Von der negativen zur positiven Identitätsbestimmung:
Europa im Kinderzimmer (2)
Wie im Artikel Europa im Kinderzimmer festgehalten lautet die Formel der Identität: Ich gleich ich ! - Ich gleich was? Die Formel ist eine Gleichung. Mit was oder mit wem bin ich gleich ? Mit wem bin ich ungleich, verschieden, fremd?
Mit dieser Frage setzt das Vergleichen ein. Leider bleibt es oft nicht ein beobachtendes oder feststellendes Vergleichen. Frühzeitig - und da ist die Erziehung sehr mitverantwortlich - kommt in das Vergleichen ein Werten hinein. "Nimmt Dir ein Vorbild am Bruder", "du bist ein guter Schüler" (im Gegensatz zu ... ?).
Problem Werten
In dieser Hinsicht spielt es gar keine Rolle ob guter oder schlechter Schüler. Wie auch immer die Noten aussehen, führen wir mit der Primarschule das Werten von Menschen ein. Der nächste Schritt ist, dass die Gleichen - die mit denen ich mich identifizieren kann - zusammengehören. Eines der häufigsten Mittel Identität zu schaffen, ist die Abgrenzung von andern. Wer ich bin definiert sich dann danach, wer ich nicht bin. Ich bin - Gott sei dank - nicht so wie die andere. Ich kann also meinen Selbstwert hochhalten, indem ich die anderen abwerte. Durch das Ausgrenzen entsteht die In-Gruppe. Um "in"-sein zu können, muss es auch etwas geben, das "out" ist.
Mit andern Worten: Durch Abwerten der anderen glauben wir eine Aufwertung des eigenen erreichen zu können. Obwohl dies psychologisch eine Zeit lang so funktionieren mag, hält der Trick nicht lange vor; denn diese Art Identität ist hohl. Nur mühsam lässt sich die innere Leere damit verdecken. Um dem darauf folgenden öden Gefühle entgegenzuwirken, braucht es dann starker äusserer Reize oder des Tatbeweises, dass die anderen weniger wert oder bedrohlich sind. Der Weg zur Gewaltanwendung ist von hier aus nicht weit.
Gewaltprojektion
Diese Form der Gewalt kommt aus dem eigenen Inneren (aus der eigenen Leere), wird aber als von aussen kommend gesehen. Um zu beweisen, dass sie doch von aussen kommt, führt die innere Leere zu provokativem Verhalten. Gelingt die Provokation, kommt tatsächlich eine angriffige Reaktion von aussen. Dies hilft die Konstruktion der fremden Aggression oder Minderwertwertigkeit aufrecht zu erhalten und die Fiktion der eigenen Überlegenheit wieder eine Zeit lang zu bewahren. Das ganze dient der Abwehr der Depression oder anders ausgedrückt, dem nicht Sehen müssen der inneren Leere.
Diesen Weg könnten wir als negative Identitätsfindung bezeichnen. Sie beruht auf dem Hinweis darauf, was ich alles nicht bin. Um mich gut zu fühlen, muss ich sogleich beifügen, dass das, was ich nicht bin, auch wertlos oder minderwertig ist.
Auf diesem Weg wird aber gerade der leere Bedeutungsraum nicht wirklich gefüllt. Ich weiss erst, was ich nicht bin, resp. nicht sein will. Dieser Vorgang ist glücklicherweise kein unvermeidliches Naturgesetz. Zwar hat Identität tatsächlich etwas mit Abgrenzung zu tun: Es ist nicht alles gleich, es sind nicht alle gleich. Das sich Identifizieren ("sich mit jemand anderem gleich-setzen") hat etwas mit Grenzziehungen zum Fremden zu tun. Es ist auch eine sozial sehr bedeutsame Voraussetzung für die Gruppenbildung Aber muss es notwendig etwas mit Wertung zu tun haben ? Muss ich etwas schlecht finden, um das andere gut finden zu können ? Verliere ich an Identität öder auch an Wert, wenn die andersartige auch wertvoll ist, wenn ich sie als ungleich und doch gleichwertig ansehen kann ?
