Nehmen ist seliger als geben
Ein ungestörtes und unverkrampftes Verhältnis zum Geben kann nur entwickeln, wer Partner erlebt hat, die annehmen können, was wir ihnen geben möchten. Wir lernen unser Verhalten nicht nur so, dass wir andere beobachten, uns ein Beispiel nehmen und dieses nachahmen. Wir lernen vor allem im alltäglichen Austausch.
Im Restaurant will eine Tischrunde zahlen. „Das übernehme ich!“ „Nein, wo denkst du auch hin, lass mich das zahlen!“ Ein „edler“ (?) Wettstreit entbrennt um die Frage, wer der Grosszügige sein darf. Oft habe ich schon beobachtet, wie sich die Mienen verdüstern, Kampfstimmung aufkommt und schlussendlich, mit der Formel „es ist mir aber nicht recht“ <gedankt> wird. Dass es ihnen nicht recht ist, wirkt für mich oft echter als dass diejenigen dankbar sind, die im Kampf um das Zahlen unterlegen sind.
Danken lernen
Ein Kind eröffnet eine Therapiestunde, indem es mir einige von seinen Kaugummis zustecken will. Schon merke ich, wie ich sage, die dürfe er doch für sich behalten und allein geniessen. Erwachsene sind doch grosszügig und so „finanzstark“, dass sie nicht einem Kind seine Süssigkeiten abnehmen, die es sich aus seinem geringen Sackgeld gekauft hat. Es ging eine ganze Zeit bis ich die Überheblichkeit und Zurückweisung meiner Handlungsweise durchschaute. Dann aber wurde mir die ganze Untugend bewusst, die sich in dieser „Bescheidenheit“ ausdrückt.
Das Kind hat mir schliesslich freiwillig ein Angebot gemacht. Vielleicht steht zwar die erlernte Haltung dahinter teilen zu sollen. Vielleicht aber ist es auch stolz, mir einmal etwas anbieten zu können und so das Gefälle umzukehren, das besteht zwischen dem der alles erhält und dem der immer nur gibt.
Ich habe gemerkt, dass ich in so einer Situation lernen muss, Danke zu sagen, anstatt mich in der Rolle des grosszügig Verzichtenden zu gefallen.
Geben und Nehmen
Geben und Nehmen ist das grundlegende Paar Verhaltensweisen, auf dem der ganze Austausch zwischen den Menschen aufbaut. Alle sozialen, wirtschaftlichen und sogar sexuellen Beziehungen bestehen aus Austausch. Und befriedigenden Austausch gibt es nur dort, wo diese beiden Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt sind und die Partner je ihren Part ungehindert übernehmen können. Wo kein Abnehmer ist, gibt es keinen erfolgreichen Geber. Wo kein bereitwilliger Geber ist, findet sich kein störungsfreies Nehmen.
In den ersten Stunden des Lebens beginnt dieser Austausch, der Tanz zwischen Geben und Nehmen. Von den ersten Stunden an werden Erfahrungen damit gemacht und so gelernt, wie die Beziehung zwischen Mutter und Säugling, zwischen Vater und Säugling, zwischen dem neugeborenen Leib und seiner Umwelt beschaffen ist.
Die Macht des Gebens
Im Sprichwort „Geben ist seliger denn Nehmen“ bildet sich eine Haltung gegenüber der Welt ab, die die beiden Verhaltensweisen ungleich bewertet. Wer gibt, ist wertvoller - wird gesagt. Diese Haltung bringt das Ungleichgewicht, die Wertung und damit den Wettstreit in eine grundlegende Wechselbeziehung hinein und hat weiterreichendere Folgen, als wir uns zumeist bewusst sind.
Provokant und überspitzt gesagt, handelt es sich bei dieser Haltung um die Überheblichkeit der Mächtigen; denn nur wer hat, kann auch geben. Wer annehmen muss, ist als armer Schlucker entlarvt. Er soll aber dafür auch noch danken! Dies fällt vielen Kindern bekanntlich nicht leicht und aus dieser Perspektive verstehe ich ihren Widerstand auch - als ein logisches Durchblicken von Beziehungsverhältnissen, die wir aus unserer Bewertungsverblendung nicht erkennen. Danken als Anerkennen resp. Festigung der Machtverhältnisse!
