Aufmerksamkeit
Wenn Sie einen wachen Säugling unbefangen beobachten, können Sie Aufmerksamkeit in ihrer offensten Form erleben. Aufmerksamkeit ist eine Tätigkeit. Die Augen schauen, sie nehmen nicht einfach auf oder leiten Reize von aussen nach innen. Sie suchen aktiv die Welt zu erfassen.
Aber nicht alle Blicke richten sich nach der äusseren Welt. Oft – so können wir annehmen – richtet sich der Blick auch nach innen. Wie ein Sinnieren oder ein träumender Blick sieht es dann von aussen aus. An den Augen können wir diesen hochbedeutsamen Austausch von innerer und von äusserer Welt gut erfassen. Natürlich arbeiten auch Haut (Empfindungen) und Ohr an diesem Kontakt. Aber das Auge sendet – für den Aussenstehenden am leichtesten wahrnehmbar – die Signale aus dem Innenleben.
Blicke
Strahlende Augen, verschleierter Blick, freudeblitzend oder mild glänzend: Wir können die innere Befindlichkeit der Mitmenschen, ja auch jene der höheren Säugetiere, an ihren Augen ablesen. Sie strahlen aus, was das Gemüt bewegt. Die Augen werden daher auch als Spiegel der Seele bezeichnet. In dieser Formulierung ist jedoch erst eine passive Bewegung (der Ausdruck) beschrieben.
Darüber hinaus ist das Auge zugleich das Organ der Blicke. Augen sind auch Werkzeuge der Tat. Der fordernde Blick, der missbilligende Blick oder gar „wenn Blicke töten könnten ...!“ Blicke nehmen Kontakt auf. In moderner Sprache ausgedrückt: Augen und ihre Blicke sind Kommunikationsmittel: Ausdruck, Motivation und Appell zugleich dienen sie. Blicke wollen die Aussenwelt erfassen, sie aber auch bewegen. Eine beliebte Vorstellung in Mythen und im magischen Denken ist die Steuerung der Materie durch den machtvollen Blick. Umgekehrt lösen Blicke Ängste aus: Im jüdisch-christlichen Glauben erscheint am Beginn der Bewusstwerdung des Menschen der Wunsch, sich vor dem Strafenden Blick zu verbergen. Der Wunsch vor dem Auge Gottes zu fliehen, nimmt die Vertreibung aus dem Paradies vorweg. Auch „Gesehen werden“ ist immer zweischneidig: Wir möchten gesehen werden und Aufmerksamkeit haben, aber wir möchten uns nicht schämen müssen. Zwischen den beiden Polen pendeln Hoffnung und Furcht im Austausch der Blicke.
Aufmerksamkeit
Der schamlose oder unverschämte Blick ist der negativ beurteilte Bruder des unbefangenen, furchtlosen Blickes. Damit sind wir bei der erzieherischen Frage, was lehren wir Kindern: Was sollen sie wahrnehmen, was dürfen sie anschauen und was sollen sie nicht sehen. Das innere Lenkungsorgan, das durch diese Erziehung aufgebaut wird, ist die Aufmerksamkeit.
Wir sehen ja bekanntlich vieles, das wir gar nicht wahrnehmen. Macht man uns darauf aufmerksam, dass wir doch da und da auch dabei waren, kommt eine Erinnerung: Tatsächlich, da war doch was. Im neuen Lichte bekommt es Bedeutung. Wir nehmen es jetzt erst wahr, was wir „eigentlich“ schon vorher gesehen haben. Daher genügt es auch nicht, Anweisungen oder Unterrichtsinhalte einfach gesagt zu haben: Erst was persönlich Bedeutung bekommt, kann wahrgenommen werden und dann vielleicht sogar haften.
„Übersehen“ ist – gerade in unserer Zeit der Reizüberflutung – notwendiger denn je. Kinder, die zu viel wahrnehmen und nichts ausblenden können, gelten heute als medikamentenreif: Sie haben ADHS. Kinder, die nur das wahrnehmen, was ihnen vorgeschrieben wird, haben es zunächst einfacher und sind bequemer (– zu führen). Welche allerdings langfristig mehr vom Leben haben, müsste noch genauer untersucht werden.
Erfahrung: pro und contra
Was vom Kind gesagt ist, gilt natürlich auch für die Erwachsenen, Väter, Mütter, Lehrerinnen; von Geschwistern und Forschern. Wohin fällt der Blick? Ist er unverstellt? Was dürfen wir nicht sehen und wohin wird unser Blick ständig gedrängt? Die Eroberungsfeldzüge auf die Aufmerksamkeit werden immer besser (professioneller) organisiert. In unserer Entwicklung laufen wir Gefahr, dass unser Blick mehr und mehr „routiniert“ worden ist: Die immer wieder begangenen Strassen der Wahrnehmung bestimmen und kanalisieren unsere Aufmerksamkeit.
