Der hohe Preis für schöne Ideale – falsches Selbst

Wenn die Ideale "Familien-Harmonie" und "Aufrichtigkeit" in Widerstreit mit den echten eigenen Gefühlen geraten, besteht die Gefahr ein falsches Selbst aufzubauen. Dies ist gleichbedeutend mit dem Verlust des innersten Kerns der Persönlichkeit.

Das Dilemma

"Gib Tante Jolanda schön die Hand und bedanke Dich für das nette Geschenk" (immer dieses verschleuderte Geld für nutzlose Dinge, die nur herumliegen) - "Aber einen Kuss hat Onkel Ralf doch zum Abschied verdient. Tu nicht so blöd und sag anständig Adieu !" - "Aber selbstverständlich kommst du mit zu den Grosseltern und mach nicht wieder so eine Szene wie letztes Mal. Wir mussten uns ja schämen. Was sollen sie auch von uns denken". - "Hör mal, du lügst ja! Das habe ich gar nicht gerne, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst. Du weisst: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht". Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit sind wichtige Werte. Die Forderung nach Ehrlichkeit zieht sich als roter Faden durch jede religiöse und moralische Erziehung. Erbauliche und erschreckende Kindergeschichten erzählen von den schlimmen Folgen von Verlogenheit und Verbergen der Wahrheit.

Höflichkeit, Anstand und zwischenmenschliche Harmonie sind schöne Ideal sozialen Zusammenlebens. In vielen Familie gilt Harmonie derart als oberstes Gebot, dass jede Spannung zwischen Familienmitgliedern und gar deren lautstarke Äusserung mit Beschämung und Schuldgefühlen bezahlt werden.

Neben den Idealen gibt es aber auch die spontanen Gefühlsreaktionen - Sympathie und Antipathie -, eigene Wünsche und Interessen, die sich mit denen der andern nicht decken. Da gibt es Gefühle, die den Eltern nicht passen; auf die sie sauer oder sogar hart reagieren.

Elternreaktion und innerer Konflikt

Was nun aber, wenn sich die Forderungen in die Quere kommen. Wenn der Kuss für Onkel Ralf eine abgrundtiefe Überwindung kostet, weil sich das Kind vor diesem Onkel zutiefst ekelt?

Aus der elterlichen Rüge über das "abscheuliche Verhalten" gegen Onkel Ralf entsteht die Botschaft: Die abstossenden Gefühle sind falsche Gefühle - verbotene Gefühle. Das Kind zieht die Schlussfolgerung: Wer falsche, verbotene Gefühle hat, ist böse, selber falsch; einfach irgendwie daneben.

Wir alle kennen das Dilemma, die Zwickmühle: Notlüge erlaubt? Selbstüberwindung unumgänglich?

So unangenehm uns der Konflikt auch ist, solange er bewusst ist, schadet er nicht viel und kann mal so, mal anders entschieden werden. Vielleicht ist es gerade ein Zeichen selbständiger Erwachsenheit, sich solchen Konflikten zu stellen und sie bewusst zu entscheiden.

Das abhängige Kind steht aber viel weniger über diesen Dingen. Forderungen und innere Empfindungen können zu einem unlösbaren Knoten werden. Da ist einerseits die Forderung ehrlich und wahrhaftig zu sein; also zu seinen Absichten und Taten zu stehen. Da sind andererseits die verbotenen Wünsche und Gefühle, die die Eltern verurteilen: Soll es zu ihnen stehen? Das kleinere Kind ist in der speziellen Situation, dass es noch wenig unterscheidet zwischen dem, was es getan und dem, was es gedacht hat. Es will nicht schlecht sein, also versteckt es die Gefühle. Es soll aber die Wahrheit zeigen, d.h. sie nicht verbergen: Verbergen der Wahrheit ist ja schlecht.

Bewusstes und Unbewusstes

"Meine Gefühle und Gedanken sind schlecht und falsch" höre ich, wenn ich sie zeige. Aber ich weiss auch, dass ich schlecht bin, wenn ich sie nicht zeige; ich soll ja wahrhaftig sein und nichts vorspielen. Ich bin in jedem Fall schlecht. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?

Die "einfachste Lösung" ist: Nicht mehr zu fühlen, was ich wirklich fühle. Ich rede mir ein zu fühlen, was ich fühlen soll. Spontanen Empfindungen abstumpfen und "spüren" lernen, was von mir erwartet wird, enthebt mich der unlösbaren Pein: Das Verdrängen der eigenen Gefühle wird eingeübt und das mit guten Gründen. Verdrängte Gefühle sind aber nicht weg sie sind "nur" nicht mehr bewusst. Ich habe sie nicht mehr zur Verfügung! Sie bleiben wirksam, ohne dass ich von ihnen weiss und deshalb ohne meine bewussten Entscheidungen.

Mein Profit: In meinem Bewusstsein bin den Konflikt und vor allem die Verantwortung (scheinbar) los. Ich weiss nichts mehr von diesen Gefühlen. Ich kann sie auch nicht hervorholen, also kann sie mir niemand vorwerfen – nicht einmal ich selber: Das schlechte Gewissen wird unbewusst.

