Der Glanz im Auge der Mutter

Aufmerksamkeit ist eine ganz zentrale und grundlegende seelische Nahrung, der jedes Kind bedarf. Je kleiner es noch ist, desto kürzer ist die Zeitspanne, in der es darauf verzichten kann. Wer genügend Sicherheit entwickeln durfte, dass er/sie nicht übersehen wird, wenn sie/er sich nicht selbst in den Vordergrund rückt, kann gelassene Selbstsicherheit entwickeln.

Wieso muss denn Sabrina immer so „fägneschte“, kann sie denn nicht einmal ruhig sitzen? Und Fred platzt immer ins „Stübli“ rein, man muss immer ein Auge auf ihn haben. Die ältere Kollegin der Kindergärtnerin meint dazu, du musst einfach etwas wegschauen. Die beiden wollen nur Aufmerksamkeit!

„Nur“ Aufmerksamkeit?

Wie oft hörte ich solche Gespräche. Ich verstehe den guten Rat, der die entnervte Kollegin beschwichtigen soll. Ich verstehe auch, dass solche Kinder den Ablauf und was wohl viel schlimmer ist, die Atmosphäre stören, die für die ganze Gruppe aufgebaut werden soll. Solche Kinder sind nicht einfach zu führen und können der Kindergärtnerin schon die Laune verderben, die eine besonders geheimnisvolle oder anregende Stimmung erzeugen wollte.

Aber dennoch ist das so eine Sache mit dem Wegschauen. Ein Kind das „nur Aufmerksamkeit“ erzeugen will, hat ein brennendes Anliegen. Vielleicht gilt der Anspruch der Kindergärtnerin, vielleicht aber auch andern Kindern. Ja, es mag oft stimmen: Sabrina oder Luka wollen irgendwie auffallen, imponieren, im Mittelpunkt stehen. Mit dieser Erklärung wissen wir aber noch wenig über das Kind. Weshalb kann es nicht ebenso „brav“ sein, wie die andern?

Aber - müssen wir fragen - ist dieser Wunsch denn ein gutes oder ein schlechtes Anliegen? Ist ein Kind besser dran, das nicht im Mittelpunkt stehen mag? Was steht hinter diesem Wunsch?

Auffallen wollen als soziales Grundbedürfnis

Hinter dem Auffallen wollen kann recht Verschiedenes stehen, solches das hoch willkommen ist und solches, das auf Probleme und Leiden hinweist.

Zunächst ist der Wunsch, Aufmerksamkeit zu erhalten, ein grundlegender Entwicklungsmotor und ein soziales Bedürfnis. Denken wir an Kinder, die auf Aufmerksamkeit der andern völlig verzichten wollen, kommen uns bald Störungsbilder in den Sinn: Ein autistisches Kind leidet gewissermassen an einem völligen Mangel an diesem Bedürfnis; die andern sind keine Partner für es; es fehlt ihm über weite Strecken der Bezug zu ihnen. Aber auch sehr scheue und verschämte Kinder meiden es, Aufmerksamkeit zu erregen. Den Wunsch Aufmerksamkeit zu erregen, sollten wir nicht vorschnell abwerten, sondern ihn sinnvoll unterstützen.

Der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, ist also zunächst gesund und biologisch für den Säugling überlebenswichtig. Die Aufmerksamkeit muss zu ihm kommen, weil er selber noch völlig hilflos ist. Die positive Beantwortung dieses Bedürfnisses erzeugt im Kind das Gefühl, auf dieser Welt willkommen zu sein und einen Platz in der Mitte seiner Mitmenschen zu haben. Dies ist der Grundstein für Weltvertrauen, Selbstvertrauen und ein starkes, verlässliches Selbstbewusstsein.

Zum Problem wird dieses Bedürfnis dort, wo das Kind durch seinen Wunsch stört. Und da ist -, wie bei allen Störungen - immer auch danach zu fragen, wen es stört, wie es stört und ob das Stören nicht auch mit der mangelnden Aufmerksamkeit der andern zu tun hat, also eigentlich berechtigt und sinnvoll ist.

