Ein Säugling lernt Sprechen

Verstehen und Verständigen gehen Hand in Hand. Sprache ist die grundlegende Fähigkeit, um sich in der materiellen und der soziale Welt zurecht zu finden, sie zu verstehen und in ihr willentlich zu handeln.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Menschen ist ihre Anpassungsfähigkeit an die verschiedenartigsten Umgebungen. Unabhängig von Abstammung oder Hautfarbe können sich Säuglinge und Kleinkinder in jede Umgebung hineinleben, sei es Urwald, Grossstadthinterhof oder Palast. Sie bringen alle Voraussetzungen mit, im Austausch mit ihren Mitmenschen die Gebräuche und Vorstellungen der angetroffenen Kultur zu erwerben.

Wert der Sprache

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Sprache: Sie ermöglicht die Verständigung zwischen den Mitmenschen und den Austausch der Erkenntnisse und Glaubenssätze der jeweiligen Kultur. Angeboren ist Sprache aber nicht. Angeboren ist nur die Sprachfähigkeit, also die Möglichkeit eine Sprache aufzubauen. Das ist zugleich Vorteil und Bürde. Je einfacher Lebewesen in der Evolutionsstufe sind, desto eindeutiger und genetisch festgeschrieben sind die Reaktionen. Die Verknüpfung von bestimmten Reaktionen auf bestimmte Reize ist eindeutig und starr: Diese Kreaturen brauchen kaum zu lernen, sind aber dafür wenig flexibel bei starken Umgebungsveränderungen zu überleben.

Menschen brauchen deshalb eine so lange Kindheit, weil der Ausprägungen ihrer Sprache (ihrer Austauschsysteme) und ihrer Anpassungsstrategien so vielfältig sind, dass sie mehr Zeit brauchen als z.B. die eines Hundes. Diese Zeit müssen wir Kindern auch zugestehen. Kinder sind sehr verschiedenartig, welche Verständigungssysteme (Spracharten) sie mit Leichtigkeit aufnehmen und welche ihnen schwerer fallen und mehr Zeit brauchen. Ob mündliche, gestische, mimische, zeichnerische, schriftliche oder formelhafte Verständigung bevorzugt werden, können Eltern oder Lehrer nur sehr beschränkt beeinflussen. Für verschiedene Aufgabenstellungen und Lebensentwürfe sind auch verschiedene Kommunikationsformen vorteilhaft. Die Vielfalt der Begabungen stärkt die Anpassungsfähigkeit der Menschheit als Ganzes und ermöglicht ihre arbeitsteilige Kultur.

Spracherwerb

Sprache besteht aus der Verbindung von Laut oder Zeichen mit einer mehr oder weniger präzisen Bedeutung. Um Sprache zu erwerben, müssen wir also drei Entwicklungen im Auge behalten: 1. Den Erwerb oder die Auswahl von Lauten und von Zeichen; 2. den Aufbau von Vorstellungen und 3. die Verknüpfung der beiden. Aus dieser Verknüpfung entstehen Wörter, die für uns eine Bedeutung haben. Erst wenn der gesprochene Laut uns auch etwas sagt, beherrschen wir die Sprache. Das ist besonders wichtig für das Vorgehen beim Spracherwerb: Laute nachplappern dient vielleicht dem Aussprachentraining. Ohne Verknüpfung mit dem Inhalt (dem vom Wort bezeichneten) verstehen wir die Sprache nicht und „erzählen“ vielleicht etwas, das wir gar nicht sagen wollten. Auswendig lernen allein, bedeutet also keinesfalls, eine Sprache zu lernen.

Soll ein Erwachsener eine Fremdsprache lernen, geht es hauptsächlich um die 3. Aufgabe: Er wird sich neue Verbindungen seiner bereits erworbenen Vorstellungen mit bestimmten Lauten und Zeichen einprägen müssen. Bald merken wir dabei aber, dass viele Bedeutungen einer fremden Sprache nicht so leicht in Deckung mit unseren Wörtern zu bringen sind. Anders gesagt: Menschen, die in einer andern Sprache reden, denken auch etwas anders. So ist Sprachen lernen ohne das Bemühen um Kulturverständnis der direkte Weg zu Missverständnis oder Unverständnis zwischen den Kulturen.

