Ich selbst

(Sozialerziehung 3)

Soziales Verhalten ist eine grossartige Anpassungsleistung. Beziehungen leben kann nur, wer Mitmenschen gegenüber eigene Standpunkte und Wünsche deutlich machen und umgekehrt den anderen ernstnehmen kann. Anpassung darf nie einseitig sein, sonst entsteht keine soziale Fähigkeit, sondern nur Unterwerfung oder Machtkampf.

Wenn Martin Buber sagte, der Mensch wird am Du zum Ich, drückt er eine grundlegende Erkenntnis über den direkten Zusammenhang von Selbstwerdung und Beziehung aus. Die grosse Entwicklungsaufgabe des Kleinkindes zwischen 1. und 3. Lebensjahr ist die Entwicklung des „Ich-Bewusstseins“: Ich bin „etwas“ für mich selber! Ich kann getrennt leben von Dir! Und dennoch geht das Leben ohne ein Dich nicht weiter. Selbständigkeit und Abhängigkeit sind zwei Pole, zwischen die unser aller Leben eingespannt ist.

frühe Erfahrungen

Was die frühen Erfahrungen über Autonomie (Unabhängigkeit von anderen) lehren und wie Bewusstsein, auf andere angewiesen zu sein, ausgestaltet wird, prägen die Entwicklung von Selbständigkeit und Abhängigkeit ein ganzes Leben lang. Es geht um das eigene Empfinden, auf wen ich mich verlassen kann.

Am einen Pol steht die Selbstüberschätzung des Egomanen. Ich bin auf niemanden angewiesen, bin der Grösste und Mächtigste; mir steht alles zu, was ich mir wünsche. Wer mir nicht gibt, was ich will, ist mein Feind, auf den ich keine Rücksicht nehmen muss. Findet ein Egomane ein willfähriges Umfeld, kann er es als Despot recht weit bringen.

Am andern Pol steht das Minderwertigkeitsgefühl des „ewigen Untertans“ (wie ihn Heinrich Mann benannt hat) oder des ohnmächtig Unselbständigen. Ich traue mir weder eigene Initiative, Wünsche oder Ansprüche zu noch kann ich Verantwortung für mich alleine tragen. Da andere immer alles besser wissen und können, mache ich nur, was mir gesagt wird. Genügt dem Umfeld das Duckmäusertum des Überangepassten, kann er es als unauffälliger Mitläufer im Guten wie im Bösen Handlanger werden.

Für unsere Kultur und soziale Gemeinschaft sind jedoch Menschen gefragt, die beide Eigenschaften haben und selber entscheiden, wann sie sich anpassen, ja sogar unterwerfen und wann sie sich durchsetzen oder wehren. Wie helfen wir Menschen sich so entwickeln?

Nein!! – Selber!!!!

Das Nein: Eine grosse menschliche Errungenschaft. Ein Philosoph definierte den Menschen nach dieser Fähigkeit als „Nein-Sagen-Könner“. Menschen müssen nicht einfach ihre Instinkte, Triebe, Wünsche und Launen ausleben. Sie müssen nicht einfach gehorchen. Sie können „nein!“ sagen. Dies ist der allererste Beginn von Freiheit. Ob uns das als Eltern und Erzieher passt oder nicht: Nein-sagen und Trotzen sind grossartige Leistungen des vernünftigen Menschen, die die Entwicklung zur Selbständigkeit und sozialer wie geistiger Unabhängigkeit einleiten.

Wer nun allerdings in Ehrfurcht vor dessen grossartiger Kraft dem Kind nichts entgegensetzt, hat nicht verstanden, dass Selbständigkeit nur in der Auseinandersetzung wächst. Wenn sein Ich am Du wachsen soll, muss dieses „Du“ Ecken und Kanten haben; einen eigenen Willen und genügend Kraft, um die Spannungen auszuhalten, die für die Entwicklung eines geistigen Freiraumes unumgänglich sind. Ein Ringer, der keinen Gegner hat, entwickelt weder Kraft noch Taktik, sich zu verteidigen.

Auch Eltern müssen nein sagen können. Eltern müssen Trotz aushalten. Diese frühen Erfahrungen sind viel zu wichtig, um ihnen aus dem Weg zu gehen, das Kind abzulenken oder ihm einfach immer nachzugeben. Es ist eine der anstrengendsten Aufgabe in der Erziehung die Balance zwischen Nachgeben und Beharren, Aushalten, Erklären und Standhalten zu finden. Dies beginnt im Kleinkindalter und endet frühestens mit der Volljährigkeit.

