Verantwortung

Verantwortung für sich selber und für andere hat viele entwicklungspsychologische und erzieherische Voraussetzungen. Emotionale, intellektuelle und Motivationskräfte sind ebenso beteiligt wie Vorstellungen und Erfahrungen in der gelebten und der vermittelten Welt.

Voraussetzung, um „ich selbst“ sagen zu können, ist die emotional-intellektuelle Fähigkeit zwischen Ich und Du (Nicht-Ich) zu unterschieden. Bis Ende des ersten Lebensjahres erreicht diese Fähigkeit eine gewisse Festigung. Die Trennung ist nie endgültig gesichert, sondern bleibt eine lebenslange Aufgabe. Ein Kern-Ich ist jedenfalls geboren.

Erst im Nein-Sagen-Können erhält dieses „Ich“ die Entscheidungsfähigkeit hinzu: „Ich selber!“ Mit der Geburt des Willens und seiner erzieherischen Pflege im Verlaufe des 2. und 3. Lebensjahres entwickelt sich allmählich eine Voraussetzung für den Aufbau von Verantwortung. Wer nicht „nein“ sagen kann, kann auch keine Verantwortlichkeit entwickeln. Der Süchtige, der seiner Getriebenheit kein Nein entgegenstemmen kann, ist vermindert zurechnungsfähig. Der Überangepasste, der nicht im Stande ist, sich gegen Befehle und Zumutungen von aussen zu wehren, wird die Verantwortung für sein Tun und Lassen den Befehlenden, den Umständen oder fremder Autorität zuschieben – bis zu einem gewissen Grade zurecht.

Eltern-Kind-Verantwortung

Mit dem Aufbau der Möglichkeiten ist aber der Schritt zur Errichtung der Verantwortlichkeit nicht getan. Sie kommt nicht von selber. Gerade im Kindergartenalter geschieht hier Entscheidendes. Es gilt dem Kind Verantwortung zu übertragen. In diesem Alter beginnt die Aufgabe, Eigenverantwortung und elterliche Verantwortung gegeneinander auszubalancieren: Ein Erziehungsgeschäft, das erst mit der psychologischen Volljährigkeit endet.

Dieser Weg ist mit etlichen Kämpfen, meist vielen Missverständnissen und Vertrauenskrisen gepflastert! „Ich kann selber!“ schreit das Kind und rennt kopflos auf die Strasse hinaus. Eltern können keinen Unfall riskieren und schreien ebenfalls: „Bleib sofort stehen!“ Dieser „Fall“ ist einfach, weil ich sagte, dass das Kind „kopflos“ rennt. Wieviel Kopf ist aber dabei, wenn es auf eine Gartenmauer klettert? Soll es die Folgen seines Tuns erleben und eventuell hinunterstürzen? Was lernt es, wenn es stürzt; was lernt es, wenn es eben so gut balancieren kann, wie es sich das zu getraut hat?

Verantwortung hat also auch sehr viel mit Vertrauen und Misstrauen zu tun! Fürsorgliche Verantwortung der Eltern signalisiert Kindern nicht selten, dass sie ihm „nichts“ zutrauen. – Dieser Konflikt bleibt übrigens allen Familie über die ganze Erziehungszeit erhalten: Denken wir zum Beispiel an die Ausgangsregeln: Wieviel können wir den Jugendlichen vertrauen, dass sie Gefahren sehen, sich richtig einschätzen und korrekt verhalten? Wieviel Kontrolle müssen wir bei uns behalten? – Knifflig und niemals allgemeingültig zu raten.

Eigenverantwortung

Worauf müssen wir vertrauen können, wenn wir den Kindern die Verantwortung „guten Gewissens“ überlassen wollen? Das kommt wesentlich auf das emotionale und intellektuelle Alter des Kindes an. Dieses ist nicht direkt vom Lebensalter abhängig. Daher kann Erziehung nicht „juristisch“ geregelt werden. Schon 12-jährige können in Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit „volljähriger“ sein als manche 20-jährige!

Eigenverantwortlichkeit entwickelt ein Kind aber nur durch die Erfahrung der Eigenverantwortung. Die erzieherische Schwierigkeit liegt darin, das zuträglich Mass für genau dieses Kind einzuschätzen, dem die Verantwortung übergeben wird. Wir als Eltern und Erzieher müssen einschätzen, wieviel wir dem Kind zumuten können und wollen.

Hier spielen die Gefühle und Haltungen der Eltern eine ebenso grosse Rolle wie ihre Fähigkeit, die jeweiligen kindlichen Vorstellungen und Einsichtsfähigkeit richtig einzuschätzen. Ängstliche Eltern neigen dazu – angesichts der von ihnen gesehenen Gefahren – ihre Kinder über Gebühr zu „schützen“. Sie trauen ihnen nichts zu, mahnen laufend – verstecken die Spindeln. Unerfahren wie Dornröschen im Märchen fehlen dem Kind dann die Erfahrungen, wenn es auf derart unverstehbare Momente trifft und verletzt sich erst recht.

