Europa im Kinderzimmer (1) oder die Bedeutung der Identität
Identität oder Selbstbild sind wichtige Grundlagen, um selbstverantwortlich zu handeln. Neben der Geschlechtszugehörigkeit und den gesellschaftlichen Rollen, die wir einnehmen, ist die Herkunft (die Heimat) eine starke Triebfeder für unser Verhalten. Selbstdefinition und Zugehörigkeitsgefühle sind eng verknüpft.
Die Umwälzungen in Europa brachten die bestehenden Strukturen ins Rutschen. Autoritäten wurden zu Buhmännern, Potentaten zu Randfiguren des Geschehens. Und von den heutigen Grenzen wissen wir nicht, in wievielen Monaten sie neu gezogen werden und wer sie mit welchen Mitteln ziehen wird.
Abgrenzung oder Solidarität
In so weitreichenden Umbruchsituationen stehen einander zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Die eine sieht das einzige Heil in der radikalen Abgrenzung der eigenen Volksgruppe, um sie zu erhalten. Auch soll die eigene Gruppe jeweils das Territorium ganz allein für sich benutzen können. Aus dieser Position heraus werden die Befreiungsfortschritte zu Verdrängungs- oder gar Vernichtungsvorstössen gegen die anderen, das andersartige. So werden Menschen zu Fremden, die unter Umständen jahrelang nahe beisammen waren.
Die andere Position sieht die einzige Überlebenschance in der Anerkennung verschiedener Arten, Interessen und der Menschlichkeit aller Menschen. Hier wird Verträglichkeit gefordert, notfalls Verzicht, Teilen und Helfen - kurz Solidarität nicht nur mit den eignen sondern auch mit dem andern, ja sogar mit dem Fremden.
Nun zeigt sich, dass diese zweite Position einen schwierigen Stand hat; und leider erleben wir in Europa, wie wieder zuerst Krieg, Tote und Elend produziert werden, bevor dann - zähneknirschend - das Lebensrecht der andern wieder anerkannt werden muss und daraus - vielleicht erst in der nächsten Generation - ein neu geordnetes Zusammenleben entstehen kann. Sicher geht es in vielen Ländern auch um materielle Probleme, im Hintergrund aber geht es auch um das Gefühl der Macht, die Angst vor Ohnmacht und um Prestige. Wie kommt es aber, dass dem Machtstreben, das ja doch relativ wenigen etwas bringen wird, von so vielen so viel geopfert wird ?
Rassismus
Wir beobachten, wie Nationalismus, Ethnoszentrismus und zunehmend wieder Rassismus das Vehikel bilden, mit dem die Volksmassen bewegt werden können. Mit welchen Motiven ist zu erklären, dass die "Massen" diesem Weg folgen, von dem sie doch wissen und mehr oder weniger wissentlich in Kauf nehmen, dass er zu Blut, Tränen und Zerstörungen führt, dass er Generationenwerte vernichtet und später Aufbauarbeit verursacht, an denen wieder Generationen zu tragen haben ?
Beim Einzelnen lässt sich das Verhalten vielleicht einfach als Streben nach Macht verstehen. Bei Mitläufern und Volksmassen versagt aber dieser Erklärungsgrund. Offenbar ist "Prestige" eine bedeutsame Kraft, die wir wohl oft unterschätzen, weil wir es nur mit Eitelkeit oder persönlichem Ehrgeiz in Verbindung bringen; dahinter verbirgt sich aber die bedeutsame Frage, wie wir die Werterhaltung unserer eigenen Identität erreichen. Dies ist eine Frage, die tief in den seelischen Bereich der Sinnstiftung des eigenen Lebens hineinreicht. Der Appell der Rassisten, Nationalisten und Chauvinisten richtet sich immer an ein bestimmtes Gefühl: An die Identität des Einzelnen. "Wir sind Serben, nicht Moslems und nicht Kroaten (und umgekehrt)". "Wir sind Arier und keine Juden" "Juden und keine Araber" "Wir sind Christen und keine Mohammedaner". Es scheint, dass das Bedürfnis nach Identität eine der mächtigsten Triebkräfte menschlichen Handelns ist. Dafür werden Opfer gebracht, selbst der Tod wird in Kauf genommen.
Sinnsuche und Zerstörung
Kein Zweifel: Psychologisch gesehen verleiht Identität dem Leben einen höheren Sinn. Philosophisch lässt sich dies nicht ohne weiteres begründen. Es ist schwer auszumachen, was Sinnspendendes an Identität dran sein soll, wenn die ganzen Lebensgrundlagen zugrunde gehen. Auch theologisch dürfte es schwer fallen, einen göttlichen Willen zu begründen, der für die Reinerhaltung einer Lehre die Zerstörung der Schöpfung in Kauf nimmt.