Auch wenn das Sprichwort wohl nicht nur materiell gemeint ist und „Geben“ auch im übertragenen Sinne zu gebrauchen ist, bleibt die moralische Höherbewertung des Gebenden (Spenders, Geldgebers usw.) bestehen und damit die Minderbewertung des Empfangenden.
Es ist kein Zufall, dass das „sag’ schön Danke“ in vielen Familien als schwierige Erziehungsaufgabe erlebt wird: Kann Dank denn überhaupt gefordert werden. Oder anders gefragt: Was wäre denn ein wirklicher Dank. Muss ich nicht auch dafür dankbar sein, dass ich etwas geben darf, dass der Partner - und sei es ein Kind - annimmt, was ich ihm geben will?
Familienrollen und Sozialprestige
Weiten wir diese Betrachtung auf die Rollenverteilung in Familie und Gesellschaft aus, so sehen wir, dass in unserer Tradition zumeist der Vater als Gebender - zumal in materiellen Dingen - erscheint, von dem die Frau und die Kinder als Empfangende abhängen. Umgekehrt gilt die Mutter in Gefühlssachen als die Spenderin und die Kinder als die Empfangenden. Wo Männer ihre Bedürftigkeit in emotionellen Bereichen leugnen, resp. verdrängt haben, ergibt dies eine Rangreihenfolge, in der die Väter oberste Spender sind: Die ganze Familie soll ihm dankbar sein, dass er sie ernährt.
Geht der Ehepartner für „Gefühlsdinge“ erst noch fremd, ergibt sich gar kein Ausgleich mehr. Dass er kläglich in seiner Rolle als Empfangender versagt, wird nicht bewusst und wird auch kaum diskutiert. Viele Männer und manchmal auch Frauen sind in dieser Hinsicht verkümmert oder empfinden mehr Scham oder Minderwertigkeit, wenn sie an diese Seite ihrer Existenz erinnert werden. Bedürftigkeit hat keinen hohen sozialen Rang.
Und doch ist das Eingestehen der eignen Bedürftigkeit, des ganzen Spektrums eigener Bedürfnisse gegenüber Mitmenschen, ein Kern des sozialen Zusammenlebens und der gegenseitigen humanen Achtung. Annehmen, was einem andere anbieten; bitten um das, was ich brauche: Nehmen und Aufnehmen können ist Voraussetzung für ein hierarchiefreies Zusammenleben. Wo die Anerkennung dieser eigenen Bedürftigkeit fehlt oder wo diese als Schande und Peinlichkeit hinter Fassaden versteckt wird, kommt es zu Gewalt: Anspruchshaltung; Nehmen als an sich Reissen und Rauben. Verbreitet sind Machoallüren, die als eigenes Recht fordern, was in liebevollerem Umgang als Wunsch und Bitte - als Bekundung eigener Bedürfnisse - mitzuteilen wäre.
Annehmen als Leistung und Arbeit
Es kommt vor, dass ich in einer Therapiestunde fast nur zuhöre. Ich erfahre Lebensgeschichten, schweres, bedrückendes, manchmal heiteres. Plötzlich beschleicht mich der Leistungsdruck: Was tue ich denn? Ich höre dem Patienten ja nur zu? Er bestreitet die Stunde, gibt mir Kenntnisse und Gefühle, Eindrücke und Einblicke. Ich müsste doch handeln, aktiv sein, zumindest Ratschläge erteilen: Mit andern Worten ich müsste doch etwas geben!
Hier ist sie wieder: Die Rollendefinition: Wertvoll ist der Geber, Arbeit und Lohn kann ich nur als Geber in Empfang nehmen. Die Entwertungen als Empfangenden und Aufnehmenden beschleichen mich.
Auch im Reden über den Erziehungsalltag wird viel mehr vom Geben gesprochen: Was müssen die Eltern nicht alles den Kindern mitgeben, aktiv sein, eingreifen, handeln. Sie werden meist nur als die grossen Geber überhaupt betrachtet. Und in der Schuldiskussion: Die Aktivitäten von Lehrerin und Lehrer, ihre Didaktik und Vorbereitung ist doch das, was weitherum zählt. Nur das wird beachtet.
