Basiserfahrungen Wahren und Eindringen
Was ist entwicklungspsychologisch angemessen: Kindergarten oder Vorschule? Zwei philosophische Konzepte stehen sich seit Generationen gegenüber. Im ideologischen Streit entsteht das falsche Bild, das eine oder das andere sei richtig. Im Hintergrund steht ein Gegensatz zwischen weiblicher und männlicher Basiserfahrung.
Als Fröbel vor zweihundert Jahren den Begriff „Kindergarten“ erfand, war er von der Vorstellung beherrscht, dass sich Menschen aus ihren Anlagen heraus entfalten. Ihm ging‘s darum, Kinder möglichst störungsfrei aufwachsen zu lassen: Der Erzieher soll wie ein Baumgärtner sein, der vielleicht Stütze gibt, sonnige Plätze aussucht und vor dem Austrocknen bewahrt. Die Natur hat keine Lehren von aussen nötig, um ihre Bestimmung als Apfelbaum oder als Kirsche zu entfalten. Im Garten sollen sich Kinder entfalten.
Belehrung
Diesem Konzept steht ein anderes Menschenbild entgegen, das den Menschen bei der Geburt als unbeschriebenes Blatt versteht. Darauf sollen nun Erziehung und Belehrung die Grundtexte des Lebens schreiben. Aus jedem Neugeborenen kann alles werden, wenn wir die „richtigen Methoden“ anwenden. Von aussen dringt das wichtige in Seele und Geist des Kindes, wo es sich festsetzt. Für die LerntheoretikerInnen sind an Kinder herangetragene Programme die Basiserfahrungen, die man dem Kind nicht vorenthalten darf. Ein gutes Programm bestimmt, wann was zu lernen ist. Wird zu viel Zeit mit Unnützem vertrödelt, führt dies zu Defiziten, die nie mehr aufzuholen sind: Frühförderung ist für sie der Segen der Kindheit und die Chance der Heranwachsenden.
Für die „Entwicklungspädagogen“ sind solche Eingriffe im Wesentlichen Störfaktoren, die die Kinder verwirren und ihre Entwicklung auf Abwege bringen: Die Kritiker brauchen das Bild des Grases, an dem gezogen wird, damit es schneller wächst: Prompt reisst die “Förderung“ die Wurzeln aus dem Mutterboden. Mit dem Einsatz von zu früher Belehrung erzeugen wir demnach gestörte, ausgedünnte und vertrocknete Erwachsene.
Aufeinander angewiesen
Es treffen hier zwei Extremhaltungen aufeinander, die aus grundsätzlich gegensätzlicher Lebenserfahrung stammen: Hier der Planer - der Wissende, der eingreift; dort die Erfahrene, die erlebt, dass wir viele Prozesse geschehen lassen müssen, weil sie unseren Planungen nicht Folge leisten! Hier das Wissen, dass günstige Momente verpasst werden, wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird. Dort das Vertrauen in das kindliche Potential, in die Weisheit der Natur oder anderer Mächte.
Wer Recht hat, können wir deshalb nicht entscheiden, weil die Frage falsch gestellt ist. Wenn wir einen dialektischen Zusammenhang auseinanderreissen, entstehen unsinnige Streitereien. Entwicklung geht mit Belehrung zusammen. Stagniert das eine, lahmt das andere: Ohne (innere) Entwicklung haben alle von aussen an das Kind herangetragene Erkenntnisse keine Chance, von ihm aufgenommen zu werden. Ohne Belehrungen und (von aussen) vermittelte Erfahrungen bleibt die Entfaltung sehr eng und beschränkt.
Für eine gedeihliche Lebensreise ist entscheidend, dass für beide Aufbauwege angemessen Raum und Zeit besteht. Wenn die Belehrung der inneren Entwicklung davon rennt, kommt es zu Ausfällen oder Entwicklungsstillstand. Wenn die Belehrung dem Entwicklungsstand des Kindes hinterher hinkt, kommt es zu Desinteresse, Langeweile und „dummen Gedanken“.