Missverständnis „selber“

Selbstverwirklichung kann zum Wahn werden, wenn übersehen wird, dass wir immer auch abhängig sind. Manchmal überschätzt sich das Kind und der Misserfolg ist beleidigend, peinlich und demotivierend. Scham ist das Gefühl, sich töricht und vorzeitig exponiert zu haben, definiert E.H. Erikson. Wer lernen soll, selber zu machen, braucht Aufmunterung und Unterstützung auf der einen Seite, aber im Falle des Versagens Trost und Beschwichtigung. Schadenfreude oder Hohn über Misserfolge zerstören die Basis von Mut.

Ein anderes Missverständnis entsteht, wenn wir Unabhängigkeit nur einseitig verstehen. Gerade bei kleinen Kindern können wir beobachten, wie abhängig sie von inneren Kräften sind: Hunger, Gier, Launen, aber auch Ängste bestimmen ihr Verhalten. Überliessen wir sie völlig dieser inneren Steuerung, würden sie nicht unabhängig, sondern den eigenen Trieben ausgeliefert.

Geburt des Bewusstseins...

Ein autonomes Selbst entsteht zwischen den Polen innerem Drang und äusserem Zwang. Stehen sich diese Kräfte in einer ausgewogenen Stärke gegenüber, kann sich zwischen ihnen ein Bewusstsein bilden: Ich muss mir mal überlegen, was ich will! Will ich gehorchen und mich gegen die Lust auf den Zuckerstängel stellen oder verteidige ich den Zuckerstängel und nehme Ärger oder gar Strafe der Eltern in Kauf?

Dieses Nachdenken setzt dreierlei voraus: Erstens müssen die Eltern auf ihrem nein beharren, sonst ergibt sich keine Notwendigkeit zu denken. Zweitens darf die Strafandrohung oder der Nachteil (z.B. wütendes Ausrasten) nicht so heftig sein, dass der Wunsch zu gefährlich wird. Drittens braucht dieses Abwägen Zeit. Das bedeutet, dass Eltern Geduld haben müssen, dem Kind das Denken zu ermöglichen. Mit einem Wort: Eltern müssen selber konfliktfähig sein. (Es ist mir klar, dass das nicht immer gelingt und Eltern „auch nur Menschen“ sind).

... und des Willens

In solchen Situationen entsteht ein Dreieck: Der eigene Wunsch (1), die Gegenforderung der Umwelt (2) und das eigene Bewusstsein über diese Situation der Gegensätze (3). Nun gilt es einen nächsten Schritt zu entwickeln: Wie entscheide ich mich?

Ist das Kind schon etwas erfahrener, wird es die möglichen Reaktionen der Eltern in Erwägung ziehen. Auch das Erleben von Verzicht wird einbezogen: Wie heftig ist der Verzicht im Verhältnis zur unangenehmen, befürchteten Reaktion der andern? Lohnt sich der Zorn (es kann auch jener des Bruders sein) oder „lohnt“ sich die Frustration, wenn ich dem Zorn durch Verzicht ausweiche? Die innerliche Lösung dieser Streitfrage ist das, was wir Willen nennen. Hier wird entschieden zwischen Nachgeben und Widerstand!

Gelingt dies in Abwägung und mit der dazu notwendigen Zeit, ist entwicklungspsychologisch sehr viel gewonnen: Auch im Nachgeben behauptet sich das „Ich selbst“. Ich gebe zwar nach, aber: Was da nachgibt, bin Ich selbst! Damit ist der Kern zu freier Entscheidung und zu freiem Willen geboren.

innere Freiheit

Allmählich entdecke ich, dass ich nicht nur nach aussen Macht habe, wenn ich trotzig beharre, sondern auch nach innen, wenn ich – mit Hilfe des Verbots der andern – gegen meine drängenden Gelüste nein sagen kann. Damit erst ist echte Autonomie und Selbständigkeit erworben. Ich kann mich fragen, ob ich will, was ich wünsche. Ich bin nicht gezwungen, unangenehme Konsequenzen zu tragen, weil ich den Trieben nicht völlig ausgeliefert bin.

Aber ich kann auch zum Schluss kommen, dass mir die eigenen Wünsche wichtiger sind und ich die Prügel des Geschwisters halt einstecke. Damit kann auch die Herrschaft des Stärkeren in Schranken gewiesen werden. Hier eile ich in der Entwicklung etwas voraus. Zumeist wird das Kleinkind noch den Beistand von Eltern oder eben gerade der verbündeten Geschwister brauchen, damit die Macht der Stärkeren nicht allzu gefährlich wird.

