Geschlechtserziehung ist mehr
Was in den siebziger Jahren harte politische und erziehungswissenschaftliche Kontroversen auslöste und damals als eigenes Schulfach in Diskussion stand, wird 40 Jahre später wieder zum Thema – z.B. anhand von Aufklärungsköfferchen.
Im Bewusstsein weiterer Bevölkerungskreise ist bestenfalls die - an sich auch schon über ein Jahrhundert alte - Erkenntnis geblieben, dass schon das kleine Kind ein sexuelles Wesen ist und dass die Aufklärung in der Adoleszenz ein hilfloses Unterfangen ist, um Töchtern und Söhnen zu sexueller Erfüllung, Glück und Verantwortungsbewusstsein zu verhelfen, wenn nicht zuvor erfolgreich erzieherische Vorarbeit geleistet wurde. Schon weniger sicher bin ich, ob sich auch die Erkenntnis erhalten hat, dass das Zentrale am Thema nicht die medizinischen Fragen sind, die dem Arzt und allenfalls noch dem Pfarrer - für die ethische Seite - überlassen werden können. Die holen sich interessierte Kinder heute im Internet!
Aus dem Dornröschenschlaf wecken
Schritt für Schritt wurde Geschlechtserziehung bildungspolitisch in den familiären Rahmen zurückverwiesen. Wo nicht vermeidbar, geriet das Thema unter dem Eindruck von AIDS wieder in die Ecke der Präventivmedizin. Werden die Eltern - mit dem Thema so alleingelassen, wie sie es vor der grossen Diskussion schon waren - in der Lage sein, die Aufgabe besser zu lösen als die vorhergehende Elterngeneration? Werden sie erfolgreicher unerwünschte Schwangerschaften, Missverständnisse zwischen Sexualpartnern und sexuelle Auslöser von Ehekrisen vermeiden helfen können? Die ungebremste Zunahme von Scheidungen mit all dem daraus entspringenden Leid für sie und ihre Kinder spricht dagegen.
Die Diskussion des Themas ist vielleicht etwas öffentlicher geworden und hat sicher einigen Müttern und Vätern erleichtert, ungezwungener auf Fragen der Kinder einzugehen, als dies vor Jahren noch der Fall war. Ich meine aber, dass die vielgepriesene pädagogische Formel nur " auf Fragen der Kinder antworten " sich um konkrete Vorstellungen drückt und der Verantwortung der Erziehung nicht gerecht wird.
biologische Fakten genügen nicht
Bei der Geschlechtserziehung geht es nicht nur um Organkenntnisse, Fortpflanzungsfunktionen, Verhütung und Geschlechtskrankheiten; beim Thema Sexualität, Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur um Fragen der sexuellen Lustgefühle und ihrer Auslöser. Bedeutsamere Themen für künftige Lebenserfüllung und Glück sind: a) Die allgemeine körperliche Erlebnis- und Genussfähigkeit, b) die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht und c) die Bejahung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, d) die Erfahrungen im Zusammenleben und der Umgang der Geschlechter unter sich im privaten Rahmen und in der Gesellschaft.
All dies hängt eng miteinander zusammen. Schwierigkeiten im sexuellen Erleben stammen praktisch immer aus viel grundlegenderen Beziehungsproblemen der Partner oder sie hängen mit Problemen der Selbstfindung der betreffenden Personen zusammen. Diese Probleme haben meist mannigfache Verflechtungen mit der Stellung im aktuellen Leben und/oder in der eigenen Kindheit. Diese kann ihrerseits wieder massgeblich von Geschlechtsrollenmustern geprägt sein. Jede Form von Teufels- oder Engelskreis ist hier anzutreffen.
Vorbilder sind für die Entwicklung der Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrollen und für die Bejahung der eigenen Geschlechtsidentität hoch bedeutsam. Vorbilder für die Kinder finden sich sowohl im Elternverhalten wie in allen Situationen, in denen Frauen und Männer; Mädchen und Buben etwas miteinander, gegeneinander oder betont alleine tun: Vorbilder sind nicht nur lebende Personen, sondern auch die modebesessene Barbie (als Nachfolgerin der ebenso dümmlichen Daisy), das Mädchen, und die Tausendsassas vom Format Mickey Mouse und seiner Nachfolger, der Knabe.
