Formen und Farben

Vorstellungen und Fantasie sind wichtige Elemente der inneren Welt. Die einen bilden die äussere Welt ab, so wie sie im Leben erfahren wurde. Die andern entwerfen Bilder und Ordnungen, wie die Welt sein könnte.

Ein Bubentraum ist die Weltbeherrschung, wie sie in Gestalt des Königs resp. des Prinzen, der dann König wird, in vielen Märchen vorkommt. (Es soll Erwachsene geben, die nicht merken, dass die Geschichten symbolisch zu verstehen wären und sind und versuchen, solche Bubenträume im eigenen Leben zu verwirklichen). Zwar weisen viele Märchen den Mädchen andere Rollen zu, aber das Bestreben, ihr Lebensfeld zu durchschauen und darin eigene Ziele verfolgen zu können, ist auch für sie ein Ziel.

Abbilden

Die Eroberung des Lebensfeldes beginnt mit dem Einüben von Bewegungen. Am Anfang des Lebens steht das Spiel mit den eigenen Händen, Beinen, Armen und Fingern. Diese werden in Tausenden von Bewegungen und Berührungen erkundet: Von innen wird die Bewegung erspürt, während in der Berührung und im Abtasten das Erleben der Körpergrenzen erfahren wird. So entsteht ein erstes Selbstbild als Ahnung des eigenen Ganzen; ein erstes „Das bin ich“. Bis es fähig sein wird, ein Selbstportrait zu malen, wird es eine riesige Strecke Entwicklung zurücklegen, in der die verschiedensten Fertigkeiten und Körperbeherrschungen immer wieder geübt werden und viele emotionale und geistige Erkenntnisschritte durchlaufen sind.

Schon ein äusseres Abbild von uns selber malen zu können, ist eine riesige Leistung. Ein solches Bild wird auch immer mehr enthalten als eine Kamera festhält, weil die Erfahrung von innen in höherem Masse mitschwingt als es auch im das ausdruckvollsten Lächeln auf dem Foto der Fall ist. Wenn ich Kinder die Familie oder sich selber malen lasse, bin ich oft verblüfft, wie differenziert und ausdruckstark die unbeholfenen Striche Auskunft geben. In vielen solchen Bildern ist ein bestimmter Ausdruck unmittelbar erlebbar, selbst wenn das Kind beteuert, es könne nicht zeichnen. Vielleicht gerade dann, wenn es noch nicht fremde Techniken beherrscht, sondern eigene Formen aus sich heraus gestaltet, gelangt eigener Ausdruck in diese Striche und Farben. Müsste man fast sagen, es habe noch nicht gelernt, sich hinter Schablonen zu verstecken?

Gestalten

In dieser Beobachtung steckt auch die Erkenntnis, dass auch Abbilden immer Gestalten ist. Jedenfalls ist es so, solange gestalterische Freiheit gegeben ist und dem Kind nicht vorgegeben wird, wie man „richtig“ zeichnet. Im Anspruch, es richtig zu machen, wird dem Kind die Mitteilung transportiert, ein Abbild sei dann korrekt, wenn es identisch mit dem gemalten Gegenstand sei. Eine Illusion wird damit anerzogen, der auch viele Erwachsene erliegen: Ein Foto oder ein Film bilde die Wirklichkeit objektiv ab, „objektiv“ in dem Sinne, dass auf dem Bild zu sehen sei, wie es ist. Dabei wird vergessen, dass der Winkel der Kamera und das Ausblenden der weiteren Umstände immer Wirklichkeit verändert. Ebenso sind innere Erfahrungen und das Erleben der Welt, die abgebildet wird, kaum auf dem Foto zu sehen, und schon gar nichts über die Geschehnisse, die den Gegenstand so erscheinen lassen; also die Vorgeschichte des Abgebildeten. All dies ist in Zeichnungen und Malereien möglich, weil sie mehrere Dimensionen erfassen und ausdrücken können als nur die augenblickliche äussere Wirklichkeit, d.h. den Schein.

Daher ist es so wichtig, Kinder zu ermuntern, das auszudrücken, was sie empfinden, was sie erleben und was ihnen wichtig ist. Können sie diesen unmittelbaren Ausdruck beibehalten, erhalten wir ihnen auch ihre Spontaneität und Unmittelbarkeit, mit der sich Kleinkinder die Welt beäugen. Solches Gestalten hilft Kindern die Welt zu erfassen, in die eigene Vorstellung aufzunehmen und ihnen das Gefühl zu geben, sie handhaben zu können.

Die Not des Misslingens

Über dem Gesagten darf nicht übersehen werden, dass Kinder manchmal mit technischen Unfähigkeiten ringen. Hier Hilfestellungen zu geben, wie es seine inneren Bilder besser auf Papier oder in Ton bringen könnte, ist sicher sinnvoll. Dabei sollte aber dem eigenen Ausdruckswillen des Kindes immer Spielraum gelassen werden.