Körpererfahrungen
Ein biologisch unentrinnbarer Unterschied zwischen den Geschlechtern ist die Schwangerschaft der Mütter. Kein Kind, das sich nicht im Mutterleib entwickelt hat – ohne Belehrung des Kindes. Sicher wird von aussen viel an Wissen und Rat an die Mütter heran getragen, aber was in ihnen geschieht, müssen sie geschehen lassen. Die Erfahrung, nicht alles planen und im Griff haben zu können, wird kaum einer Frau erspart. Dieses Körperwissen ist für Männer und Knaben meist weit weg. Sie können oder könnten sich zwar einfühlen, aber oft besteht keine Bereitschaft und noch weniger Veranlassung dazu.
Die männliche Welt ist die des Eindringens. In der Zeugung setzen sie einen Prozess in Gang. Das Durchstehen und Austragen dieses Prozesses können sie nicht mehr direkt beeinflussen und sie können es keiner Frau abnehmen.
Ich glaube, dass dies eine Basiserfahrung am eigenen Körper ist, die eine fundamental unterschiedliche Haltung zur Welt zwischen den Geschlechtern bildet. Das Leugnen der Differenz bringt Fehlhaltungen hervor. Was wir aber aus diesem Unterschied ableiten, ist durch die Anerkennung als Tatsache noch keinesfalls bestimmt.
Das Wahren
Ich habe vorgeschlagen, diese weibliche Erfahrung als „Wahren“ zu bezeichnen als Gegenstück zum männlichen „Eindringen“. Damit betone ich die biologische weibliche Aufgabe, die vorgeburtliche Entwicklung des Kindes zu schützen und zu nähren. Der Schutz besteht zunächst räumlich, innerhalb geschützter Grenzen. Darüber hinaus geht es darum Sorge zu tragen – immer zugleich für sich für ein anderes! Sorge zu tragen zum Leben generell und letztlich zur menschlichen Zukunft - mancher Frau mehr bewusst, anderen weniger. Der Prozess findet inwendig statt. Damit geht eine besondere Verknüpfung von Ich und Du einher, eine kaum vermittelbare Erfahrung der Verbundenheit, dass das werdende Du vom eigenen Leben unmittelbar abhängt und die Schwangere für ein Mindestmass an Wohlergehen für beide sorgen muss.
Schwangerschaft kann zwar bis zu einem gewissen Grad gestaltet werden, aber in ihr ist viel Aushalten, Geduld und gewähren lassen unausweichlich. Um solche Grunderfahrungen geht es, wenn wir Werthaltungen und Vorstellungen diskutieren, wie das Leben und – in unserem Zusammenhang – die Erziehung zu gestalten sei.
Basiserfahrungen
Die männliche Basiserfahrung ist eindringend. Im Umgang zwischen Menschen dominiert das Beherrschen durch Kraft. Und hier spielt der oben genannte dialektische Zusammenhang: Wie diese Kraft und das aufdringlich sein ausgestaltet wird, hat sehr viel mit Erziehung zu tun: Es muss nicht immer zur Aggression oder gar Destruktion führen, aber je nach Lebenserfahrung ist Gewalt die männliche Form des Dominierens.
Die weibliche Basiserfahrung ist wahrend. Im Umgang zwischen Menschen dominiert das Bestreben des Zusammenhalts. Dieser kann gewährend sein, indem Entwicklungsraum gestaltet und Entwicklungsmaterial bereitgestellt wird. Diese Kraft kann je nach Lebenserfahrung aber auch dominierend werden als Druck, Einengung und aggressive Kontrolle.
Ich habe den Eindruck, dass die weibliche Erfahrung in unserer Kultur tendenziell verdrängt wird (auch in Frauenkreisen) und in der Erziehung zu wenig Raum erhält.
