Tabu und Drogen: Gefahren aus der Repression

Gewissenserziehung 2

Doppelmoral ist keine moderne Erfindung. Polizeilicher Auftrag und rechtliche Pflicht, Doppelmoral durchzusetzen, birgt aber gewaltige Sprengkraft für die Erziehung in unsere staatliche, kulturelle und gesellschaftliche Gemeinschaft.

Ein wichtiges Erziehungsziel ist es, dem Kind einen guten Einstieg in die Gesellschaft zu ermöglichen. Es soll die Ordnung achten und beachten, an die sich alle zu halten haben. Es soll in seiner Altersgruppe Anschluss finden, mitmachen können und von diesen geachtet und beachtet werden. Dazu hilft ihm ein „gutes Gewissen“. Ein gutes Gewissen ist ein autonomes (unabhängiges, persönliches) Gewissen. Dieses setzt sich zusammen aus dem Wissen, was erlaubt und was verboten ist, aus den Idealen, was erwünscht und was angestrebt ist und schliesslich aus der Willenskraft, das Gute auch selbständig anzustreben. Autonom nenne ich es deshalb, weil das Gewissen auch im Stande sein soll, kritisch zu prüfen, ob das Geforderte und Erwünschte auch wirklich gut ist. Fehlt dieser Teil, wird das „Gewissen“ zum Motor eines Kadavergehorsams oder einer Marionette der Anpassung: Dem blinden Mitläufer einer Ideologie, eines Idols oder eines Leaders (auf deutsch heisst „Leader“ „Führer“, „mein Führer“). Vorsicht also beim Opinionleader!

Das „gute Gewissen“ setzt Kenntnisse und Erfahrungen voraus. Es braucht erkennbare und erfahrbare Leitlinien in der Gemeinschaft. Erkennbar: Die Forderungen, Gebote und Verbote müssen formuliert sein, ausgesprochen und ausdiskutiert: Das ist der verstandesmässige (intellektuelle) Teil. Erfahren: Die Regeln müssen vorgelebt sein durch Vorbilder, durchgesetzt werden gegen Bequemlichkeit und Lustverfallenheit: Dies ist der gemütvolle (affektive) Teil. Nur beide zusammen entwickeln genügend Kraft, um gegen Versuchung, Werbung (auch politische) und Gruppendruck standzuhalten.

Doppelmoral

In der Gesellschaft herrscht immer ein erkleckliches Stück Doppelmoral. Dies können wir nicht ausrotten. Doppelmoral heisst, dass das geforderte Verhalten nicht gelebt wird. Besonders auffällig ist es dort, wo jemand öffentlich (oder in der Erziehung) vehement von allen andern fordert, was er selber nicht tut. Es gehört zur gesunden Entwicklung der Jugendlichen, dass sie auf Doppelmoral besonders scharf reagieren. Denn sie haben ja die Aufgabe zu bewältigen, ein für sich selber gültiges und genügend starkes Gerüst an Werten und Normen aufzubauen, um sich ihrer Bequemlichkeiten und Lüste zu widersetzen. Sie müssen das Kunststück fertig bringen, in der Altersgruppe mitzumachen ohne beim schlimmeren Blödsinn und Schabernack oder gar Kriminellem mitzumachen.

Die einfachste „Lösung“ mit Doppelmoral fertig zu werden, ist es, jeweils die eine Seite auszublenden. Drogenkonsum ist schlecht. Wir haben viele gute Gründe. Die Gründe sind wirklich gut, um davon abzuraten. Aber wir nehmen doch unseren Schluck Alkohol, unsere Zigarette, hier eine Schlaftablette und dort einen Stimmungsaufheller. Wir fördern den Weinbau. Aber das hat gar nichts mit den Drogengesetzen zu tun. Das ist eine ganz andere Welt.

Das Eigentum soll garantiert sein und die Schulen gut; die Strassen müssen nicht nur gut sondern perfekt sein. Aber wenn es um das Steuer „sparen“ geht, ist eine trickreiche Beraterschaft bemüht – völlig legal versteht sich –, denjenigen dumm hinzustellen, der einfach versteuert, wie es eigentlich alle sollten. Ein schlechtes Gewissen? Obwohl es so gut getarnt ist und niemand merkt? Wir wären ja blöd. Die Sprache (vgl. Artikel Tabu: Aus den Augen, aus dem Sinn) hilft uns zur Abspaltung: Wer darf schon etwas gegen „Sparen“ sagen, auch wenn eigentlich Hinterziehung gemeint ist!

Haschisch betrifft weniger die Erwachsenen, schon gar nicht die Arrivierten und Gesetzemacher: Wir laufen keine Gefahr, Unrechtmässiges zu tun; denn Alkohol ist ja erlaubt. Haschisch trifft die junge Generation und ihre Suchtgewohnheiten.

Haschisch als moralisches Exempel

Hasch ist illegal. Wir wissen es, die Gerichte und Parlamente wissen es, die Polizei weiss es, die Lehrer wissen es, die Kinder, die Jugendlichen und sogar die politischen Parteien wissen es. Es muss auch so sein, aus ehrbaren Gründen: Ideale gesunder Lebensweise stehen dahinter, Jugendschutz und Prophylaxe. Wer könnte da schon dagegen sein? Nichts gegen die Ziele.

