Wenn Kinder über Bauchweh klagen
Schmerzen sind Signale, dass „etwas nicht gut ist“. Sie sagen uns aber nicht direkt, was nicht gut ist. Schmerz ist ein Erleben im Körper, also zugleich körperlich (Nervenreiz) und seelisch (Schmerzempfindung). Gelernte Denkmuster leiten uns, wenn wir deren „Ursache“ bestimmen.
Im letzten Artikel (Sinnesorgan Körper, Heft 1/2010) habe ich dargestellt, dass wir alle Wahrnehmungen lernen. Ob und wie stark wir Schmerzen spüren, hängt nicht nur vom physiologischen Körpergeschehen ab, sondern auch von unserer Aufmerksamkeit: Welchen Signalen schenken wir Beachtung? Welche Vorstellungen verknüpfen wir mit diesen Signalen? Haben diese eine Bedeutung für mich oder „können wir sie glatt vergessen“?
spontanes Auswählen
Unser waches Bewusstsein ist andauernd damit beschäftigt, aus der Überfülle der Reize auszuwählen, welche Reize sich zur Wahrnehmung aufdrängen, welche davon der Aufmerksamkeit wert sind und welche übergangen werden sollen. Die Fülle der Reize, die sowohl von aussen wie von innen kommen, überlasten unser psychisches System permanent. Wer grosse Mühe hat, Reize zu „übersehen“, kann sich schlecht konzentrieren. Sind die Filter der Auswahl sehr schwach, reden wir von Konzentrationsschwäche oder gar Konzentrationsstörung. Diese haben in letzter Zeit sogar einen Namen bekommen: ADHS.
Nun stehen die Reize – von innen und aussen – in ständiger Konkurrenz miteinander. Je mehr Reize pro Millisekunde desto mehr „Filterleistung“ muss unser Bewusstseinsapparat leisten. Je aufdringlicher die einen Reize sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass andere Reize übersehen werden. Übersteigt die Gesamtmenge der Reize einerseits und deren Intensität andererseits das verkraftbare Mass eines Menschen, steigert sich seine Nervosität sichtbar: Er weiss nicht mehr, „wo ihm der Kopf steht“ (d.h.: Er verliert mehr und mehr die Kontrolle über seinen bewussten Verarbeitungsapparat) und er zeigt unkontrollierte Bewegungen, Zittern, Affektausbrüche, Tics etc. (die motorische Kontrolle entgleitet ihm).
fremdbestimmtes Auswählen
Gegen die Überforderung können Massnahmen ergriffen werden. Selbstbewusst kann ich gezielt Reizquellen ausschalten: Z.B. kann ich Fernseh-, Radio- und Computerspielzeiten klar bestimmen und begrenzen. Ich kann Rückzugsorte und –zeiten einplanen, unsinnigen Beschallungen aus dem Wege gehen. Das ist in der Öffentlichkeit allerdings nur begrenzt möglich. Indem sich unsere Zivilisation auf kontinuierliche Reizangriffe auf Auge (Plakate, Videowände) und Ohr (musikalische Dauerberieselung, tragbare Player etc.) entwickelt hat, fällt es den inneren Reizen unseres Körpers zunehmend schwer, sich Gehör zu verschaffen. Wir werden also nahezu durchgehend von uns (und unserer Körperwahrnehmung) abgelenkt. So ist für viele Menschen denn auch eine plötzliche und langdauernde Stille schwer erträglich; denn es melden sich „Stimmen“ (Signale), die uns so unbekannt sind, dass wir sie kaum noch verstehen und die deshalb unheimlich wirken.
Die andere Massnahme gegen die Überforderung ist die Erhöhung der Filterleistung. Gleichsam werden wir nicht mehr empfänglich „für leise Töne“. Diese auswählende Taubheit können wir uns antrainieren (gezieltes Wegesehen, Ablenkung etc.). Wir können auch Medikamente schlucken, die „beruhigen“, d.h. die dafür sorgen, dass wir viele Reize nicht mehr aufnehmen und ins Bewusstsein eindringen lassen.
Die Tiefenpsychologie weiss allerdings, dass auch nicht-wahrgenommene Reize ihre Spuren in der Seele, d.h. im Körpergedächtnis hinterlassen und von dort aus wirken – einfach ohne dass wir bewusst darüber verfügen. So sammelt sich denn „unter der Beruhigungspille“ viel unaufgeräumter Reizmüll an, gegen den die Filterleistung wieder erhöht werden muss. Dem Teufelskreis entgeht allein, wer sich diesen Schichten bewusst zuwendet und versucht, sie abzutragen. Nur: Wer hat dafür schon genügend Zeit?
Ablenken ist Bewerten
In der Kindheit lernen wir zu werten, welche Signale wichtig und welche zu überhören sind. Ablenkung ist hier eine zwiespältige Erziehungsmethode. Ein Kind will etwas oder spürt in sich etwas, das für die Erwachsenen lästig ist. Wir lenken daher die Aufmerksamkeit des Kindes von seiner inneren Stimme ab und auf ein äusseres Signal hin: „Schau doch mal wie lustig, das ... ist“ oder der Fernseher wird als Kinderhüte eingeschaltet. Das Kind erfährt, wie wir sein kindliches Interesse resp. seine Wahrnehmungen einstufen: Sie sind der Beachtung nicht wert. Dadurch wird die Bereitschaft, sich der Aussensteuerung zu unterstellen, gefördert: Das Zappelmännchen auf dem Bildschirm ist viel wichtiger als die eigenen Empfindungen.