Am andern Pol können unvorsichtige oder unachtsame Eltern Kinder vorzeitig in Verantwortung schicken, der sie nicht gewachsen sind. Misserfolge und/oder falsche Schuldzuweisungen schmälern dann die Entwicklung von Selbstvertrauen und Verantwortungsbereitschaft.

Hohn oder Beschämung, wenn sich ein Kind zuviel „Ich selber!“ zugetraut hat, ist eine weitere Gelegenheit, der Entwicklung zu selbstbestimmtem und verantwortlichem Handeln zu schaden: Verständlich zwar, dass Eltern sich nerven über zuviel und besserwisserische Ausflüge von Kindern in gefährliche Gefilde, aber besser wäre, über den eigenen Schatten („Ich hab’s dir ja vorausgesagt“) zu springen und zu trösten („nächstes Mal geht es vielleicht“) oder eventuell zu mahnen („besprich es vorher mit mir“).

Vorstellungen

Verantwortlich handeln setzt eine angemessene Einschätzung der Situation voraus. Ich unterscheide zwischen den realen Vorstellungen und den sozialen Vorstellungen:

Vorstellungen, wie die „Realität funktioniert“, werden breit gefördert. Die gesamte Wahrnehmung der Wirklichkeit – wie sie Elternhaus, Kindergarten und Schule lehren – ist ein unbestrittenes Zentrum unserer Bildungsanstrengungen: Wer die Realität nicht kennt (z.B. glaubt fliegen zu können) oder falsch versteht (z.B. der eigene Wille könne die Naturgesetze ausser Kraft setzen, magisches Denken) wird am sachlichen Misserfolg lernen. Darüber mehr im nächsten Artikel „Was ist Wahrheit?“

Oft führt der Aufbau der Vorstellungen über die soziale Realität demgegenüber ein Schattendasein. Wie ich meine zu Unrecht. Wir sollten Kindern neben den Naturgesetzen auch viel mehr die Gesetze des Zusammenlebens beibringen. Ich will nicht zurück zu den steifen „Benimm“-Corsettes der fünfziger Jahren. Aber Kinder müssen Vorstellungen aufbauen und mitgeteilt bekommen, was gefordertes Benehmen ist. Sie sollten auch Gelegenheit bekommen, dazu Stellung zu nehmen und dafür Verantwortung zu tragen – sei es in der Übernahme des Bestehenden oder in der Aushandlung neuer Normen. Meist beschränkt sich diese Kenntnis im kindlichen Erfahrungsraum aber auf das situative aktuelle Verhalten: Z.B. Stillsitzen und Schweigen in der Schule. Es ist wichtig, das zu können, reicht aber nicht für den Umgang auf dem Pausenhof z.B. Dort geht darum, wie man sich mit Anstand durchsetzen kann, andern hilft, Vergnügen aufzubauen, das möglichst alle umfasst etc.

Stufen der sozialen Ordnung

Pestalozzi sagte noch: „Im Hause muss beginnen, was glänzen soll im Vaterland“. Für den alltäglichen anständigen Umgang kann ich das heute noch unterschreiben. Da sich aber langsam die moderne Gesellschaft in die Kinderstube einmischt (TV, Werbung etc.), muss Erziehung darauf reagieren. Schon einem Kindergartenkind kann auf seinem anschaulichen Niveau bekannt werden, welche Absichten z.B. hinter Werbeversprechungen stehen. Vielleicht ist zwar das Problem gar nicht so neu, haben doch schon die Gebrüder Grimm dafür ein Märchen parat: Hänsel und Gretel erliegen den Verlockungen der Zuckerwerke am Hexenhaus, weil sie nicht geschützt und von niemandem gewarnt sind.

Worauf will ich hinaus? Es genügt nicht (mehr) den individuellen Umgang zwischen den Anwesenden allein zu fördern. Auch gesellschaftliche Umgangsformen – z.B. Wirtschaft, Geld, „Konsum“ – gehören von früh an in die Erziehung, um die Kinder nicht ungeschützt Versuchungen, Missbräuchen und einer Welt egoistischer Gewalt auszusetzen.

Noch viel breiter ist das ganze Feld der gesellschaftlichen Organisation. Vorstellungen darüber, wer etwas zu sagen hat und wer wenig oder nichts, gehören in Persönlichkeitserziehung hinzu, um sozial verantwortlich handeln zu können.

Erziehungsmittel

Unsere Vorstellungen von der Welt und ihren Wirkweisen werden massgeblich von Geschichten geprägt. Auf die grundlegendere Bedeutung davon komme ich im nächsten Heft zurück. Hier geht es mir um die Entwicklung einer Vorstellung der „sozialen Welt“ und der individuellen Verantwortung.

