Sozialverhalten

Sozial angepasstes Verhalten will gelernt sein. In ihm spielen sehr verschiedene inte l lektuelle und emotionale Wirkkräfte zusammen. Wir alle kamen nur rudimentär ang e passt auf die Welt. Von allein entwickeln wir die Fähigkeit nicht.

Wir Menschen haben einen grossen Überlebensvorteil darin, dass unsere Anlagen bei der Geburt so flexibel sind. Menschen sind die anpassungsfähigsten Lebewesen; denn ihre In s tinktausstattung ist niedrig. Dies hat für unser Zusammenleben Vor- und Nachteile. Ein Säugling kann in jeder menschlichen Gesellschaft zu einem Mitglied der entsprechenden Gemeinschaft aufgezogen werden. Ein kleines Kind wäre fähig in Urwaldgemeinschaften zum „Ureinwohner“ zu werden, auch wenn es europäische leibliche Eltern hat. Auf der a n dern Seite steht als Nachteil, dass wir keine gültige Richtschnur für unser Verhalten in uns haben, sollten wir das sozial gelernte „vergessen“.

Sozialverhalten wird erworben

Im Laufe der ersten Lebensjahre werden auf meheren Ebenen grundlegende Weichen g e stellt. Aber auch später geht die Reise nicht geradlinig weiter. Wir können uns nicht dem Wandel verschliessen, der sich im öffentlichen Umgang dauernd ereignet. Lernen wir nicht dazu und verhalten uns wie vor 50 Jahren, würden wir überall anecken, Verdruss erleben und Verdruss verbreiten. Dies ist eine hohe Anforderung an den modernen Menschen. „Ric h tiges Verhalten“ wird ständig ausgehandelt. Wir haben es nie ein für alle Mal erworben.

Diese Erfahrung ist für etliche Menschen sehr verunsichernd. Sie sehnen sich nach Zeiten, in denen ein für alle mal klar war, was gilt und nach was sie sich zu richten haben. Unser Leben ist in diesem Punkt wahrscheinlich schwieriger geworden; denn das Wissen, was sich gehört, ist in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich. Solange klar abgegrenzte G e meinschaften weitgehend nur unter sich leben, merken sie nicht viel davon, dass ihr Glaube und ihr System des Zusammenlebens nicht natur- oder gottgegeben ist. Erst mit einer Durchmischung verschiedener Stile und Auffassungen von Mitmenschen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen , entsteht ein Rechtfertigungsdruck oder Erklärungsnotstand: „Weil wir es immer so gemacht haben“ genügt als Begründung nicht mehr, wenn es der Mi t arbeiter immer schon anders gemacht hat.

Der Groll der frühen Jahre

Bereits von Familie zu Familie, von Stadt zu Land und in den verschiedenen Milieus unte r scheiden sich Ansichten und Anforderungen massiv, wie man miteinander umzugehen hat. Deutlich wird uns das immer dann, wenn wir nicht zuhause sind oder wenn andere Sitten und Gebräuche in unseren Lebensraum eindringen. Zwar reden wir in dem Falle gerne von einer Bereicherung, aber diese „Bereicherung“ kann auch verunsichern, Ängste heraufb e schwören. Plötzlich soll nicht mehr gelten oder doch nicht für alle, was wir uns mühsam a n erzogen haben! Wie sollen wir von unsern Kindern z.B. Verzicht fordern, wenn in deren L e bensumfeld ganz andere Umgangsformen um sich greifen?

Neben dem Gefühl der Fremdheit kann sich bei Erwachsenen und Jugendlichen auch Groll darüber breit machen, dass die Gültigkeit von Sozialverhalten und eigenen Wertvorstellu n gen in Zweifel gezogen werden, wo wir doch mit Selbstdisziplin oder bitteren Erziehungse r fahrungen, uns diese Vorstellungen zu eigen gemacht haben. So können alte Schmerzen und Frustrationen hoch gespült werden, wenn der „Ehrliche der Dumme“ ist. Dieseb Titel gab U. Wickert (ehemaliger Nachrichtensprecher des ZDF) seiner Sammlung empörender Nac h richten (v.a. aus der Wirtschaft und Politik), die er über die letzten Jahre verbreiten musste.

Erziehen im Dilemma

Angesichts der Globalisierung von Spielen und Geschichten, die in „die gute Stube“ flattern, ist Erziehen zu Werthaltungen (ein Teil des Sozialverhaltens) deutlich schwieriger geworden. Wir müssen die eigene Verantwortung und die eigene Autorität in dieser Hinsicht immer mehr selber übernehmen und durchhalten. Ein Abschieben auf die moralische Autorität au s serhalb der Familie wird von Kindern rasch mit internationalem „Wissen“ oder mit Hilfe wei t verbreiteter Verhöhnungsgeschichten über herkömmliche Vorbilder und Autoritäten angegri f fen. Ich denke hier z.B. an die Aushöhlung der gesellschaftlichen Stellung und Verhöhnung von Berufsgruppen wie Polizisten (Bullen), Lehrern (Paukern) und Volksvertretern (z.B. in Polit-talk-Sendungen, „classe politique“).