Vom Abwerten
Ich erinnere mich da an Vorlesungen an der Uni, in denen zuerst ein halbes Semester ältere psychologische Theorie kritisiert und abqualifiziert wurden, um anschliessend die "richtige" Betrachtungsweise darzulegen. Oftmals fand ich die verschiedenen Theorien sehr interessant und ärgerte mich daher über die Abqualifizierung. Aus verschiedenen Blickwinkeln und Zusammenhängen betrachtet können auch sehr verschiedene Theorien sinnvoll und erhellend sein. Sie müssen sich nicht gegenseitig bedrohen. Sie dürfen - und sollen oft auch - klar auseinandergehalten werden und ihre Identität beibehalten. Sie müssen auch nicht ver-
mischt oder angeglichen werden, um höhere Gültigkeit zu erlangen. Die Vielfalt ist der Lebensrealität näher als eine erzwungene Einheit. Wichtig ist allein, eine innere Stimmigkeit, also die überdachte und nachvollziehbare Bezogenheit der Aussagen aufeinander. Dasselbe lässt sich auch über Erziehungsratschläge und sogar über die menschliche Persönlichkeit und – eben die Identität sagen: Die Stärke und Sicherheit der Persönlichkeit wächst aus der Beziehung aller Kräfte eines Menschen aufeinander. Unsicherheit und brüchige Identität entstehen aus inneren Abspaltungen einzelner Persönlichkeitsteile und der Schwierigkeit zu gewissen eigenen Seiten stehen zu können.
Wo ist die Weiche falsch gestellt, so dass aus der Aufwertung meiner selbst eine Abwertung des anderen erfolgen zu müssen scheint ? Kann ich mich nicht aufwerten ohne andere oder anderes abzuwerten ?
Eine Frage der Selbstsicherheit
Eine unwiderlegbare Beobachtung am Kleinkind besagt, dass das Fremde Angst macht. Wir haben diese Beobachtung sogar mit dem Wort "Fremden" bezeichnet. Das Verhalten lässt sich so beschreiben, dass das etwa halbjährige Kind, das bisher alle Gesichter anlächelte, plötzlich bei einem unbekannten Gesicht, kalt reagiert, sich abzuwenden versucht, vielleicht weint. Es meidet, was es - neuerdings - als Unbekanntes erkennen kann. Dies ist ein wichtiger intellektueller Entwicklungsschritt: Es kann Ungleiches auseinander halten. Dieser intellektuelle Schritt ist offenbar mit einem Angstaffekt verknüpft, was für das Säuglingsalter durchaus sinnvoll ist; denn die noch sehr schwach ausgebildeten Fähigkeiten zur Realitätsbewältigung sind beim Säugling relativ rasch überbeansprucht und überlastet. Natürlich ist das so kleine Kind noch nicht in der Lage, sich anders zu wehren, wenn es Angst hat. Wir wissen auch, dass die natürliche Antwort auf Angst aggressives Verhalten ist, sobald eine Chance zu bestehen scheint, die Quelle der Angst auszuschalten.
Abwerten ist ein aggressiver Akt, der durchaus als Versuch verstanden werden kann, das Fremde auszuschalten. Es ist aber nicht gesagt, dass erwachsene Menschen noch in der Art des Kleinkindes reagieren müssen; denn glücklicherweise bleibt dem Kind diese Reaktionsweise meist nicht erhalten: Das sich frei entwickelnde Kind wird später mit Neugier auf Unbekanntes zugehen, sobald es mehr Fähigkeiten zur Realitätsbewältigung entwickelt und diesen seinen Fähigkeiten vertrauen gelernt hat. Dieser Wandel der Reaktionsmöglichkeit hängt also weitgehend mit dem Mass zusammen, indem es Vertrauen in sich selber und in die Umwelt aufbauen konnte. Und dies wiederum hängt von glücklichen Erfahrungen ab, die es im eigenen Tun in seiner Umwelt erleben durfte. Glückliche Erfahrungen entstehen, wenn eigenes Tun nicht überfordert, aber, auch nicht Überbehütung das eigene Experimentieren übermässig eingeschränkt wird. Die Identitätsformel lautet: ich bin eine/r, die/der Probleme anpacken und lösen kann; eine, die mit Interesse Neues untersuchen kann, ohne aufgefressen oder überwältigt zu werden.