Vorurteile als Machtmittel
Wenn extreme Feministinnen Männern, weil sie Männer sind, die Fähigkeit rundweg absprechen, sich mit weiblicher Geschlechtlichkeit und Verhaltensmustern zu befassen, geht es ebenso um die Beziehung der Geschlechter in der Gesellschaft, wie wenn der - zu seiner Zeit (vor erst 100 Jahren!) sehr anerkannte - Anatomieprofessor Möbius vom angebornen Schwachsinn des Weibes sprach. Beide Haltungen sind beschränkt und vorurteilsbeladen. Es hat Folgen, wenn dem einen Geschlecht die Fähigkeit abgesprochen, Denken oder Erleben des andern zu verstehen.
Ein grosser Emanzipationsschritt für unsere heutige Gesellschaft ist die Integration der Geschlechter in das öffentliche Leben. Dieser hat die humane Verfassung der Gesellschaft wesentlich vorangebracht. Dieser historische Wandel ist keineswegs selbstverständlich und noch nicht so lange vollzogen, dass er unumkehrbar wäre! Es brauchte viele Anläufe, um die strikte Trennung zwischen einer reinen Frauenwelt und einer reinen Männerwelt zu überwinden. Das Frauenstimmrecht besteht erst seit rund 40 Jahren in der Schweiz. Im arabischen Frühling versuchen Frauen diesen Fortschritt zu erwirken. Was vor einem Jahr schon fast als erreicht galt, müssen sie heute bereits wieder mit sehr viel Mut verteidigen, weil der Fortschritt bereits wieder hinter andere politischen Zwecken und Machtspielen verlorenzugehen droht. Geschlechtliche Übervorteilung und ihre gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Auswirkungen sind historisch gewachsen und ihre Überwindung hat immer wieder Rückschläge erlitten. Man beachte etwa das Schicksal der Frauen der französischen Revolution, die ihre Errungenschaften 20 Jahre später weitgehend wieder verloren hatten.
Machtgewinn als kultureller Verlust
In einer geschlechtlich getrennten Gesellschaft dominieren zumeist Männer das öffentliche Geschehen. Austausch und gegenseitige Angewiesenheit zwischen den Geschlechtern beschränkt sich dann fast nur auf den Fortpflanzungsakt. Wir haben uns noch nicht lange - und auch nicht alle - aus dieser Befangenheit emanzipiert. Wir haben gelernt, dass sich die Geschlechter auch psychisch und kulturell fruchtbar aufeinander beziehen können.
Diesem Emanzipationsschritt stehen aber immer wieder Ängste zwischen den Geschlechtern entgegen. Sie entstammen der Vorstellung, alle geschlechtsspezifischen Überlegungen geschähen in Konkurrenz- und Kampfesabsicht. Die nämlichen Ängste führten Frauen und Männer zu Geheimbünden zusammen, die das andere Geschlecht ausschlossen. "Herrenwitze" und Männerbünde einerseits, männerfeindliche, weibliche Sexistinnen entstammen der fehlenden oder fehlerhaften Kommunikation. Feindlichkeit resultiert fast immer aus mangelnder Bekanntschaft und hat ihren Ursprung praktisch immer in Ängsten vor dem - unbekannten, fremden - Andern.
Je mehr die Angst vor dem andern Geschlecht das Motiv solcher Zusammenschlüsse ist, desto gewalttätiger und gefährlicher werden sie. Aus dem Bestand an mittelalterlichen Bruderschaften und Hexenringen entstand das Klima für Hexenverfolgungen und frauenfeindliche Parolen. Nicht zufällig ging mit der Entfremdung der Geschlechter auch die Verteufelung des Körpers und der Sexualität - nicht aber des Fortpflanzungsaktes - einher. Der Kampf um eine freie Beziehung der Geschlechter zueinander und gegenseitige Anerkennung der Gleichheit in der Verschiedenartigkeit ist nicht auf Dauer gesichert.