Machtkampf und Selbstbeherrschung

Die Pädagogik wird heute kaum noch raten, den Kindern den Willen zu brechen. Der Wert von striktem Gehorsam und unhinterfragbarer Umweltanpassung hat glücklicherweise weitegehend abgedankt. Ich habe aber gezeigt, dass unhinterfragte oder schwache Willfährigkeit gegenüber allen Launen von Kindern keine sinnvolle Alternative sein kann. Das Aushandeln von Lösungen bei sich widersprechenden Forderungen entspricht dem inneren Geschehen bei der selbstbewussten Willensbildung.

Dieser Entwicklungsprozess hat ein körperliches Pendant. Ich rede von der sogenannten Sauberkeitserziehung: Es geht um die Herrschaft über die Ausscheidungsorgane und wer diese kontrolliert. Gesellschaftliche Normen und kulturelle Vorstellungen haben diesen Entwicklungsschritt über Generationen hin zu einem Kampf zwischen Kind, seinem Körper und den Eltern gemacht. Wann muss ein Kind „sauber“ sein? Wie bringt man es dazu? Wer oder was bringt es dazu?

Einnässen und Einkoten „eignen“ sich daher hervorragend als Kampfplatz um Macht und Beherrschung. Viel Zeit wurde (und wird?) je nach Erziehungsstil dem Unterwerfungsritual „Töpfchen“ gewidmet.

Körper und Wille

Bei diesem Geschäft gehen die Erwachsenen oft selbstverständlich davon aus, dass die Körperfunktionen dem Willen des Kindes unterstellt sind. Oder es wird geglaubt, die Körperbeherrschung werde geübt, indem das Kind sich den Ritualen unterwirft. Obwohl diese Vorstellungen nicht rundweg falsch sind, wird doch oft zuwenig auf das kindliche Bewusstsein und dessen körperliche Reife eingegangen.

Wird die Beherrschung der Schliessmuskulatur gefordert, bevor diese genügend gereift ist, entstehen verschiedene Konflikte: Körperlich können einzelne Kinder auf Gesässmuskulatur zurückgreifen und Stuhl und Urin zurückhalten. Der falsche Einsatz dieser Muskulatur behindert dann allerdings die Entwicklung des Bewegungsapparates. Eine psychische Auswirkung vorzeitiger Sauberkeitsforderungen ist, dass das Kind oft ungerechtfertigt beschämt wird und für widerborstig oder unachtsam gescholten wird, wo es in Wahrheit das körperliche Instrumentarium noch nicht entwickelt hat. Viele – auch sehr kleine Kinder – spüren ab Geburt des Willens, ob sie „zurecht“ oder „zuunrecht“ beschuldigt werden.

Mit harten Strafen, „ewigem“ auf dem Topf sitzen oder Spott über ihre fehlende Bereitschaft die Ausscheidungen zu kontrollieren, wird ein Kind, dessen Muskulatur nicht bereit ist, den eignen Körper als feindlich empfinden. Er macht nicht, was ich soll und ich werde dafür bestraft. Auch diese Erfahrung hilft im Leben nicht weiter.

Obstruktion und Obstipation

Wenn derart ein ungünstiges Verhältnis zwischen Kind, Eltern und Ausscheidungsorganen installiert ist, ist das Feld vorbereitet, um Machtkämpfe körperlich auszutragen. Der Verdauungstrakt entwickelt sich zum Austragungsort von heimlicher Opposition, unbewusstem Trotz und elterlicher Sorge – oft vermischt mit einer gehörigen Portion Ärger.

Besonders unangenehm bei dieser Situation ist, dass die steuernden Kräfte oft nicht dem klaren Bewusstsein und deshalb nicht dem freien Willen unterstellt sind. Dies zeigt sich etwa dann, wenn Verstopfung (Obstipation) oder Einkoten dann verschwinden, wenn auf seelischer Ebene Machtkonflikte in der Familie angegangen werden können und zur Sprache – bei Kleinkindern zum spielerischen Ausdruck – gelangen. Über das Verstehen der verhärteten Stellungskriege löst sich nicht nur der Konflikt, sondern auch deren körperlicher Ausdruck. (Vgl. Artikel im Heft 2/2010)

An den Ausscheidungsorganen wird Loslassen und Festhalten geübt und teilweise dem bewussten Willen unterstellt. Festhalten und Loslassen sind wesentliche Grundverhaltensmuster im sozialen Lernen. Die körperlichen Erfahrungen mit diesen beeinflussen auch die Ausbildung charakterlicher Züge der Persönlichkeitsentwicklung.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Verhaltensmuster, psychosoziale Entwicklung, Charakter, Psychosomatik, Verstopfung, Familiendynamik, Sauberkeitserziehung, Trotz