Kreativität zwischen Spielen und Lernen
Fantasie ist der Gegenspieler der Anpassung. Wir brauchen beide: Gestaltungskraft und Anpassungsfähigkeit. Wir müssen sie immer wieder neu mischen. Wir sollten sie jedoch klar auseinanderhalten, wenn wir über Erziehung und Bildung nachdenken.
Im letzten Heft habe ich über Chancen und Risiken des Spielens geschrieben: Positiv ist Spielen, wenn es zur Befreiung unserer Gestaltungskraft aus dem Druck des Alltäglichen führt oder der zeitlich begrenzten Entlastung aus dem Alltagskampf dient. Negativ wird es, wenn Spielen zur langanhaltenden Flucht aus der Realität wird.
Gestalten und Anpassen
Unser Leben als menschliche Wesen ist eingespannt zwischen einerseits der Notwendigkeit, sich an die real existierende Umwelt anzupassen, was wir dank unserer Lernfähigkeit können. Anderseits schenkt uns die Kraft der Fantasie die Möglichkeit, das eigene Leben und den eigenen Lebensraum zu gestalten. Wir können der Fantasie freien Lauf lassen (freies Spielen, Spintisieren) und wir können uns so verhalten, wie uns geheissen wird (Gehorchen, vorbehaltlose Anpassung); wir können zudem spielerisch in uns aufnehmen, was gefordert und festgelegt ist (fantasievolle Anpassung) und wir können fantasievoll reale Probleme lösen (Verändern, Entdecken, Erfinden). Wichtig in Erziehung und Bildung ist, dass alle vier Formen Raum und Zeit erhalten, sich ausgewogen (!) zu entfalten.
Die Spielräume der Gestaltung mögen sehr unterschiedlich sein je nach Lebensort, materiellen Mitteln und eigener Ausstattung mit Begabung und Fähigkeiten. Aber dennoch können wir immer wieder entscheiden, ob wir die Möglichkeiten ausschöpfen oder uns unterziehen. Allerdings müssen wir dann auch verantworten, was aus unseren Entschlüssen erwächst. So scheint Anpassung manchmal der einfachere und bequemere Weg zu sein. Aber auch diese Entscheidung muss verantwortet werden!
Im Lehrplan 21
Im Lernen geht es vornehmlich um die Anpassung an das Vorgegebene. Wir lernen, wie andere die Welt verstanden haben, wenn wir z.B. Mathematik oder Grammatik in uns aufnehmen müssen. Dass dies grundlegend ist, um das Leben selbständig zu meistern, ist unbestritten. Wir sollen auch lernen, uns so zu benehmen, wie es unsere Kultur und Gesellschaft erwartet. Oder doch zumindest verstehen, was weshalb erwartet wird. Wenn dies aber der einzig zählende Wert werden sollte („Schulerfolg über alles!“), gefährden wir nicht nur die Gesundheit der Kinder, sondern auch das Entwicklungspotenzial unserer Kultur.
Dies sollte bei der Stundentafel im Lehrplan 21, der gegenwärtig entwickelt wird, mitbedacht und ausgewogener zum Ausdruck kommen. Die Frage muss gestellt werden: Welche Werthaltungen und Entfaltungsmöglichkeiten behindern wir, wenn wir Spielen und Gestalten als Entfaltung der eigenen Fantasie vor lauter Stoffdruck sogenannt „wichtiger Fächer“ zurückdrängen.
In der Freizeit
Eine zweite Frage sollte sich jede/r in der Freizeitgestaltung und Erziehung stellen: Wie viel Fantasie steckt in den Spielen und Lebensräumen unserer Kinder. Wo bleibt sie, wenn z.B. Anpassung an Programme (Vorgedachtes) – insbesondere in elektronischen Spielen – diese zu Lernorten machen?
„Fräulein, müssen wir heute auch wieder spielen, was wir wollen?“ Der Witz, der sich lustig macht, über das Angebot des freien Spiels, muss uns zu denken geben. Er richtet sich gegen eine Pädagogik der Selbstbestimmung, die von Anpassungsfreunden bekämpft wird.
