Die Welt ist sprachlich
Ohne Sprache gibt es keine Verständigung, aber noch grundlegender: Es gibt auch kein Verstehen. Darum ist das Sprechen mit Säuglingen von frühester Zeit an entscheidend für den Aufbau auch für Gemüt und Verstand, nicht nur für die Sprachfertigkeit.
Vielleicht widersprechen Sie meinem ersten Satz mit der Begründung, auch durch Gesten und Zeichen liesse sich Verständigung erreichen. In eingeschränktem Masse trifft dies zu; aber nur für Menschen, die zwar verschiedene Sprachen sprechen, aber dennoch ihre eigene Sprache haben.
Wörter sind nicht nur für einen Gedankenaustausch da, sondern sie haben uns von frühester Kindheit an geprägt, wie wir die Welt sehen, erfassen und verstehen. Der Aufbau und die Logik unserer Sprache beherrscht auch die Logik unseres Denkens. Im Artikel in letzten Heft (2/04) haben wir die Bedeutung des Selbstbewusstseins für die geistige Förderung erörtert. Hier wenden wir uns dem Aufbau des Weltverständnisses zu.
Geburt: Eine neue Welt beginnt
Mit der Geburt Ihres Säuglings ändert sich nicht nur körperlich sehr viel, auch die Sinne, die sich auf die Aussenwelt richten, werden schlagartig neuen Reizen ausgesetzt. Ganz neue Eindrücke stürmen auf den Säugling ein: Licht!, Temperaturunterschiede, unvertraute Töne, vielfältige Empfindungen, und es fällt ihm zunächst schwer zu entscheiden, ob diese von innen oder von aussen kommen. Genauer gesagt kann das Neugeborene noch gar nicht zwischen innen und aussen unterscheiden. Alles muss gelernt, d.h. erfahren und eingeordnet werden.
Der anlaufende Prozess des Einordnens ist gewaltig und sehr anstrengend. Eigentlich muss man davon ausgehen, dass der Normalzustand der ersten wachen Zeiten als Reizüberflutung anzusehen ist, aus dessen Flut der Säugling laufend auswählen muss, was bedeutsam ist und was er ausgrenzen oder abblocken kann. Vieles versteht er nicht, reagiert mit Angst oder Ärger darauf. Aber selbst die Gefühle sind noch nicht klar unterscheidbar, gehen ineinander über. Es darf uns also nicht überraschen, dass Säuglinge manchmal schreien – und niemand weiss weshalb. Auch dass sie viel Schlaf und Erholung brauchen, ist leicht verständlich.
Wiederholung und Vergleichen
Der gesunde Säugling bringt aber die Fähigkeiten des Gedächtnisses und des Vergleichens auf die Welt mit. Was an Eindrücken immer wieder auftaucht, wird ihm langsam vertraut. Was von dieser Gleichförmigkeit abweicht, ist unvertraut. Mit Wiederholung und dem Aufbau vertrauter Laute, Lichtmuster, taktiler Eindrücke usw. erwächst ihm innere Sicherheit. Es bildet sich ein Erfahrungskern, ein Gefühl, sich auf bestimmte Abläufe und Muster verlassen zu können. Dieser Kern bildet gleichsam ein inneres Refugium der Sicherheit, auf das er sich zurückziehen kann, wenn die Reizüberflutung zu mächtig wird. Deshalb sind stabile Verhältnisse in ersten Tagen und Wochen für den Säugling sehr zentral.
Je gefestigter und grösser dieser innere Kern anwachsen kann, desto sicherer und stabiler fühlt sich der junge Mensch. Das Vortasten in die äussere Welt oder anders formuliert, das sich unbekannten Reizen aussetzen, wird umso interessanter je stärker die Rückzugsmöglichkeiten auf Vertrautes gesichert sind. Diesen inneren, gesicherten Kern - eine verlässliche Ordnung aus eignen Körperempfindungen und Reizmustern der Aussenwelt zusammengesetzt - bezeichnete der Entwicklungspsychologe Erikson als Urvertrauen. Mit ihm ausgestattet kann die geistige Eroberung der Welt beginnen.
Im Land der Riesen
Viele Märchen zeichnen diese Erlebensphase in einer Weise nach, die uns Erwachsenen erlaubt, das Erleben der Kleinsten nachzuvollziehen. Zunächst ist das meiste fremd. Wie soll eine Schnauze eines Hundes eingeordnet werden, wie gehören Gesicht und Hände der pflegenden Person zusammen? Welche Eindrücke bilden eine Einheit ab, welche gehören zu verschiedenen Wesen. In Fabelwesen, die z.B. Menschenkörper mit Tierköpfen verbinden, ist eine andere Ordnung der Welt abgebildet als wir „gebildete“ Erwachsene sie als selbstverständlich wahrnehmen.