Auch Zeichnen und Malen lernen erfolgt im Experimentieren: Versuch, Misserfolg, Variantensuche. Manchmal brauchen Kinder Aufmunterung zum Selbermachen, Bestätigung und Begleitung ihrer kreativen Versuche. Falsch finde ich hingegen eine übertreibende Idealisierung von Kinderzeichnungen. Wenn im Malexperiment deutliche Signale eigener Unzufriedenheit mit dem Produkt auftreten, ist es nicht hilfreich, das Kind von der Qualität seines Werkes überzeugen zu wollen oder jeden Strich, den es macht, zu belobigen. Damit würden wir die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen und Beschäftigung verhöhnen oder ihm signalisieren, dass wir es in seiner Anstrengung nicht verstehen. Die Botschaft, alles was du kreativ machst ist gut, kehrt sich in die Botschaft: Es ist wurst, was du machst. Das würde den Entwicklungsprozess lähmen und den Trend zur Gleichgültigkeit gegenüber Material und kultureller Anstrengung fördern. (Vielleicht bis hin zum Versprayen fremder Werke).

Wie alles begann

Heidi hat einen Kugelschreiber erwischt und malt schöne Linien an die Wand. Sie hat selber entdeckt, dass diese besonderen Stäbe Spuren hinterlassen. Sie hat auch herausgefunden, dass man sie in einem bestimmten Winkel halten muss. Sie geniesst die Bewegung. Sie ist begeistert, wie in einem Rausch: Selber machen, selber entdeckt, eigene Spuren hinterlassen! Aber oh Schreck: Der Fall aus dem Rausch in die raue Wirklichkeit ist schockierend. Der Schrei oder das Gezeter „unsere sauberen Wände!“ holt sie in eine andere Welt zurück. Verliert sie die Welt des Rausches?

Das hängt von der weiteren Geschichte ab: Wie reagiert die Mama? Bewundert sie nach dem ersten Schrecken die Künste der Tochter oder schimpft sie nur über die Verschmutzung? Verbietet sie schöne Spiel oder bietet sie einen Ersatz an und weist Heidi einen Ort zu, an dem sie es geniessen soll?

Ich vertrete nicht die Meinung, dass überall in einer Wohnung Spuren kindlicher Malkünste toleriert werden sollen! Sorgfalt und Schutz „fremden Eigentums“ oder auch Respekt vor dem Geschmack der Mitbewohner sind ebenfalls achtbare Werte. In der Reaktion sollte aber ein Ausgleich zwischen diesen Normen gefunden werden. Das Haus fällt nicht um wegen der Striche. Ein nochmals anderer Fall, den zu erörtern der Platz hier fehlt, ist natürlich das Schmieren aus Trotz oder Provokation, wenn dem Kind das Verbot solchen Tuns schon bekannt ist.

Das Angebot an Material, Platz und geschütztem Raum stellt in den Zeiten früher Kunstversuche wichtige Weichen. Auch Anregungen und Kommentare steuern meist ohne viel Absicht der Eltern die Entwicklung. Wird z.B. mehr das grossflächige Malen, das Eintauchen in Farbe, vielleicht sogar der Genuss am Geruch und am Schmieren durch die Eltern begrüsst? Oder wird das Kind mehr auf die getreue Abbildung hingelenkt: Schau ein Tisch hat vier Beine und der Mond ist rund?

Ein Richtungsentscheid

Im Malen wird der Akzent stärker auf den Ausdruck und die Emotionalität gelegt. Die Erfassung der Form, das Erkennen der Objekte tritt in den Hintergrund. Es geht auch nicht so sehr darum, sich die Welt genau anzuschauen, zu beobachten und Zeugnis für die Beobachtungen abzulegen. Es geht viel stärker um die Eigenbewegung des Kindes, um seine Fantasie, Freude, sinnlichen Genüsse. Solches wird noch gesteigert, wenn mit Fingerfarben das taktile Erleben verstärkt oder mit Wasserfarben geplanscht werden darf. Solches Malen ist ein Sinnesgenuss, der mehr oder weniger auf intellektuelle Kontrolle verzichtet.

Wird der Akzent stärker auf das Zeichnen gelegt, steht mehr Beobachtung und intellektuelle Bewältigung im Zentrum. Die Formerfassung und deren Wiedergabe legt den Schwerpunkt auf die Wahrnehmung, das genaue Hinschauen und Überprüfen der Übereinstimmung zwischen meinen Strichen und den Gegenständen ausser mir. Es ist also auch ein Richtungsentscheid weg von intellektueller Verarbeitung und Betrachtung bei den Künstlern, die sich gänzlich von der gegenständlichen Malerei lossagen.

Ein spezielles Kapitel ist das Ausmalen, das ich kaum zum Bereich des kreativen Tuns zählen will, weil dabei hauptsächlich Fingerfertigkeiten trainiert werden. Das bedeutet nicht, dass Kinder nicht auch daran Freude haben können. Problematisch wird nur, wenn sie auf Ausmalen ausweichen, weil sie sich Zeichnen und freies Malen nicht zutrauen.

Zeichnen und Malen sind nicht die gleichen Betätigungen. Kinder können beides gebrauchen. Es dient nicht nur der Unterhaltung oder Lustbarkeit. Sie entwickeln viel Weltbewältigung und lernen viel bei diesen Tätigkeiten, die Welt zu sehen, zu erfassen, sich auszudrücken und sozial verständlich zu machen. Der Wert der Auseinandersetzung mit Formen und Farben ist kaum zu überschätzen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Malen, Kreativität, Fantasie, Gefühle, Bewusstsein, Kindergarten, Kleinkind, Schulkind