Am Fremden sind nicht die Fremden schuld!
Ein misstrauisches und selbstunsicheres Kind überwindet das Fremden nicht leicht oder nie. Für es bleibt das Fremde das Unheimliche. Die Identitätsformel lautet: Ich bin eine/r, gegen die/den die unheimlichen anderen eingestellt sind, eine/r, der/dem sie alles neiden und entreissen wollen.
Was lernen wir daraus für Europa ?
Misstrauische, selbstunsichere Menschen reagieren mit mehr Angst auf das Fremde und die Fremden. Wo das Gefühl der inneren Identität bedroht ist, weil es nicht mit positiven Inhalten gefüllt ist, braucht dieser Mensch starke Mauern, die ihn schützen. Das Ausserhalb ist fremd und muss draussen bleiben, weil ja sonst die Mauer an Stärke verliert. Die Rechtfertigung für diese Abgrenzung liegt im Argument, dass diejenigen ausserhalb Feinde sind oder zumindest eine Gefahr darstellen. Der Selbstwertlabile meint, sich wertmässig nur auf der Höhe halten zu können, indem er andere unter sich sieht. Andere sind die Nichtgleichen, die nicht-Christen, die nicht- Schweizer, die nicht-Männer (die nicht Frauen), die nicht-Erwachsenen, die nicht-Mächtigen. Er glaubt, sie alle "unter sich" zu brauchen, um sich gut und sicher fühlen zu können. Er braucht Macht. Und wenn er oder sie Macht schon nicht selber oder allein erhalten kann, muss er/sie wenigsten gleich sein, wie der Mächtige oder sich ihm anschliessen: Sich identifizieren mit einem Helden oder Heroen.
Andersartigkeit wagen
Aber: Ich bin gar nicht Federer, auch wenn ich Schweizer bin wie er! Ich stehe aber auch nicht unten, wenn er oben auf dem Podest steht. Ich bin anders. Und das ist eigentlich gar nicht so gefährlich. So zu sein, wie ich bin, ist eigentlich gar nicht so schlecht, auch wenn andere anders sind - und dazu noch gut !
Es ist gar kein entweder - oder, kein du oder ich. Ich muss auch nicht gleich sein, um gut zu sein. Das ist die Botschaft, die Männer und Frauen, Mädchen und Knaben brauchen, um freudig sich selber sein zu können ohne andere abzuwerten, andere zu verfolgen oder die andern angleichen zu wollen.
Erst die Anerkennung der Andersartigkeit und der Vielfalt der Menschen macht die eigene Besonderheit und Identität wirklich wertvoll und einmalig.
Mehr Selbstsicherheit und gestärkte Identität zeigen sich gerade nicht in Heldenposen und ständig erhöhter Verteidigungsbereitschaft - weder in der Kaserne noch auf dem Pausenhof. Sie zeigt sich nicht in martialischen Selbstbestimmungsansprüchen, die gegen andere (und andersdenkende) gerichtet sind. Sie zeigen sich nicht in Drohungen gegen das Fremde und die Fremden. Sie zeigen sich vielmehr in mutiger Friedfertigkeit, die die Auseinandersetzung nicht scheut, aber auf Drohen und Gewalt verzichten kann. Sie zeigt sich im offenen Bekenntnis der eigenen Überzeugungen und der Bereitschaft über diese Überzeugungen in den Dialog zu treten.
© Dr. Rudolf Buchmann