Dennoch brauchen und wollen Kinder (und übrigens auch Erwachsene) eine verlässliche Orientierung. Diesem Dilemma können wir nicht ausweichen: Die Natur gibt uns keine ewig gültigen Massstäbe für sozial richtiges Verhalten. Wir Menschen brauchen aber solche Leitl i nien, wenn nicht ausschliesslich das Recht des Stärkeren gelten soll.

Nun haben verschiedene Gesellschaften verschiedene – teils unvereinbare – Verhaltensfo r derungen entwickelt. Der Anspruch mit unserem Lebensstil, die bedeutend besseren zu ve r treten, hat Europa über hundert Jahre lang in den Kolonialismus und den Faschismus getri e ben. Der fanatische Islamismus (nicht zu Verwechseln mit dem Islam!) tut dies heute offe n siv. Das Gefährliche an Fundamentalisten jeder Herkunft und Gesellschaft ist, dass jede Gruppierung den je eigenen unvereinbaren Standpunkt als allein gültig vertritt. Mit dem He r anwachsen sich bekämpfender „Fundi’s“ wächst die Gefahr gewalttätiger Auseinanderse t zungen auch bei uns.

Wollen wir verhindern, dass unsere Kinder Orientierung bei fundamentalistischen Kreisen und selbsternannten Führern suchen, müssen wir uns einen eigenen Standpunkt erarbeiten und den auch selber deutlich vertreten. Die Begründung kann nur in unserer eigenen Lebenseinstellung und unserem eigenen Beispiel liegen. Die eigene Glaubwürdigkeit der E r ziehenden macht Kindern den grössten Eindruck.

Psychologische Voraussetzungen

Bisher habe ich den Aspekt der Orientierung in den Mittelpunkt gestellt. Er ist sicher zentral in der intellektuellen Ebene. Nun handeln und verhalten wir uns aber die allermeiste Zeit nicht intellektuell, sondern emotional. Die Orientierung, die in Gesprächen und in bewusster Reflexion entsteht, bedarf einer Verknüpfung und Verankerung in den Gefühlen. Die spont a ne Selbststeuerung basiert auf Empfindungen wie Einfühlung, Mitleid, Interesse am andern. Ebenso wichtig ist die Selbstbeherrschung und die Willenssteuerung, was nochmals etwas grundlegend anderes ist als Einsicht und Gefühle.

In der entwicklungspsychologischen Hierarchie steht die intellektuelle Ebene am Schluss der Entwicklung. Zu allererst muss das Fundament der Bezogenheit zum Mitmenschen, das Ki n der mitbringen, ausgebaut werden. Gesunde Kinder sind früh auf die Aussenwelt orientiert. Sie sind aufnahmebereit für Stimmungswahrnehmungen, die über viele Kanäle laufen: Der Gesichtsausdruck, der Geruche, Geräusche aller Art und wohl noch einiges mehr sind schon bald von grösstem Interesse.

Es gibt Forscher, die heute wieder behaupten, das Kleinkind sei von Geburt an ein Egoist. Das stimmt insofern, dass der Lebenstrieb als zentrale Energie beschrieben werden kann. Wo es in Mangelsituationen gerät, wird es sicher so kompromisslos wie es eben geht darum kämpfen, dass es zu seiner Sache kommt. Selbst dabei soll aber nicht übersehen werden, dass das Bedürfnis nach Beziehung nicht „nur“ egoistisch ist. Die Einengung des forsche n den Blickes auf die den gierigen Aspekt des Säugling verrät nach meiner Überzeugung mehr über den Forscher und die Welt, in der er lebt. Jedenfalls passt diese Theorie zum Me n schenbild des Raubtierkapitalismus. Ein Menschenbild übrigens, das in der Philosophi e schichte schon durch die Jahrtausende geistert, aber nie als allein gültige Ansicht akzeptiert worden ist.

Die Rolle der Erziehung

Wie stark sich Egoismus breit macht, hat auch sehr viel damit zu tun, auf welche Härte oder eben Freigebigkeit ein Kind in den ersten Lebenserfahrungen trifft. Im ersten Lebensjahr kommt es darauf an, dass dem Kind einerseits ausreichend Schutz und Trost angeboten und anderseits Verzicht ermöglicht und gefordert wird. Trost braucht es deshalb, weil Verzicht schmerzt. Verzicht und Schmerz aushalten ist an sich keine Haltung, die natürlich vorgeg e ben ist. Vielmehr drängt das Leben nach Behebung des Mangels. Wo dies nicht gelingt, en t steht Angst. Es bedarf also der beruhigenden Versicherung, dass Verzicht auszuhalten ist und die Angst, Verzicht greife nach dem Lebendigen, gelindert wird.

Im folgenden Jahr erfolgt der Aufbau der Selbstwahrnehmung als Voraussetzung, sich selber zu verstehen und als Vorstufe, die Kontrolle über sich selber zu übernehmen. Erst auf der Basis dieser Vorerfahrungen und Fähigkeiten wird sich beim 4 – 5 jährigen Kind „das Gewi s sen“ melden. In ihm werden die Entwicklungsstränge zusammenfinden, die zuvor auf inte l lektueller Ebene (Orientierungswissen), auf emotionaler Ebene (soziale Gefühle) und auf Willensebene (Selbststeuerung, Zurückhaltung) aufgebaut wurden.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: soziale Entwicklung, Verhaltensmuster, Säugling, Kleinkind, Kindergartenalter, soziales Lernen