Offenkundig geht es um ein urtümliches Bedürfnis menschlichen Lebens und nicht um eine vernünftige Entscheidung oder eine spirituelle Kraft. Diese Einsicht zwingt den Blick auf die Frage, wie denn mit diesem Bedürfnis umgegangen werden kann, damit es nicht in zerstörerische Bahnen führt.
Jedes physische und psychische Bedürfnis müssen wir als Kraftquelle ansehen, die nach Verhalten drängt Wir können sie nicht einfach verstopfen oder aberziehen, weil sich sonst die Kräfte Bahn brechen, wo sie können und ohne unsere bewusste oder vernünftige Einwirkung. Das Bedürfnis müssen wir also zur Kenntnis nehmen. Es ist die Frage, wie wir damit umgehen und was wir aus dieser Kraft machen. Jede Kraftquelle kann zum Aufbauen oder zum Zerstören führen, je nachdem wie wir sie nutzen.
Identität, was ist das?
Es gilt also dieses Bedürfnis nach Identität näher zu betrachten. Zunächst - was heisst Identität?
Um das 2. Lebensjahr herum, entdeckt das Kind sein Ich. Zunächst durch die Gleichsetzung seiner Gefühle, seiner Körpererfahrungen und -vorstellungen von sich selbst mit seinem Namen, mit dem es gerufen wird. Langsam baut sich ein Bewusstsein auf, das sich schliesslich in Doppelworten "ich Hunger" (z.B.) "Ich selber machen" "Ich Schuhe" usw. abbildet. Diese verschiedenen Ichs werden ausgeweitet und schliesslich in einem ganzheitlich abstrakten "Ich" zusammengefasst.
Die grosse Entdeckung, die Formel der Identität lautet: Ich bin ich. Diese Aussage beinhaltet aber erst einen leeren Bedeutungsraum, den es zu füllen gilt. Natürlich ist er schon voll Erlebnisse. Aber das Gelebte ist noch nicht im Bewusstsein zusammengefasst. Ich bin ich! - Ich bin was ?
Ab dem Kindergartenalter lässt uns diese Frage nicht mehr los. Diese Frage hängt sich künftig an alle anderen Lebensäusserungen und -empfindungen an. In geschlossenen Gesellschaften wird die Frage nicht zum Problem, weil die Zugehörigkeit zum Stamm oder zur Religionsgemeinschaft eine abschliessende Antwort gibt, die nicht hinterfragt werden darf, aber auch nicht hinterfragt werden muss. Mit der Errungenschaft einer offenen Gesellschaft, wie wir sie kennen und . als demokratisch-pluralistisch schätzen, handeln wir uns das Problem ein, dass jeder Mensch in der offenen Gesellschaft dieser Frage individuell stellen muss. Es gibt keine allgemeingültige Antwort mehr. Wer sich dieser Frage nicht zu stellen wagt, wer Angst vor dieser Freiheit hat, ist vorbereitet in die Fänge totalitärer Bewegungen zu geraten; seien dies religiöse, ideologische und/oder rassistische Fanatiker.
Wer bin ich?
Es geht um die Frage nach der Identität. Und hier trifft sich die europäische Entwicklung mit dem Kinderzimmer:
Wie erlangen die Menschen im Balkan eine neue Identität, nachdem die Formeln Kommunist oder Antikommunist oder nicht-Kommunist oder Jugoslawe ihre Bedeutung verloren haben? Wer sich so identifiziert hatte und wenig andere Identität besitzt, muss ja heute sagen: Jugoslawien ist nichts mehr, ich bin also nichts! Da muss nur jemand kommen, der sagt: "Du bist doch etwas; du bist Serbe". Wenn nichts anderes da ist, was Identität gibt, ist es psychologisch natürlich, dass er als neuer Sinnstifter begrüsst wird; denn wer bietet eine Idee oder ein Ideal an, mit dem sich zu identifizieren lohnt; das Lebenssinn spendet, wenn ich mich mit ihm identifiziere? Und dies ist wiederum nicht nur das Problem der Jugoslawen !
Wie verschaffen sich Jugendliche bei uns eine Identität, wenn sie nicht mehr Schüler und noch nicht Berufsleute sind ? Ist etwa "Konsument in Europa" eine sinnstiftende Identität ? Mit welchen Mitteln verschaffen wir uns unsere Identität ? Menschen, denen dies misslingt, werden krank. Schätzungsweise jeder 5. Mensch in der Schweiz, leidet an Depressionen. Wir sind in der Spitzengruppe der Selbstmordrate. Wie ermöglichen wir den Kindern - und uns selber - zu einer uns haltenden Identität zu finden ?
Damit werde ich mich in der nächsten Folge befassen.
© Dr. Rudolf Buchmann