Das Leiden am falschen Selbst

Dieses "Lernen" führt geradewegs zum inneren Zustand, den die Psychoanalytiker das "falsche Selbst" nennen. Es ist keine bewusste Lüge, kaum als innere Verlogenheit anzusprechen; denn das Bewusstsein über die innersten und echten Empfindungen ist derart abhandengekommen, dass nur noch bewusst erlebt wird, was mir meine Umwelt und meine Gewohnheiten einreden, dass ich fühle. Das wahre Selbst, die individuelle, ureigene Reaktion - also der Kern der eigenen Persönlichkeit - ist abhandengekommen, versunken und bleibt unterentwickelt. Die Entwicklung bleibt auf jener Stufe stehen, in der diese Blockade eintritt. Die Psychoanalytiker sprechen von Fixierung.

In Lebensumbrüchen wie der Pubertät, der Midlife Krise, der Pensionierung oder bei grossen Lebensumstellungen (Scheidung, Arbeitslosigkeit usw.) bricht die gewohnte Welt auseinander. Das Gehäuse, in das sich die Persönlichkeit erst eingepfercht wurde und sich dann selber eingenistet hat, wird brüchig. Die erlernte automatische Anpassung taugt nicht mehr, weil nicht mehr klar ist, nach wem sie sich ausrichten soll. Das Eigene, das Authentische, die Reaktion aus der inneren Tiefe wäre jetzt gefragt.

Existentielle Fragen pochen an Denken und Fühlen: Wer bin ich?, was bin ich?, Was tue ich hier? Bin ich so, wie ich mich ein Leben lang verhalten habe? Diesen Fragen halten die Gewöhnungen nicht stand. Wenn aus dem Innern der Persönlichkeit kein Widerhall auf die Fragen aufsteigt, entsteht eine abgrundtiefe Angst vor der inneren Leere. Ein grosses Leiden erfasst die "Zu-Wohlerzogenen".

Peinliche Fragen

Wie können Eltern Kindern helfen diese Entwicklung zu vermieden?

"Warum habt ihr dem Grossvater nicht gesagt, dass es euch stinkt, schon wieder seine abenteuerlichen Geschichten über die langweiligen Reisen seiner Jugendzeit anzuhören?" - "Wie kannst du nur so fragen? Sag das ja nie, wenn es Grossvater hören kann".

Ja warum kann ein Kind so fragen? Glücklicherweise kann es noch so fragen. Dieses Kind ist (noch?) nicht von falschem Anstand vergiftet; es kann noch aussprechen, was es wirklich spürt. Wo Kinder "peinliche Fragen" stellen, ist dies oft ein gutes Zeichen! Warum sind wir peinlich berührt? Es ist wichtig, unsere Peinlichkeit zu ergründen und sie nicht dem Kind anzuhängen. Vielleicht schämen wir uns, weil wir dem Grossvater nicht mehr die Wahrheit sagen können; weil wir ihm die grosse Harmonie-Show vorspielen und es sehr unangenehm werden könnte, wenn er dahinter käme - durch die "peinliche Frage" des Kindes.

Wahrnehmungsorgan Gefühle

Zur seelischen Gesundheit gehört das uneingeschränkte Recht auf das Spüren echter Gefühle. Echte Gefühle stehen sehr oft im Widerstreit zum Ideal der Harmonie. Die Vielzahl echter Gefühle garantiert auch, dass es in der Persönlichkeit selber zu widerstreitenden Empfindungen kommt. Wer echte Gefühle zulässt, lebt deshalb nicht unbedingt leichter aber intensiver.

Das Recht auf Spüren ist nicht gleich einem Recht auf Ausleben und Ausspeien aller Gefühle: Wir können nicht wie lebende Vulkane durch die Gegend wandern. Entscheidend ist die elterliche uneingeschränkte Anerkennung, dass auftauchende Gefühle eine Berechtigung haben; dass sie mir selber etwas sagen; dass es darum geht, sie näher zu erfassen und zu verstehen - gerade auch wenn sie merkwürdig oder gar bizzar sind.

Basis einer gesunden Entwicklung ist diese Anerkennung und die Achtung der spontanen Gefühle. Gefühle sind - wie äussere Wahrnehmungsorgane des Sehens und Hörens, Riechens und Tastens - Informationsquellen über den Zustand der Wirklichkeit.

Das System der Gefühle dient meiner Orientierung in der Welt. Dieses Orientierungssystem oder innere Sinnesorgan kann entwickelt werden, wie die äusseren Sinne oder es kann zugestopft, verletzt oder abgestumpft werden wie die Ohren im Gedröhn des Alltagslärms.

Erziehung zum wahren Selbst

Dem Kind seinen Ekel vor Onkel Ralf vorzuwerfen, ist etwa so "sinnvoll", wie wenn wir ihm vorwerfen wollten, dass es sagt, die Tulpen seien rot. Die Forderung nach Anstand gehört auf die Verhaltensebene und nicht auf die Wahrnehmensebene. Wenn es das Kind ekelt, ist das so, aber es soll den Onkel trotzdem nicht anspucken. Aber ebenso wenig soll es jenseits seiner Wahrnehmung, was für es gut ist, handeln müssen. Nein sagen kann lästig sein, unanständig ist es nie.

Indem wir das Wahrnehmungsorgan "Gefühl" anerkennen und fördern; indem wir es schützen vor falschem Einsatz der Ideale, bauen wir mit an der Entwicklung des wahren Selbst.

© Dr. Rudolf Buchmann

www.praxis-buchmann.ch

Stichworte: Störungsbilder, Identität, Ideale, Selbstbild, Vorbilder