Positiv formuliert vereinfacht sich unser Leben durch den Erfahrungsschatz: Wir wissen, worauf wir nicht mehr achten müssen, weil es für uns, für unsere Orientierung und unser Verhalten unbedeutend ist. Wegschauen erleichtert das Leben ungemein. Negativ formuliert schränken uns unsere Vorurteile, Denkschablonen und Scheuklappen massiv ein, die grosse Bandbreite unserer Möglichkeiten wahrzunehmen.
Wir können etwas dagegen unternehmen, wenn wir uns unseren eigenen verstellten Blicken nicht einfach ausliefern (oder es uns darin gemütlich machen) wollen. Dazu braucht es allerdings Anstrengung und Konzentration. Selbstreflexion ist ein erster Schritt: Sie braucht Zeit und Kraft, sei es auf den Wegen, die Meditationsübungen empfehlen, seien es in Besinnungswochen, sei es mit Hilfe einer Psychotherapie. Alle Wege erfordern grosse Anstrengungen, um eigene Schablonen aufzuspüren, sie zu hinterfragen und den Blick wieder auszuweiten.
Ablenkung
Suchen Sie Ablenkung? Von was lassen Sie sich ablenken, freiwillig oder unwillig? Sprechen wir von Ablenkung, meinen wir, dass die Aufmerksamkeit auf etwas hingelenkt wird, das anderes aus dem Blickfeld drängt. Ablenkungsmanöver können gezielt organisiert sein, um Dinge einzufädeln, auf die niemand aufmerksam werden soll. Unser Alltag – gerade in einer direkten Demokratie, aber auch in der Überfülle der Geschäfte – ist voll von gezielten Ablenkungsmanövern.
Bei drückenden Sorgen oder Pflichten, die im Moment nicht erledigt werden können, oder bei Schmerzen, gegen die nichts vorgekehrt werden kann, ist Ablenkung erholsam, manchmal sogar heilsam. So hat auch Ablenkung einen doppelten Wert, je nachdem ob wir sie bewusst einsetzen können oder ihr halbbewusst verfallen.
Auch Kinder benötigen manchmal Ablenkung. Oft jedoch verhindert sie Konzentration auf die Dinge, die für sie, für uns oder für unsere Mitwelt (!) wichtig wären oder sein sollten. Die alltägliche Bequemlichkeit unterstützt das Ablenken quasi natürlich. Aufmerksam sein auf unspektakuläre Dinge, ist immer mit Anstrengung verbunden.
Erziehen auf Gegenseitigkeit
Was zieht unsere Aufmerksamkeit an, was jene des Kleinkindes? Mit andern Worten: Was macht attraktiv? Schauen Sie Kleinkindern zu! Es sind in erster Linie „Dinge“, die sich bewegen, die auf sie zukommen (aber nicht zu rasch!) und Augen. Je kleiner ein Kind desto stärker ist es auf die Aufmerksamkeit anderer angewiesen. Es sucht die Aufmerksamkeit zu erregen, indem es sich bewegt, mit Stimme oder Aktion ruft: „Schau mal ... Ich bin da!“ Es sucht Augen in seiner Umwelt! Kinder, deren Eigenleben zu wenig Aufmerksamkeit erhält, laufen Gefahr, aufsässig immer und überall – oft für andere störend – Aufmerksamkeit einzufordern. Manche verkriechen sich allerdings auch in eine eigene Fantasiewelt, in der sie fremde Blicke verschmähen.
Die anspruchslose Aufmerksamkeit der Eltern ist Basis der Konzentrationsfähigkeit des Kindes. Eltern und HorterInnen müssen da sein, Zeit haben und aufmerksam sein (können!) auf das Alltägliche und Unspektakuläre in den kindlichen Entdeckungsfahrten und Experimenten. Sie müssen sich für das interessieren können, was vom Kind her kommt. Eltern müssen Kinder nicht ständig auf Dinge hinweisen, motivieren oder das Bewusstsein der Kinder bestimmen. Nur zu oft sind Erwachseneneinfälle oder gar (Trainings-)Programme eine Ablenkung vom Eigenleben des Kindes. Die Attraktivität von Tieren, beruht nicht zuletzt darauf, dass sie – neben dem Streichelfell auch Augen haben, dass sie den kindlichen Blick erwidern und – vor allem Hunde und z.T. auch Katzen – immer einfach da sind und gegenseitige Aufmerksamkeit offenkundig und widerspruchslos schätzen.
Sicher: Hinweise und Belehrungen haben ihren erzieherischen Platz. Aber es ist eine Frage des Masses. Lenken Sie die Aufmerksamkeit des Kindes auf etwas Schönes, folgt es oft gern dem, was ihm gezeigt wird. Aber noch wichtiger ist, dass Sie sich vom Kind führen lassen, hin zu dem, was es entdeckt, wichtig findet oder amüsant. Zusehen und Zuhören, also Aufmerksamkeit, ist das „A und O“ aller Erziehung – auf Seiten der Erwachsenen ebenso wie auf Seiten der Kinder.
© Dr. Rudolf Buchmann