Spracherwerb ist eine vielschichtige geistige Anstrengung. Er vermittelt nicht nur Sprechen, später Schreiben und Lesen, sondern immer zugleich auch Aufbau von Vorstellungen.

Zu den Anfängen

Bald nach der Geburt wird der Säugling mit Lautmalereien beginnen: Ein Geräuschteppich, der alle möglichen Zisch, Blubber- und Nasallaute enthält – Vorstufen zur Lautsprache. Aus diesem „Breitband-Laut-Brei“ werden nun gleichsam Laute herausgefiltert, die zu der Sprache passen, die die Umgebung spricht. Einerseits hört der Säugling, dass bestimmte Laute öfters ertönen, andere selten oder gar nie, andererseits reagieren Eltern, Geschwister und alle, die sich auf das Kind einlassen, mit Antwortlauten, die durch hin und her senden verstärkt werden.

Für den Erwerb der Sprachkompetenz sind deshalb Zeit, Zuwendung und Freude an den Lautspielen in den frühen Lebenswochen und .monaten gefragt. Nach einiger Zeit beginnen die ersten Verknüpfungen von Sinneseindrücken mit Lauten: „Schau mal, das ist ein Ball! – B-a-ll“ – „Mama!!!“ – „Ja ich komme“.

Ein ungeheuer grosses Arbeitsprogramm wartet auf die Kleinkinder. Bis sie alle Laute aussortiert und richtig zugeordnet haben! Wie oft entsteht ungewollte Komik, weil ein Wort falsch gesetzt wird. Alle lachen – das Kleinkind ist blamiert. Solche Szenen können sich zu Sprachbehinderungen (Hemmungen, Sprachverweigerung, Stottern) auswachsen. Man kann die Chance aber auch nutzen, wenn daraus bewusste Sprachspiele mit Kindern entwickelt, die Sprache schon ein bisschen beherrschen. Gezielte Falschbenennungen, die das Kind durchschaut, lösen bei allen viel Heiterkeit aus und festigen das korrekte Verständnis.

Sprachaufbau

Sprache dient verschiedenen Zwecken und so kann man auch zwischen verschiedenen Sprachtypen unterscheiden.

In der frühesten Phase ist Sprache appellativ: Die Laute sollen etwas auslösen: „Pappiiii!“ heisst: „Komm‘ endlich“ vielleicht auch „hör‘ auf!“. Der Laut ist ein Appell und soll den Hörer zu bestimmtem Verhalten veranlassen. Auf dieser Stufe kommunizieren auch Tiere untereinander und wir mit Säugetieren.

Früh führen wir Kinder auf die beschreibende Sprache hin. „Dies ist ein Tisch“ der Laut bildet den Gegenstand ab. Es ist keine Absicht oder Aktion damit verbunden. Die Sprache lenkt die kindliche Aufmerksamkeit – resp. das Kind will die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf einen Gegenstand lenken. Diese Stufe könnten wir die Bildungsstufe nennen. Sie zielt – im Lauf der Erziehung immer vielfältiger und abstrakter – auf Kenntnis und Verstehen von Zusammenhängen.

Erst etwas später sollten wir mit der beurteilenden und bewertenden Sprache beginnen; denn erst ältere Kinder können verstehen. „Dass Du die Hände wäschst vor dem Essen, ist gut“ Wir verknüpfen die Beschreibung (Hände waschen) mit dem Werturteil „gut“. Damit hoffen wir, uns künftig den Appell „Wasch die Hände!“ zu ersparen, weil die Verknüpfung mit der Positivwertung ausreichen sollte, dass das Kind dies von selber tut. Voraussetzung dabei ist natürlich, dass das Kind gut sein will. Damit sind wir aber über den sprachlichen Aspekt der Erziehung hinaus, was den Umfang dieses Artikels sprengen würde.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Säuglingsalter, Sprachentwicklung, Weltbild