Es ist ein Unterschied, ob ein Kind in der magischen Welt eines „Harry Potter“ aufwächst oder sich mit Tierbüchern beschäftigt. Von welchen Kräften erzählen sie? Ist die Welt so organisiert wie Fussball? Fairplay und die Besseren gewinnen, wenn sie zusammen halten? (Blicken wir hinter die Kulissen wird klar, dass auch Fussball seine „Geschichte“ enthält, die die Realität färbt.) Oder sind Schicksale von armen Kindern (die schwarzen Brüder z.B.) oder die Masche der Kinderkrimis („böse Erwachsene, die von Kindern zur Strecke gebracht werden“) die prägenden Erfahrungen, die dem Kind die äussere Welt vermitteln? Welche Aufgabe und welche Werte zieht ein Kind für sich selber aus der Darstellung? Ob es sich mit Held oder Opfer identifiziert, können wir nicht steuern. Aber welche Lebenswelten wir ihm vorstellen, in die es einmal aktiv eintreten soll, entscheiden wir durch die Auswahl der Geschichten.

Die Vorstellungen von „Gut und Böse“ wird weniger in Unterrichtsstunden als in Erzählungen, Lektüre und Fernsehfilmen geprägt. Wer trägt die Verantwortung für das Böse in der Welt, wer bekämpft es? Oft sind Geschichten eher darauf aufgebaut, dass Böses von aussen kommt und Kinder eingeladen werden, sich mit dem „guten Dreinschläger“ zu identifizieren.

Gefragt sind Geschichten, die auf Kinderniveau Probleme des Zusammenlebens – und natürlich auch geglücktes Leben – erzählen, in denen Fürsorge, Freundschaft und Eigenverantwortung Lösungen ohne Verlierer bringen.

Auswahl

In der Verantwortung der Eltern liegt die Auswahl von Geschichten – vom Bilderbuch über TV-Sendung, Lesebuch bis zur CD und Songs. Je jünger die Kinder desto stärker. Sie haben entscheidenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung. Warum nicht auch ein Harry Potter, wenn es nicht einseitig nur dieses Genre ist.

Hier gilt es für Eltern auch Standfestigkeit aufzubringen, denn die kindliche Auswahl ist noch weit in die Schulzeit hinein nicht immer bekömmlich. Kleine – und grosse – Kinder springen oft auf Erschreckendes und Grausames an. Wir kennen den Kitzel unter dem Begriff „Angstlust“. Oft kommt – vor allem bei Knaben – ein Bluff hinzu, dass ihm das keine Angst mache; ein Wettbewerb, wer mehr aushalte. Diese Form der „Abhärtung“ finde ich nicht nur schädlich sondern sogar gefährlich. Die pädagogische Forschung hat viel Geld und Intelligenz aufgewendet, um Lernspiele zu entwickeln. Man weiss, dass spielerisch Gelerntes besser behalten und emotional tiefer verankert ist als auswendig oder „schulisch“ nach alter Didaktik Gelerntes. Weshalb sollte dies ausgerechnet bei Computerspielen nicht der Fall sein?

Hinter den daran geäusserten Zweifel (der wissenschaftliche Beweis fehle), hege ich einen tiefen Verdacht. Das Geschäft mit der Brutalität und Suchtspielen macht mehrere Milliarden Umsatz. Die Schädlichkeit von Rauchen wurde jahrzehnte lang ebenso als wissenschaftlich nicht bewiesen vertreten, bis korrupten Wissenschaftern nachgewiesen wurde, dass sie auf der Gehaltsliste eines Tabak-multi standen.

Was wird Kindern vorgegaukelt?

Ich glaube nicht an die Unschädlichkeit von Brutalofilmen und –computerspielen; denn zumeist bemerken die Beschädigten ihren Schaden erst, wenn es zu spät ist. Spiele-„consumern“ in Leserbriefen halte ich für keine glaubwürdigen Zeugen.

Es geht bei diesen Fragen aber noch um mehr: Welche sozialen Ordnungen werden Kindern hier vorgestellt? Auch wenn sie durchaus zwischen Spiel und Realität unterscheiden können (was ich allerdings manchmal auch bezweifle), lernen sie jedenfalls nichts Brauchbares für den Alltag. Es geht auch um die verlorene Zeit, sich eingehender mit der vorhandenen sozialen und realistischen Welt auseinanderzusetzen.

Daher gehört in die erzieherische Verantwortung der Eltern auch, den zeitlichen Mix einzuteilen, in dessen Rahmen sich Kinder mit handfesten anwesenden Realitäten (vom Basteln, Werken bis zu Gruppenspielen und Arbeiten) und Fantasiewelten (vom Buch über Computer bis zu TV) beschäftigen. Innerhalb der Fantasiewelt ist weiter zu unterschieden zwischen Realfantasien – also Geschichten, die sich so ereignen haben oder doch könnten und reiner Fantasy weit ab von der Realisierbarkeit. Dabei sollen sich Eltern immer bewusst sein, dass ein Kind bis weit ins Schulalter oft noch nicht wissen kann, was realistisch ist und was nicht. Die Überprüfungsmassstäbe sind hier noch weniger vorhanden als bei uns, wenn wir Zeitungsnachrichten lesen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: soziale Entwicklung, Gewissen, Selbstbild, Weltbild, Wille, Ethik