Verschiedene Ursachen, gleiches Erscheinungsbild

Aber auch hier keine Einseitigkeit! Es gibt Störungen, die subjektiv berechtigt oder nicht, nicht gut geheissen werden können, weil sie die Bedürfnisse und Ansprüche der Mitmenschen zu sehr tangieren. Und mit dem Verständnis für störendes Verhalten allein, ist noch keinem Kind geholfen: Es fühlt sich in der Rolle des Störenfrieds nie lange wohl.

Denn störendes Auffallen zeigt sich meistens gerade bei Kindern, die das Gefühl willkommen zu sein nicht kennen und ein verlässliches Selbstwertgefühl in den ersten Lebensjahren nicht aufbauen konnten. Sie sind nicht sicher, dass sie einen Platz haben und beachtet werden, wenn sie sich nicht lauthals melden. Sie sind vielleicht gewohnt, dass sie um ihren Platz kämpfen müssen. Und dieser Kampf kann verschiedene Ursachen haben und verschiedene Ausprägungen erzeugen, wie um Aufmerksamkeit gekämpft wird.

Ein Kind kommt z.B. aus der Erfahrung heraus, dass Erwachsene überhaupt nur auf Kinder achten, wenn „man sie stört“. Immer sind alle mit ihren Dingen beschäftigt, so dass für seine Anliegen kaum eine Chance besteht, wenn er sich nicht meldet. Stören ist also gleichbedeutend mit einer Überlebensstrategie. Stören hat hier einen lebensgeschichtlichen Sinn!

Andere Kinder haben die Erfahrung in sich, dass in der Schar der Geschwister ein ständiger Konkurrenzkampf tobt, wer die Mutter für sich haben kann. Hier steht Auffallen mehr im Dienste der Individuierung; dem Wunsch in der Masse nicht unterzugehen.

Wieder andere kommen aus Verhältnissen, in denen sie die Hoffnung auf die Erwachsenen schon aufgegeben haben. Sie wenden sich mit ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit mehr an Gleichaltrige, die Geschwister, die Kinder auf dem Hof oder im Block. Für sie haben Erwachsene und deren Absichten für es selber keine Bedeutung mehr. Es rechnet nicht damit, dass die Kindergärtnerin auf es Bezug nimmt. Vielleicht muss ein kleiner Störenfried erst lernen, dass die Kindergärtnerin für ihn und die Kinder da ist; dass sie im Sinn hat etwas Schönes oder Lustiges mit ihm zu machen; dass sie nicht nur da ist zum Hüten, Wüten und kindliche Initiativen zu beschneiden.

Der Klassenstar

Es gibt auch Kinder (und Erwachsene) mit so anziehender Ausstrahlung, dass sie wie von selbst zum Mittelpunkt werden. Manchmal sind auch solche Kinder wieder und wieder vorlaut, aber ihnen „kann man es nicht übel nehmen“ - oh Ungerechtigkeit! Sie haben nicht gelernt, sich zurück zu nehmen, weil es bisher gar keine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gab. Wenn sie nun in Konkurrenz geraten mit andern, die für sich dasselbe Anrecht nehmen wollen, müssen sie beweisen wie viel grossartiger sie sind, alles schon können und wissen.

Auch ein Klassen“Star“ sucht im Mittelpunkt zu stehen, aber eben meist erfolgreich und daher weniger auffällig. Es gibt unterschiedliche Klassenstars; solche die von allen anerkannte „Bessere“ sind: Der Leistungsstarke, der Bewunderung und Neid erweckt. Je nach der Art wie er diese Vorzugsstellung trägt ist er ein Streber, ein Ekel oder aber ein Führer und Vorbild.

Unangenehmer für Lehrkräfte sind die sozialen Klassenstars, die darauf aus sind, dem Lehrer die Show zu stehlen. Sie rivalisieren mit der Autorität des Erwachsenen und suchen nach der Gunst der Gruppe. Im Gegensatz zum Leistungsstar kann hier viel Unfug, Zerstörung oder Grobheiten das Mittel sein, um das Ziel zu erreichen.