Latenz als geschlechtliche Selbstfindung
Mit dem Bewusstwerden der eignen Zugehörigkeit zum einen Geschlecht wird das andere notwendigerweise fremd. Erste entwicklungspsychologische Aufgabe ist jetzt das Erkunden der eignen Identität, des Körpers, seiner Funktionen und seiner Symbolik: Was ist Männlichkeit? Was ist Weiblichkeit? Das Interesse richtet sich folgerichtig auf das eigene Geschlecht und seine Abgrenzung. Es findet ein Rückzug des Interessens auf die eignen GeschlechtsgenossInnen statt. Sie dauert bis weit in die Vorpubertät hinein. In dieser Phase entsteht ein Graben der Fremdheit, des Interessensschwundes und des Unverständnisses zwischen den Geschlechtern. Bandenbildungen und Selbstaufwertungsversuche durch Abwertung der Andersartigen beobachten wir in dieser Phase oft.
Die Abgrenzung ist ein wichtiger Schritt hin zur Selbstfindung. Achten Sie darauf, dass Abgrenzung strikt von Wertfragen getrennt wird: Andersartigkeit (geschlechtliche, aber natürlich auch in andern menschlichen Bereichen!) darf gar nicht mit moralischen oder Wertfragen in Kontakt kommen! Weiblich ist weder gut noch böse, schlecht, besser oder dämlich. Männlich weder gefährlich, bedrohlich, noch grossartig oder herrlich. Diese Wertungen sind in der Menschheitsgeschichte immer wieder geschehen und haben viel Leid und Elend erzeugt.
Überwindung der Entfremdungsphase
Für die weitere Entwicklung der Kinder ist entscheidend, wie und ob diese Entfremdungsphase überwunden wird. Hilfreich ist jedenfalls, wenn die Abgrenzungen mit positiven Erlebnissen verknüpft sind. Es ist toll eine Frau resp. ein Mann zu werden. Ich muss nicht gleich sein, um gleich gut zu sein. Ich werde nicht besser, wenn die andere schlechter ist! Gegenseitiges Verhöhnen beispielsweise unterhöhlt die Bereitschaft für eine spätere positive Annäherung. Wahrung und Anerkennung, ja bewusste Aufwertung der Andersartigkeit ist Voraussetzung für späteren gegenseitigen Respekt. Dies sind auch Zielsetzungen der Geschlechtserziehung und in allen Altersstufen, im Besonderen aber in der Latenz (Primarschulalter) bis weit in die Vorpubertät.
Ängste, Bedrohungsgefühle, Neid, Minderwertigkeitsgefühle, Hass und Kommunikationsmangel zum andern Geschlecht überfallen den Menschen nicht aus heiterem Himmel in der Adoleszenz. Ebenso wenig tauchen Zuneigung, Vertrauen, Hingabe, Stolz, Liebe und Beziehungsfähigkeit aus dem Nichts auf. Sie haben sehr viel damit zu tun, wie sich jemand in seiner eigenen Haut fühlen gelernt hat. Das von seinen Eltern mit Freude und Begeisterung begrüsste und in seiner Entwicklung mit elterlichem Stolz und Wohlgefallen begleitete Mädchen wird auf seine Weiblichkeit genauso ungezwungen stolz sein wie der Jüngling unter denselben Umständen auf seine Männlichkeit. Der in der psychologischen Literatur berühmt gewordene Neid der Mädchen auf die Männlichkeit stellt kein Naturereignis dar, sondern ist das Resultat gesellschaftlicher und familiärer Erfahrungen, jener persönlichen Benachteiligungen, die sie ihrer Geschlechtszugehörigkeit zuschreiben. Der Geschlechterneid beschränkt sich denn auch keineswegs auf Frauen. Wünsche von Knaben und Männern, Mutter werden zu können, und ihr Neid auf andere Privilegien des Frauseins, werden weniger öffentlich diskutiert, bestehen aber genauso. Auch wo keine geplante Geschlechtserziehung durchgeführt wird, sind die Erfahrungen prägend, wie mit solchen Gefühlen umgesprungen wird.
