobachtungen durch Lügenmärchen, Beeinflussungen (etwa im Familienstreit) oder durch fehlende Realerfahrungen zu verwirren. Emotionales Engagement und starke Eigeninteressen bei der Beurteilung der Situation haben nur bedingt grösseren Einfluss auf die korrekte Widergabe als bei Erwachsenen. Zudem sind Kinder oft von der Kenntnis der Konsequenzen entlastet, so dass ihre Beobachtungen weniger von Interessen gelenkt sind. Oft bringen auch oder gerade kleine Kinder in Familientherapien erstaunlich präzise und fruchtbare Beobachtungen ein. Anderseits kann die geringere Erfahrung und der fehlende Horizont, der dem Gesehenen Bedeutung verleihen würde, zu Fehlinterpretation und daraus erfolgenden Fehlwahrnehmungen führen. Daher muss die Glaubwürdigkeit kindlicher Aussagen jeweils sehr individuell bestimmt werden.

Vielen Kindern wird unrecht getan mit dem Vorwurf zu lügen, wo sie doch in einer Phantasie leben. Aus Einsicht in die kindliche Seelentätigkeit wird mit den Ausdrücken „Schwindeln" oder "Flunkern" denn auch moralische Verurteilung abgeschwächt, die im Vorwurf "Lügen" enthalten ist. Zu Recht: Differenzieren wir nicht, wird das Kind für etwas moralisch verantwortlich gemacht, das gar nicht seinem bewussten Entscheid untersteht: Eine nach unserer Moralität selber unmoralische Anschuldigung.

Verzicht auf Wahrhaftigkeit?

Dennoch dürfen wir nicht darauf verzichten, das Kind zu Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit anzuhalten; dies sowohl aus Gründen der Moralität als auch der geistigen Gesundheit.

Die moralische Forderung bildet die Grundlage der Lebensfähigkeit jeder sozialen Gemeinschaft: Vertrauen in ehrliche Aussagen und ehrliches Handeln sind die Grundlage allen Zusammenlebens, das nicht ausschliesslich auf Kontrolle und Gewalt aufgebaut sein will.

Für die Verstandesentwicklung ist bedeutsam, dass die Trennung zwischen Innen- und Aussenwahrnehmung gefördert wird: Intelligenz ist die Fähigkeit das Beobachtete richtig und zweckmässig in eine innere und eine äussere Ordnung zu bringen. Nur das ermöglicht bewusstes, erfolgreiches Handeln. Dazu gehört das bestmögliche Trennen zwischen innerer Kreativität (Fantasie) und äusserer Realität (Vorstellungen). Wir sollten Kinder dazu anhalten, nach dieser Trennung zu streben – trotz dem Bewusstsein, dass dies nie ganz möglich ist; denn Auflösung oder fehlender Aufbau dieser Grenze führt in Wahn und geistige Störung.

Fordern wir dies jedoch zu früh, zu brachial oder in Überforderungssituationen, verwirren wir nicht nur die Moralität, sondern auch das Selbstvertrauen des Menschen in seine eigenen Fähigkeiten, die Welt zu verstehen.

Erzieherische Konsequenz

Es ergeben sich zwei Konsequenzen:

- Einerseits müssen wir Freude und Interessen an der Realität (Beobachten, Forschen, Experimentieren usw.) gleichgewichtig fördern wie an der Phantasie (Gestalten, Erzählen, Tanzen usw.) und dem Kind helfen, die Unterscheidung Schritt für Schritt zu festigen. Dies ist der Anteil der kognitiven Erziehung.

- Andererseits muss Erziehung darauf achten, dass der gefühlsmässige Druck und die Verführung, Realitätswahrnehmung den eigenen Wünschen (Ängsten etc.) anzupassen, so niedrig bleibt, dass Kinder nicht in unbewusste und ungesteuerte Realitätsflucht getrieben werden.

Intelligenzerziehung soll sowohl zur Realitätsbeobachtung hinführen als auch zum phantasievollen Umgang mit dieser Realität. Dies sind zwei verschiedene Wege des Zugriffes auf die Wirklichkeit. Das Kind sollte in beiden unterstützt werden und zunehmend lernen, diese auseinanderzuhalten. Als Voraussetzung zu phantasievollem Umgang mit der Welt gehört das Kennenlernen verschiedener Veränderungstechniken (Werken, Denken, Alternativen suchen) dazu. Die Grenze zwischen Denken und Phantasie beziehungsweise Kreativität ist oft nicht leicht zu ziehen. Lügen ist hier zunächst eine Veränderungstechnik auf der Ebene der Vorstellungen. Lügen kann intelligent sein!

Soziale Realität

Lügen hat nicht nur den oben betrachteten individuellen Aspekt. Abgesehen vom „sich selber belügen“, bezieht sich Lüge immer auf Zuhörer, Mitmenschen. Nur Menschen können lügen. Lügen ist eine bestimmte Form des zwischenmenschlichen Umganges untereinander und steht in direktem Zusammenhang mit der Erziehung zu sozialer Verantwortung.

Für den Aufbau dieser Fähigkeit sind Verhältnismässigkeit und Zumutbarkeit unserer Forderungen zentral. Kann dieses Kind in seinem jetzigen Alter die erwartete Verantwortung tragen? Waren für es die Konsequenzen seines Tuns absehbar? Sind die angedrohten Konsequenzen tragbar? Ist Ehrlichkeit zumutbar, wenn ihm schwere Strafe droht oder tiefe Beschämung zu befürchten ist?

Immer muss abgewogen werden, was dem Kinde zuzumuten ist. Das Zumutbare soll aber auch gefordert und durchgesetzt werden. Es muss lernen, die Verantwortung für seinen Unfug auf sich zu nehmen und zu bekennen. Der erzieherische Umgang mit der Ursachenklärung und der Strafandrohung bestimmt wesentlich die Ehrlichkeit für kommende "Fälle". Mit harten Strafandrohungen und abschreckenden Strafdurchführungen fördert man jedenfalls die Ehrlichkeit nicht. Viel eher lassen sie Unehrlichkeit in tiefere Schichten der Persönlichkeit absinken. Menschen (Kinder) „flüchten“ aus Furcht in die Selbsttäuschung.

Dabei ist zu beachten, dass Kinder „moralische Strafen“ manchmal härter aufnehmen als physische – zumal wenn die Strafe zeitlich nicht klar begrenzt ist und durch kein eigenes Tun abgebüsst werden kann. Stumme Verachtung, Beziehungsabbruch oder betrübt-drückende Stimmung sind meist furchteinflössender als eine klare Strafhandlung, die vorübergeht. Noch besser wenn sie dem Kind eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung anbieten.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Wahrnehmung, Wahrheit, Kindergartenalter, Schulalter, Realität, Fantasie, Bewusstsein