Tatsächlich sind manche Kinder (und Erwachsene) schon fast überfordert, wenn sie auf ihre eigenen Wünsche und ihre Gestaltungsverantwortung zurückgeworfen werden. Vor lauter „geregeltem Alltag“ spüren wir unsere eigenen zentralen Wünsche und Werte nicht mehr. Vorschriften und dass uns gesagt wird, was wir tun sollen, ist so zur Gewohnheit geworden, dass uns die Frage nach unsern Kernanliegen erschreckt. So ertragen viele die Stille nicht. Oder sie werden unruhig, wenn Schweigen und Offenheit (unstrukturierte Räume und Zeiten) nicht vorgeben, wie es weitergehen könnte. Die Erfahrung der Aufnahmebereitschaft (Raum für Inspiration) und der eigenen Kreativität gilt es wiederzugewinnen, resp. Kindern offen zu erhalten.
Spielarten
Beobachten wir also genau, wie viel Anpassung gefordert wird und wie viel Gestaltungsraum wir gewähren (und gefördern) in Schule und Freizeit. Beachten wir, ob wirklich drin ist, was draufsteht. Z.B. gilt im „Bastelunterricht“ oftmals das Nachahmen von Anleitungen als Gestalten oder gar als Kreativität. Ein Etikettenschwindel: Es werden Handfertigkeiten geübt. Nichts dagegen; im Gegenteil: Handwerkliches Können erweitert die Gestaltungsmöglichkeiten. Gestaltung und Anpassung sind aufeinander angewiesen! Das eine ist nicht höherwertig als das andere. Fantasie kann nur sinnvoll gestalten, wenn Handfertigkeiten zur Verfügung stehen. Das Lernen darf aber das Gestalten aus eigener Fantasie nicht ersetzen. Ich halte nichts von gestalterischem Pfusch. Aber Weihnachtsbastelei nach vorgeschriebenen Plänen oder gar vorgefertigten Elementen sind nicht kreativ!
Gerade im Angebot von Spielen, die wir unseren Kindern, den Schülern und auch uns Erwachsenen aussuchen, gilt es die Unterschiede im Angebot zu beachten. Es gibt Spiele, die in erster Linie lehren, sich anzupassen, sich unterzuordnen oder auch Fähigkeiten zu erwerben. In anderen Spielen ist die Anregung so offen, dass das Spielen erst in Gang kommt, wenn wir eigene Fantasie hineinbringen und das Spiel selber gestalten. Zwischen diesen beiden Polen gibt es viele Mischformen und Kombinationen im Angebot.
Schauen Sie einem Kind im freien Spiel z.B. mit Playmobil zu: Zwar hat die Industrie zunehmend programmatische Vorgaben in Männchen, Weibchen und Zubehör eingebaut. Aber es gibt genügend Freiräume, dass nicht nur das Indianer- oder Ritterspiel gestaltet werden kann. Ist die Szene auf dem Verpackungsmaterial einmal nachgestellt, wird dies wohl kaum ein zweites Mal geschehen. Kinder spielen ihre eigenen Geschichten.
Regelspiele
Regelspiele sind im Allgemeinen darauf angelegt, Anpassung mit Lust und Witz zu fördern. Die Regeln zu beherrschen und sich so konform zu verhalten, dass man auf die Seite der Gewinner gehört, täuscht vielfach darüber hinweg, dass wir uns den Regeln doch unterwerfen. Verlieren können gehört in allen möglichen Brettspielen zum unsichtbaren Lernprogramm. Dass 1 Sieger „der Grösste“ ist und der (Wett)-Kampf das Zusammenleben bestimmt, lehren sie allerdings auch! Die meisten Computerspiele laufen auf dieser Schiene. Sogar wo mit viel eigenem Denken Einfluss genommen werden kann, bleibt es Tatsache – ob bemerkt oder nicht –: Das Computerprogramm entscheidet, was möglich ist und was nicht. Kinder üben sich ein, Angestellte zu sein.