Um sich zu einem sozialen und aktiven Menschen zu entwickeln, bedarf es aber gerade jener, die Zuschauen, Zuhören, Aufnehmen und Empfangen, was Kind und Schüler aktiv tun. Es bedarf der beglückten Freude über das Gesehene oder Gehörte, des Mitfühlens über das Traurige und Enttäuschende; das Ernstnehmen dessen, was jetzt - in der Gegenwart - geschieht; der ausgestrahlten Zuversicht, dass das Kind (resp. Patient) innere Stärken und Kräfte hat, Probleme zu lösen. Zwar heisst dies nicht, dass auf jeden Ratschlag verzichtet werden muss, aber oft sind Ratschläge nur die Wiederholung der Botschaft, du kannst es eben nicht allein; du bist angewiesen auf mich, den grossen Ratgeber und Spender der Weisheit.
Manchmal ist es die grössere Leistung, auszuharren, zuzuhören, mitzufühlen und zu ertragen, dass sich derzeit noch keine Lösung abzeichnet. Eine Leistung auch, die eigene Ohnmacht und Ahnungslosigkeit zuzugeben und damit dem Kind zu zeigen, dass wir auf gleicher Stufe stehen. Dass wir nur zusammen, im Austausch, als Gebende und als Aufnehmende weitersehen lernen oder uns beide zusammen entwickeln.
Der Geiz der ewigen Geber
Austausch kann nicht einseitig sein, sonst ist es kein Austausch mehr. Ich erlebe Menschen, die immer nur grosszügig sind und nichts für sich wollen, als sozial schwer gestörte Menschen. Sie gönnen ihren Mitmenschen nicht, ihnen etwas zu geben: Pathologischer Altruismus. Er nimmt das Sprichwort auf, wonach Geben seliger sei. Aber diese Seligkeit führt in die Einsamkeit. Mit der Zeit wird jeder Partner oder Mitmensch genug davon haben, immer nur der Beschenkte sein zu dürfen. Für den ewigen Geber wird es immer schwieriger „dankbare“ Abnehmer zu finden. Oft geraten solche Menschen in der zweiten Lebenshälfte (oder früher oder später) in eine Verbitterung. Sie haben es immer nur gut gemeint und wo bleibt jetzt der Dank?
Ja sie haben es gut gemeint, weil sie von Ideal verblendet glaubten, ihre Einseitigkeit sei die höherwertige als der Egoismus, der nur nimmt. Die Wahrheit aber ist, dass die Einseitigkeit das Schädliche ist. Nur Geben wollen ist ebenso selbstsüchtig wie das nur für sich haben wollen. Beide sind Egoisten.
Austausch und Gleichgewicht
Wie oben betont, beginnt das Wechselspiel von Geben und Nehmen mit den ersten Stunden des Lebens. Die Fähigkeit der Eltern vom Kinde anzunehmen, was es geben will ist ebenso bedeutend, wie ihre Fähigkeit dem Kind zu geben, was es braucht.
Dabei ist nicht zu übersehen, dass dieser Austausch nicht nur von den Eltern gemacht und beeinflusst wird. Jeder Säugling ist schon ein Individuum in der Art wie er trinkt, wie er annimmt, was ihm die Eltern anbieten. Es gibt auch schon ganz kleine Kinder, die nur schwer annehmen können. Dies ist für Eltern oft gar nicht einfach zu ertragen. Wie wird eine Mutter mit ihren Gefühlen des Zurückgestossen-seins fertig, wenn der Säugling kaum richtig saugen will? Wie erträgt es der Vater, wenn sich der Säugling von ihm abwendet und sich immer nur zur Mutter dreht. In den ersten Monaten entfaltet sich hier ein System der Familiendynamik, das oft ein Leben lang anhält. Dieses zu beeinflussen, erfordert von allen Beteiligten viel Geduld, Einfühlung und Bereitschaft, anzunehmen, was die Familienmitglieder geben wollen.
Es kann sich lohnen, diesen Austausch genauer zu beobachten und über die Rollenverteilung in der Familie zu sprechen. Eine glückliche Harmonie ergibt sich nur, wo diese Rollen gleichmässig verteilt sind; wo z.B. auch die Kinder merken, dass sie den Eltern etwas geben können. So erleben sie nämlich, dass sie ihnen etwas wert sind.
© Dr. Rudolf Buchmann