Die psychologische Seite des Körpers
Schliesslich noch ein Wort zum Umgang mit dem eigenen Körper. Für das Erziehungsziel der Liebesfähigkeit ist eine positive Einstellung zum eigenen Körper unerlässlich. Sich selber gut finden, soll sich nicht nur auf die Sprach- oder Sportnote beziehen müssen. Die fürs Lebensganze ebenso wichtige Quelle ist die Zufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, dem eigenen Sich-Bewegen und Sich-Spüren. Der Körper ist nicht nur Vehikel des Geistes und auch nicht nur Adressat für die Gesundheits-und Hygieneindustrie.
Die Einstellung zum eigenen Körper prägt sich sehr früh. Der erste Umweltkontakt geschieht fast nur über den Körper. Ob dieser Kontakt grob oder zart und liebevoll ausfällt, beeinflusst nicht nur die Einstellung des Kindes zur Umwelt (Vertrauen -Misstrauen), sondern auch die Einstellung zum Körper. Bereitet er Unannehmlichkeiten? Etwa durch Reissen beim Haarbürsten, hartes Schrubben beim Baden, Hungern oder Erdrückt-Werden durch ungewünschte, unzeitige Nahrung, durch Bestraft-Werden beim Berühren der Genitalien usw. Oder gewährt der Körper Genuss? In zarter Berührung, im Streicheln und Massieren: Ist dies nur durch Mitmenschen oder durch sich selber gestattet? Wo darf ich mich nackt zeigen? Werde ich dazu forciert (verführt) oder darf ich mich verbergen? Wo darf ich nackte Menschen sehen? Wo, wann oder warum muss ich mich schämen? Darf ich mich schämen? Ist zur-Schau-Stellen nur in Verbindung mit Leistung gestattet (z.B. Sport)?
Distanzierung oder Identifikation?
Die Bandbreite der Einflüsse, die auf die Einstellung zum eigenen Körper einwirken, ist sehr gross. Sie wirken immer zugleich darauf ein, ob ich mich gern mit meinem Körper identifiziere und damit auch meine Geschlechtszugehörigkeit voll akzeptiere, oder ob zwischen dem persönlichen Bewusstsein und dem Körpererleben eine Distanz angelegt wird, die letztlich der Gefühlsempfindung in allen Lebensbezügen hinderlich wird. Wenn Frauen mehr Gefühlstiefe zugeschrieben wird, dann ist dies wohl eine Folge davon, dass ihnen mehr gestattet wird, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen. Die "harten Männer" holen wohl viel aus ihrem Körper heraus. Ihre Abhärtung geht aber auf Kosten der Sensibilität. Diese Aussagen sind bereits wieder verkürzt und enthalten deshalb einiges von den Rollenvorurteilen bezüglich Männlichkeit und Weiblichkeit.
Im Bereich der Geschlechtserziehung und geschlechtsspezifischen Erziehung ist - trotz der Ruhe im Blätterwald - noch sehr vieles offen. Wir haben in diesem Artikel nicht einmal alles streifen können. Ich halte es für ausgesprochen schlecht, wenn Eltern und Lehrer in diesem Erziehungsbereich allein gelassen und auf die Kinder verwiesen werden, die eben richtig fragen müssen.
Zudem hat Geschlechtserziehung nur zum Teil mit Fragenbeantwortung zu tun. Ebenso wichtig ist die Lebenspraxis, der grobe oder zärtliche Umgang mit meinem und deinem Körper, die Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht und das gemeinsame Erleben, das Verantwortungsbewusstsein für unser Zusammenleben allgemein und für freundschaftliche Bindungen im besonderen.
© Dr. Rudolf Buchmann