„Der Glanz im Auge der Mutter“

Wer von seinem Wert überzeugt sein darf, ohne grosse oder gewaltige Dinge ständig vorweisen zu müssen, kann sich zurücknehmen, kann zuschauen und zuhören, was andere zu sagen haben und sich über deren Entfaltung freuen.

Diese Gelassenheit hat zu tun mit dem „Glanz im Auge der Mutter“, wie ein Psychoanalytiker anschaulich formulierte. Gemeint ist die begleitende, freundlich-stolze Aufmerksamkeit der Mutter für ihr Kind in den ersten Wochen und Monaten, ohne Forderungen an es zu stellen. Sie signalisiert ihm gefühlsmässig, wie wichtig es selber ist - einfach dadurch, dass es da ist. Besonders tragfähig und umfassend wirkt sich aus, wenn diese Freude unabhängig von seinem augenblicklichen Tun und Lassen Bestand hat; denn dieser Glanz signalisiert dem Kind, was an ihm geschätzt wird - und was eben nicht. Fehlt er ganz, wird es sich kaum willkommen fühlen. Richtet er sich nur auf wenige Zustände oder Situationen, wird es sehr früh darauf geprägt, nur bestimmte Stimmungen und Gefühle an sich selber zu mögen und andere an sich abzulehnen oder gar zu verabscheuen.

Die ehrgeizige Mutter z.B. strahlt viel mehr, wenn das Kind etwas besonderes macht oder kann. Ihr genügt das reine Da-sein des Kindes nicht. So lenkt diese Mutter ihr Kind von früh an auf grosses Werthalten für Leistung oder für „Besonders sein“ hin und „vererbt“ so ihren Leistungsehrgeiz resp. ihre Vorliebe für Extravaganz. Damit sei nicht gewertet: Welche Haltung erwünscht ist und welche zu kritisieren sei, ist eine eigene Diskussion wert. Festzuhalten ist aber, dass auf diesem Wege charakterliche Haltungen entstehen. Zu warnen ist auch vor einer moralischen Wertung (schlechte Mutter / gute Mutter); denn viele dieser Einflüsse unterstehen nicht dem freien Willen. Zum Problem werden sie dort, wo die Einseitigkeit zu massiv ist.

Diese Einflüsse sind sehr subtil, individuell und ausserordentlich verschieden: Von grosser Bedeutung sind dabei die Selbstsicherheit der Mutter undihre verfügbare Zeit, um mit dem Kind in intensivem Kontakt zu sein: Die gehetzte Mutter wird mehr Signale vom Kind brauchen, um sich ihm zuzuwenden. Eine Mutter, deren Gatte eifersüchtig darauf ist, dass sich die Frau jetzt so viel dem Kind zuwendet und nicht ihm selber, gerät in ein Dilemma oder unter Druck (solche Eifersucht gibt es!). Ob Aufmerksamkeitsbeschränkung durch innerlichen Druck oder durch äussere Umstände entsteht, spielt für die psychologische Auswirkung eine zweitrangige Rolle. Entscheidend ist, was zwischen Bezugsperson und Säugling wirklich geschieht.

Selbstwert, Aufmerksamkeit und Depression

So drängt nach langer Behandlung bei vielen Depressiven als eine der Wurzeln ihres Leidens die Angst und Vorstellung ins Bewusstsein, dass sie eben grundsätzlich (einfach so wie sie sind) niemals liebenswert, ja überhaupt nichts wert seien. In den schlimmsten Momenten fühlen sie sich vielleicht sogar lebens-unwert. Gegen dieses Gefühl drohender Wertlosigkeit kämpfen sie mit dem erdrückenden Auftrag, noch etwas Grossartiges leisten zu müssen oder besonders Gutes zu tun. Getrieben von der Angst, sonst sich selber nicht mehr zu spüren und gar nicht mehr zu existieren (sich lebendig zu fühlen), leben sie im Gefühl, grosse Aufgaben erledigen zu müssen und sind ständig bedroht vom Schuldgefühl, die Lösung ihrer Lebensaufgaben verfehlt oder verpasst zu haben. Ein solches Leben, in dem immerwährende Anstrengung gefordert ist, nur schon um sich selber spüren zu dürfen, ist unglaublich erdrückend. Wenn die Kraft erschöpft ist, fällt das Empfinden eigenen Wertes, ja sogar eigener Existenz zusammen. Die Vorstellung überfällt sie, selber daran Schuld zu sein, weil sie nicht mehr mögen und weil die Hoffnung vertan ist, das „Aufmerksamkeitswürdige“ doch noch zu schaffen.