Männer und Frauen
Wichtig ist mir, dass die beiden Basiserfahrungen gleichberechtigt, aber klar unterschiedlich wahrgenommen und anerkannt werden. Da wir Menschen einfühlungsfähige Wesen sind, bedeutet die Unterscheidung nicht, dass Frauen keine männlichen Haltungen oder Männer keine weiblichen entwickeln können. Durch Identifikation lassen sich auch „fremde“ Erfahrungen nachvollziehen. Dennoch sollten wir gerade auch in der Geschlechtserziehung (oder Geschlechtererziehung?) davon ausgehen, dass die biopsychologische Ausgangslage unterschiedlich ist: Gestehen wir Mädchen zu, mädchenhaft zu sein und werfen wir Buben ihre Knabenhaftigkeit nicht vor.
Viele Kinder spielen gern mit Verkleidungen und Rollen des andern Geschlechts. Diese Auseinandersetzung dient zweifellos auch der gesunden Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle, wenn die Spiele als Erkundung des fremden Terrains genauso (oder wenigstens ähnlich) unbefangen gelebt werden können wie andere Exkursionen.
Heikel finde ich hingegen die Versuche, Kindern in ihren Spielen und Vorlieben Geschlechtsunterschiede abzusprechen oder gar abtrainieren zu wollen.
Werthaltungen
Solche Strategien tragen keineswegs zur Emanzipation bei, sondern verstärken eine unterschwellige Unsicherheit in beiden Geschlechtern, ob es gut (wertvoll) ist das eigene Geschlecht und die damit verbundenen Basiserfahrungen und –einstellungen zu spüren.
Wenn wir Gleichberechtigung und Gleichstellung haben wollen, müssen wir gerade die beiden unterschiedlichen Erfahrungsbasen unserer körperlichen Verfassung akzeptieren. Ihre Gleichwertigkeit kann ja nur erfolgen, wenn wir sie erkennen und anerkennen. Indem die weibliche Seite unter den Tisch fällt und die männlichen „Tugenden“ (resp. Untugenden) auch für Mädchen gelten sollen, wird keine Aufwertung von Frauen erfolgen. Hingegen wird die (männlich inspirierte) Rivalität unter Frauen z.B. zwischen verschiedenen weiblichen Lebensentwürfen gefördert. Mit den Waffen der Entwertung des gegnerischen Standpunktes wird aus dem männlichen Arsenal der Platzhirschenkämpfe geschöpft. Das müsste nicht sein und die Welt hat (hätte) eine grosse Chance, wenn die Haltung des Wahrens in der Hierarchie der politischen Tugenden an Wertschätzung gewinnen würde.
Am richtigen Platz
So wie die Dialektik zwischen Lernen und Entwickeln nicht ungestraft auseinandergerissen werden kann, so wenig soll es um ein Schaulaufen zwischen der männlichen und der weiblichen Basiserfahrung gehen. Es braucht beide Erfahrungen, Haltung und Handlungsweisen. Das eine ist ohne das andere zum Aussterben verdammt.
Entscheidend ist hingegen die Frage, wo welches Verhalten am Platz ist. Das kann natürlich immer nur im Einzelfall entschieden werden und verschiedene Menschen werden hier sehr verschiedene Entscheide fällen. Gesagt werden muss jedoch: Nur wer eine bestimmte Verhaltensweise beherrscht und über eine entsprechende Einstellung verfügt, kann die angemessene Handlung auch durchführen. Damit am richtigen Ort der richtige Entscheid gefällt werden kann, müssen die Mittel bereitstehen.
Für die Erziehung bedeutet dies: Bereitschaft und Fähigkeit zum Wahren und zum Eindringen soll beiden Geschlechtern soweit als immer möglich zugänglich sein. Die Abwertung, Beschämung oder Behinderung dieser Verhaltensformen (unmännlich, unweiblich etc.!!) muss abgebaut und zum Verschwinden gebracht werden.
© Dr. Rudolf Buchmann