Um keine falsche Wertung aufkommen zu lassen: Auch diese Erfahrungen sind sinnvoll und gehören ins Spielprogramm von Kindern. Spielerisch den Umgang mit vorbestimmten Regeln zu lernen, erleichtert das Leben ungemein. Je besser die technische Seite beherrscht ist, desto mehr Gestaltungsfreiräume – und damit Kreativität – erschliessen sich den Spielenden. Trotzdem: Das oft einfach gestrickte Regelwerk z.B. eines „Ballerspieles“ lässt kaum Raum für viel kreative Ideen. Die Anpassung an die Kampffantasien der Verfasser definiert das Lernfeld und impft ein Rollenmuster ein – auch oder gerade durch seine variantenreiche Gleichförmigkeit.
Freie Spiele
Wie breit ist demgegenüber das Angebot freier Puppen, z.B. Kasperlefiguren. Sie regen bestimmte Rollen an, überlassen es dann aber völlig der freien Fantasie der Spielerinnen und Spieler, Geschichten zu erfinden oder Kulissen zu malen oder Verstecke zu schaffen. Das offene Feld ist zunächst nicht für jedes Kind (auch nicht jeden Erwachsenen) einfach mit Ideen zu füllen, weil wir uns meist von früh daran gewohnt haben, dass uns vorgekäut ist, was wir denken oder machen sollen. Auch braucht es mehr Gelassenheit und Zeit, sich etwas einfallen zu lassen.
Viele Eltern trauen es sich nicht recht zu, ohne Anleitung in den freien Raum der Spiele zu treten. Damit sich freies Spiel entwickelt, kann es durchaus geschehen, dass mehrere Anläufe stattfinden (müssen): Ideen verlaufen im Sand; auf die Idee des einen findet der andere keine passende Antwort. Andererseits: Wenn keine Beobachter da sind (und auch der eigene innere Beobachter Ruhe gibt) entstehen zwischen Kindern – und zusammen mit ihnen – oft Spiele, die weder von den Erwachsenen vorhergesehen noch von irgendwem geplant sind.
Diese Offenheit des Spieles ist besonders wertvoll für die Entwicklung der Kreativität des sozialen Umganges untereinander, für die Selbstsicherheit im Auftreten und für das Selbstvertrauen in die eigene Gestaltungskraft. Kinder werden so zu Unternehmern.
Verwirrspiel
Wenn Tätigkeiten als Spiel bezeichnet werden, obwohl sie keine Spiele sind, trübt es den Blick auf den wahren Wert des Spielens. Reine „Glückspiele“ etwa, bei denen der Zufall entscheidet, entbehren eines entscheidenden Spielelementes: Sie nehmen weder Fantasie noch Kreativität in sich auf. Vielleicht bleibt als Rest des „Spielens“ der Umgang mit der eigenen Gier und der Enttäuschung; meist verlieren die „Spieler“ aber die Distanz zu sich selber und damit jede Selbstbeobachtung und Selbstreflexion.
Ein weiteres Verwirrspiel scheint mir die schon angesprochene angeleitete „Kreativität“: Training ist sinnvoll, soll aber klar vom freien Gestalten und kreativem Spielen unterschieden werden, damit sich beide entfalten! Die Gefahr, wenn wir nicht klar trennen, ist dass das eine oder das andere untergeht: Kreativer Pfusch verzichtet auf Handfertigkeit; angeleitete Bastelei wird zur Massenproduktion.
Unsere Gesellschaft braucht Unternehmer und Angestellte. Beides müssen wir im Leben sein können. Die Möglichkeit des Menschen zu eigener Lebensgestaltung macht uns frei, Unternehmer unseres eigenen Lebens zu werden. Helfen wir unsern Kindern, diese Möglichkeit auszubauen und den Mut dazu zu erhalten.
© Dr. phil. Rudolf Buchmann