Hinter solchen Vorstellungen und Ängsten steht die Erfahrung, nie Beachtung ohne Anstrengung zu finden. Die Erfahrung geht oft einher mit sozialen Ängsten und Vereinsamung, weil kaum genügend Selbstwert da ist, um sich „den anderen zuzumuten“. Die Aufmerksamkeit der andern wird jetzt eher geflohen und gemieden als gesucht; denn sie müsste doch in Peinlichkeiten enden. Wenn der Kampf ganz aufgegeben ist, tauchen verständlicherweise Gefühle der Ausweglosigkeit und des Endes auf.

Wegschauen ist keine Lösung

Der Kampf um die Aufmerksamkeit - sagten wir - entspringt einem sozialen Bedürfnis. Ein Kind, das um seinen Platz kämpft, hat für mich grundsätzlich bessere Entwicklungschancen als ein Kind, das sich mit seiner Unfähigkeit, Aufmerksamkeit zu erregen, abgefunden hat. Im Auffallen wollen steckt Engagement und Lebensenergie. Unser Bestreben sollte daher nicht auf die Unterdrückung oder Ausrottung dieser Haltung ausgerichtet sein.

Die Energie, die im Stören des Kindes steckt, sollte vielmehr umgelenkt werden auf Taten und Haltungen, auf die das Kind stolz sein kann, ohne zu stören. Und hier eröffnet sich ein grosses Feld. Wichtig scheint mir, dass wir nicht nur an Leistungen (Taten) denken. Ebenso wichtig sind Erlebnisse, in denen das Kind glücklich sein kann, ohne dies mit eigener Leistung abverdienen zu müssen. Was Kinder (und alle Menschen) brauchen, ist das Gefühl in Ordnung zu sein und geschätzt zu werden, so wie sie sind. Dass sie erleben dürfen, achtbar und beachtet zu sein, nicht erst, wenn sie etwas Grossartiges tun, sondern einfach so, weil sie eben Menschen sind; weil es Fred oder Sabrina ist; weil sie Kinder sind.

Wegschauen ist nur eine Notbremse für überforderte Pädagogen. Wer bei störenden Kindern wegschaut, überlässt sie ihrer Not. Die aktiveren werden ihre Symptome steigern, weil sie das Wegschauen nicht akzeptieren. Sie werden Häuser beschmieren oder vandalisierend und terrorisierend die Mitschüler plagen. Die Resignierteren werden eher in depressive Lebensläufe einschwenken.

Viele Probleme entstehen meiner Meinung nach gerade durch das Wegschauen und das nicht Beachten der Signale. Gesucht ist die Aufmerksamkeit. Sie ist ein hoher Wert und ein Menschenrecht. Kinder sind darauf besonders angewiesen und unsere Gesellschaft resp. jede/r Einzelne sollte sie ihnen nicht vorenthalten. Wer an Aufmerksamkeit spart (z.B. Sparen in Bildungs- und Betreuungsinstitutionen, was zu grossen Klassen, zu wenig pädagogischer Ausbildung, zu kurzer Therapiedauer führt) macht sich mitverantwortlich am Anstieg der Aggressivität der Heranwachsenden, drücke sich diese nun mehr in Gewalt nach aussen (Destruktivität) oder in Gewalt nach innen (Selbstdestruktivität, Depressivität) aus. Dieses Sparen kommt uns alle recht teuer zu stehen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Mutter, Aufmerksamkeit, Vertrauen, Säugling, Selbstvertrauen, Identität