Ich spreche absichtlich vom Zwiespalt. Einerseits ist übertriebene Selbstbeobachtung – seien es die eigenen Wünsche (Egoismus) oder Empfindungen (Wehleidigkeit z.B.) – durchaus lästig und nicht lebensdienlich. Eine Ablenkung mag da helfen. (Allerdings Vorsicht: Nur zu oft dient sie erzieherischer Bequemlichkeit, um Konflikten und Ablehnung auszuweichen. Dieser Aspekt verdiente einen eigenen Artikel). Anderseits führt die mangelhafte oder gar fehlende Selbstwahrnehmung zu grossen Gesundheitskosten, nicht nur finanziell gemessen, sondern auch hinsichtlich Lebensqualität.
In der Erziehung geht es um die Balance zwischen Selbstunterschätzung und Selbstüberschätzung. Manchmal – wenn es nicht gerade das Zappelmännchen ist – sind ja andere Dinge tatsächlich wichtiger als die Nabelschau des Kindes. Oft aber auch nicht!
Was ist Bauchweh?
Kommen wir zum nächsten Schritt: Das Kind darf sich selber spüren. Es hat Bauchweh!
Wie lernt es sein Bauchweh verstehen? Charles Dickens beginnt seine Weihnachtsgeschichte damit, dass ein heimkehrender Griesgram und Menschenfeind plötzlich merkwürdige Gefühle hat und lebende Gestalten sieht, wo doch nur sein Türklopfer hängt. Der Mann sinniert dann, dass sein Erleben eine zu wenig durchgekochte Kartoffel sein könnte (eine zu seiner Zeit gerade neu entdeckte somatische Erklärung abnormer psychischer Erlebnisse). Im Verlauf der Geschichte erfahren wir aber, dass dieser Materialist beginnt, seine im bisherigen Leben verlorenen inneren Empfindungen, Stimmen und Vorstellungen wiederzubeleben. Das Leben ist mehr als äussere Fakten und Zahlen, mehr als das, was die materielle Oberfläche zeigt.
Das Kind hat Bauchweh: Wo beginnen wir zu fragen? Oft wohl zuerst nach dem letzten Essen oder Trinken; dann nach möglichen Krankheiten und allen somatischen Erklärungen. Damit lenken wir auch das kindliche Selbstverständnis auf den materiellen Teil seiner und unserer Existenz. Vielleicht geben wir ihm Pille oder Trank zu schlucken. Das verstärkt die Erziehung, dass gegen Übel mit „Material“ vorzugehen ist. Materielle Ursachen sind zwar grundsätzlich nicht auszuschliessen und sollen auch beachtet werden. Materielle Bekämpfungsmittel sind oft wirksam. Von der Wirksamkeit darauf zu schliessen, dass die Beurteilung korrekt war, ist aber ein gefährlicher Trugschluss; gerade auch wenn er häufig gemacht wird.
Was macht Bauchweh?
Eine Mutter wollte ihr Kind wegen dessen Bauchschmerzen und Übelkeit zum wiederholten Mal von der Therapiestunde abmelden. Die Mutter schwankte zwischen Besorgnis über die Kränklichkeit des Kindes und ihrem ärgerlichen Gefühl, das Kind tyrannisiere alle mit seinen Beschwerden. Ich liess mir das Kind ans Telefon geben und es erklärte sich überraschend schnell bereit, trotz üblem Zustand herzukommen. In der Sprechstunde sah es echt leidend aus. Keine Anzeichen einer „faulen Ausrede“, kein Hinweis auf Simulantentum. Es hatte sich offensichtlich auf mein Verlangen hin hergeschleppt.
Im Verlauf dieser Stunde erhellte sich die Geschichte der Attacke. Auf die Frage, wann das Übel begonnen habe, erzählte es mir ein Ereignis an einem Wochenende, das ihm den Appetit verschlagen hatte. Es hatte einen massiven Eifersuchtsstreit mit der Mutter, was ihm die Mutter übel genommen habe. Die Lebensumstände der alleinstehenden Mutter verhinderte ein Austragen des Konflikts. Es konnte weder zum Vater flüchten noch sich die Wut auf die Mutter „leisten“. Es schluckte den Groll hinunter (eine unverdauliche „soziale Mahlzeit“). Dieser Groll wurde ihm erst bewusst, während es mir die Episode erzählte. Später in der Stunde berichtete es von zunehmender Angst, die Mutter könnte sterben oder es verlassen. Im Sprechen über diese Angst nahm die Übelkeit deutlich ab, die Bauchschmerzen hielten aber an. Das Bauchweh verschwand – noch in derselben Stunde -, als ich ihm ausdrücklich erlaubte, auf die Mutter wütend zu sein. Plötzlich konnte sie Wut und Ärger über die Mutter spüren und die körperlichen Empfindungen lösten sich auf.