Das Zimmer, in dem ich lebe ist riesen gross – auch wenn die Eltern über enge Wohnverhältnisse klagen. Kommt wir als Erwachsene in Räume der Kindheit zurück, in denen wir seit Kleinkinderzeit nicht mehr drin waren, staunen wir meist, wie ganz anders der Raum „in der Realität“ ist als er in der Erinnerung ausschaut. Gewöhnliche Handgriffe, die schon dem Kindergärtler eine Selbstverständlichkeit sind und die er nicht hinterfrägt, sind für das Kleinkind reine Zauberei. Er kann nicht einordnen, dass sich z.B. Gegenstände auflösen und plötzlich wieder da sind. Der Kindergärtler lacht über so viel Dummheit, weil er weiss, dass der Ball, der hinter dem Rücken gehalten wird, ein Ball bleibt und weiterhin da ist – auch wenn er ihn nicht sieht. Das kleine Kind bestaunt die ungeheure Macht grösserer Menschen, die Gegenstände auflösen und handkehrum wieder neu erschaffen können.
magische Teilhabe
Aber ein bisschen kann es teilhaben am grossen Rätsel und an der Zaubermacht der andern. Gelingt es ihm durch Laute oder Bewegungen mitzubestimmen, ob Gegenstände verschwinden oder auftauchen, ist es hoch erfreut und stolz. Es beherrscht die Riesen, wenn ein bestimmter Schrei oder ein bestimmter Laut von ihm, dazu führt, dass der Gegenstand – z.B. ein Nuggi – wieder auftaucht. Je öfter dies gelingt und je sicherer das Kind sein kann, dass sein Verhalten einen von ihm erwarteten Vorgang auslöst, desto sicherer und mächtiger kann es sich fühlen, desto mutiger wird es werden.
Was es noch nicht verstehen kann, ist die Tatsache, dass das Gelingen vom guten Willen der Mitspielenden abhängt. Seine Macht ist illusionär. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass mit den Kleinsten nicht zuviel Schabernack getrieben wird. Sie haben noch keinen Humor, sondern sind angewiesen darauf, dass die Erwachsenen oder älteren Geschwister einigermassen mitspielen. Denn diese – von aussen betrachtet – Selbsttäuschung ist ein wichtiger Baustein, um innere Zuversicht und Selbstvertrauen aufzubauen. Würde die Entwicklung auf diesem Niveau begrenzt bleiben, käme der Mensch nicht über ein Lernen im Reiz-Reaktionsmuster hinaus. Ein Reiz würde immer dasselbe oder gar nichts bedeuten. Es bliebe in der Alternative gefangen entweder dem Zwang zu folgen, das immer gleichen Reaktionsmuster abzuspulen oder in den Panikzustand zu verfallen, den mächtig drängende, aber unverstehbare Signale auslösen. Vielleicht könnte es diese ignorieren (Totstellreflex), aber nicht umdeuten. Es könnte auch keinen Humor entwickeln, weil es keine innere Distanz zu den Erfahrungen aufbauen könnte.
Sprache als Stabilität
Schon bald gewinnt das Kleinkind aber eine weitere befreiende Dimension hinzu, weil es eine innere Ordnung der Eindrücke aufbauen kann, etwa nach dem Muster: Ein Ball ist ein Ball, es gibt verschiedene Bälle; aber die runden hüpfenden Dinger sind alles Bälle. Es schafft die Verallgemeinerung Es gewinnt eine erste Klassifizierung der Dinge, die ausserhalb von ihm sind. Erst wenn diese Ordnungen genügend gefestigt sind, kann mit ihnen gespielt werden; dann beginnt Humor als gewollte Falschzuordnung: Man sagt Wurst, macht eine rundende Geste, so dass der „geneigte Zuhörer“ merkt, dass Ball gemeint ist.
Das hier beschriebene Kleinkind hat aber schon sehr viel gelernt, wenn es weiss, dass ein Ball ein Ball ist. Und dieses Lernen geht nicht ohne Sprache vonstatten. Die Erfahrung mit diesen weichen runden Gegenständen, die ich betasten, fallen und rollen lassen kann, verknüpft sich mit einem Laut: „Ball“. Wenn ich diesen Laut ausstosse, gelingt dank magischer Teilhabe, dass mir der Ball zugerollt wird. Aber manchmal ist es nicht der gewohnte Ball, sondern ein anderer. Offenbar gibt es eine Ordnung von Lauten und Gegenständen, die zusammengehören. Das ist oft noch sehr verwirrend und es gibt Missverständnisse. Ich meinte den roten Ball nicht den blauen. Aber offenbar bezeichnet Ball nicht die verschiedene Farbe, sondern andere Eigenschaften. Den sehr harten Ball bekomme ich mit diesem Laut nicht, bis ich entdecke, dass ich Kugel sagen muss.
Die Sprache stabilisiert durch ihre ordnende Kraft das Chaos der Eindrücke zu einer überschaubaren Welt, in der ich etwas wissen – d.h. in ein Gefüge einordnen – kann, auf das ich mich darauf verlassen und deshalb auch planvoll handeln kann.
So tastet sich das Kind in die Ordnung seiner Welt hinein, die weitgehend durch die Ordnung seiner Sprache strukturiert ist. Dadurch prägt die Sprache die Welt des Einzelnen; denn seine Welt ist nie die ganze Wirklichkeit, sondern immer nur der Ausschnitt daraus, den der Blickwinkel seiner Sprache ihm öffnet.
© Dr. Rudolf Buchmann