Das andere Fragen
Die Gleichsetzung von Bauchweh und Wut wäre als Erkenntnis viel zu kurz gegriffen. Würde ich dem schmerzgeplagten Kind an den Kopf werfen, dass seine Bauchschmerzen „nichts anderes als seine Wut auf die Mutter“ seien, könnte ich damit sicher nichts Positives bewirken! In der Steinzeit der Psychoanalyse wurden solche Deutungen manchmal versucht – gelegentlich mit Erfolg, oft aber mit stark ablehnenden Reaktionen der Patienten.
Ich hatte das Kind anders gefragt: Nicht über die materiellen Vorgänge wie Nahrung und Verdauung etc., sondern nach den zeitlichen Verknüpfungen von Symptombeginn und Lebensumständen resp. – scheinbar unabhängige - Erlebnisse in jenem Zeitpunkt. Die aktuelle Situation, in der das Kind im Leben steht und was es neben den körperlichen Schmerzen spürt, führe ich zu einer – ihm ungewohnten – Verknüpfung von Körpersymptom und Lebensalltag. Es lernt sich anders verstehen und anders ausdrücken. Der somatische Ausdruck seines Leidens ist nicht mehr notwendig, da es seine Lebenssituation anders versteht und zudem die Erlaubnis zu verbotenen Gefühlen erhält.
Gefahr Chronifizierung
Mit dem blossen Bekämpfen der Auswirkungen (Symptome) ist oft keine Lösung erreicht, meist wird gar der Blick auf das eigentliche Problem verstellt. Für eine nachhaltige Lösung sind zuerst die Auslöser zu finden und dann die Quellen der Überlastung dingfest zu machen. Erst anschliessend kann an einer Lösung gearbeitet werden. Lassen wir jedoch das Signal verschwinden (Schmerzpille etc.), vernebeln wir nur die Sicht auf die Quelle des Leidens. Nicht oder falsch gestellte Fragen führen zu falschen Erkenntnissen und dann zu falschen, oft verschlimmernden Behandlungen resp. Lösungsversuchen.
Wer sich z. B. zu sehr „abhärtet“ – d.h. Verspannungen, Empfindungen von Angst bis Ekel etc. nicht mehr wahrnimmt -, läuft Gefahr seine Organe zu schädigen ohne es zu merken. Schreitet der Prozess lange Zeit unbemerkt fort, können auch anatomische oder biochemische Veränderungen angebahnt sein, die auch durch Lebensumstellungen nicht mehr rückgängig zu machen sind. Dies ist besonders stossend, wenn eine rechtzeitige Erkenntnis und Lösung der ursprünglichen Konflikte, die Chronifizierung hätte vermeiden lassen.
Nur eines von vielen Beispielen sei hier angeführt: Viele Schmerzen werden durch Verkrampfungen und Fehlhaltungen verursacht. Über lang andauernde muskuläre Überanspannungen können sich schmerzhafte Prozesse entwickeln, die schliesslich zu Entzündungen, zu biochemisch nachweisbaren oder gar anatomischen Veränderungen führen. Der Beginn der Störung liegt nicht selten in einer Fehlanpassung (Selbstvergewaltigung) an Lebensumstände, die nicht bekömmlich oder eben sogar unerträglich sind. Die Prävention sollte sich vermehrt darauf ausrichten, diese andere Frage – zumindest auch – zu stellen. So wichtig Ernährungsberatung sein mag, die genaue Analyse der Lebensumstände und der Anpassungszwänge gehört zur Prävention und zur Diagnostik von Krankheiten hinzu!
psychosomatische Erziehung
Und wir Erzieher? Was wir den Kindern mitgeben, worauf zu achten ist und welche Signale für die Lebensgestaltung wichtig sind, ist unsere erzieherische Verantwortung. Wahrnehmung und Verstehen des eigenen Körpers sollte eine grosse Aufmerksamkeit in der Erziehung erhalten – sowohl bei sich selber als auch beim Kind. Nicht nur die „körperliche Ertüchtigung“, auch der Beachtung der inneren Sinne sollte bewusst Raum verschafft werden. Die Erforschung der Organsprache (innen) und der Körpersprache (Mimik, Gestik) bedarf ebenso breiter Förderung wie die Entdeckung der „äusseren Welt“.
Ein besonderer Fokus kann dabei der Atmung eingeräumt werden; denn in ihr Verbinden sich Innen und Aussen in besonderer Form. Beobachtung und Selbstbeobachtung des Atems erweist sich besonders geeignet, sich selber zu spüren, kennen zu lernen und mit sich selber zu experimentieren. Wohl nicht zufällig reden Mythen der verschiedensten Kulturen vom Atem (oder Odem) als Element der Seele resp. der Beseelung und des Lebendigen. Schon allein eine Veränderung unserer Aufmerksamkeit in der Erziehung kann viel Veränderung in Selbstwahrnehmung, Selbstverständnis und Selbstverantwortung bewirken - gegenüber sich selber und gegenüber der Mitwelt.
© Dr. Rudolf Buchmann