Hasch wird in der Schweiz tonnenweise geraucht und geschluckt: Von einem recht grossen Teil der SchülerInnen, von einem Teil der LehrerInnen, von Geschäftsleuten, von PolitikerInnen und RichterInnen, wohl auch von PolizistInnen. Wir wissen es: Die Gerichte und ParlamentarInnen wissen es (oder könnten es zumindest wissen), die LehrerInnen wissen es, die Parteien wissen es. Die Kinder und Jugendlichen wissen es auch.

Wir wissen, oder könnten es zumindest wissen: Haschisch kann nicht unterbunden werden. Die Polizei wäre völlig überfordert. Der Konsum ist toleriert. Der Handel so verästelt, dass immer nur Sündenböcke dran glauben müssen, wenn wieder einmal etwas auffliegt. Niemand hat eine brauchbare Handlungsanleitung, wie das Verbot durchzusetzen wäre. Die Geschichte wiederholt sich: Wie vor hundert Jahren der Kaffee verfolgt wurde, wird heute – trotz der geschichtlichen Erfahrung – dasselbe mit dem Haschisch versucht.

Mit Haschisch (und andern Drogen) wird viel Geld gemacht (ich sage absichtlich nicht verdient). Neben den Dealern leben ganze Berufszweige vom Verbot. Ein guter Teil der Gefängniskosten gehen auf ihr Konto, viele Stellen im Justizapparat sind damit ausgelastet. Auch bestimmte PolitikerInnen kommen auf ihre Kosten: Sie profilieren sich auf der Seite der Moral und sammeln Wählerstimmen bei denen, die die gelebte Realität nicht sehen oder nicht sehen wollen.

Das Verbot als trojanisches Pferd

Wie sollen wir nun mit dieser doppelten Realität in der Kindererziehung fertig werden? Viele versuchen von der gelebten Realität wegzusehen und pochen in guter Absicht auf die moralischen Ideale, weisen auf die Gefahren hin und verleugnen – teils auch vor sich selber -, dass es auf Pausenhöfen und Freizeitanlagen ihre heile Welt schlicht nicht mehr gibt.

Wie wirkt sich dies auf die erzieherische Autorität und auf das Vertrauen der Jugendlichen in den Staat aus? Haschisch ist ein Thema, bei dem der Spruch vieler Jugendlicher, dass „die Alten nicht draus kommen oder nicht mehr von heute sind“ eine gewichtige Richtigkeit hat. Der Versuch am Verbot festzuhalten, wo es schlicht nicht mehr durchsetzbar ist und auch nirgends wirklich durchgesetzt wird, ist eine erzieherische Katastrophe, bei der es nur zum kleinsten Teil um Drogen geht. Es geht um viel mehr: Das Auseinanderklaffen der vertretenen moralischen Behauptung und der von den Kindern erlebten Realität ist so riesig, dass es grundlegende Auswirkungen hat, die die Gemeinschaft tatsächlich in Gefahr bringen. Wohlverstanden: Die Gefahr ist weder das Haschisch selber, noch die Ablehnung eines Rauschmittels. Die Gefahr ist die Unangemessenheit der Verbote angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung.

Die Kinder lernen, dass Eltern und Behörden offensichtlich keine Ahnung haben. Das denken sie bei vielem und es ist das Privileg der Jugend. Schwierig für die Eltern ist, dass ihre Kinder in diesem Punkt unestreitbar recht haben. Schwierig ist, dass die Eltern vermitteln müssen, dass etwas Unrecht sei (Verboten), was doch verbreitete Gewohnheit ist. Schwierig auch zu vermitteln, dass in der gelebten Realität – nicht nur am Rande, sondern auf breitem Feld – die allgemeine Devise gilt: Sich nicht erwischen lassen, ist die Hauptsache.

Rechtsbewusstsein wird gefährdet

Die Situation nagt entwicklungspsychologisch gesehen an der Wurzel des Unrechtsbewusstseins und der Einstellung zur Rechtssicherheit! Die Gefahr für die Gesellschaft, die aus diesem Umstand erwächst, wird wenig beachtet. Ich halte sie für immens. Schon in der Kinderstubenpädagogik wissen wir, dass Verbote und Drohungen, die nicht verständlich begründet und schon gar nicht durchgesetzt werden können, mehr Gefahr für die Entwicklung darstellen als sie Gewissen bildend sind.

In grossem Massstab, wie wir es heute erleben, hat es Folgen für die Charakterbildung einer ganzen Generation. Wenn wir einem vierzehnjährigen sagen, dass in den nächsten Jahren das Verbot wohl aufgehoben wird, heisst das im Klartext, dass er einen guten Teil seiner prägenden Jugendjahren in Rechtsunsicherheit lebt. Eigentlich gilt gar nicht mehr, wofür er mit Strafe bedroht ist. Ein Hanfladen wird „ausgehoben“. Hat er nicht gute Gründe auf seiner Seite, wenn er sich mit dem Bestraften solidarisiert. In dieser Zeit ist er andauernd (und das ist prägend!) in der Schwebe: Grundsätzlich könnte er jederzeit erwischt und bestraft werden. Der Ängstliche lässt es bleiben – und ärgert sich darüber, dass dem Frecheren nichts geschieht. Der um das Recht Unbekümmerte wird bestärkt in seiner Haltung, dass Verbote nicht so ernst gemeint sind und verallgemeinert diese Erfahrung womöglich auf viele weitere Gebote und Verbote.

Das Dilemma der Eltern

Die Eltern geraten in die Lage, verbotenes Tun ihrer Kinder zu decken oder sich bei den Kindern mit moralischem Fundamentalismus ins Abseits zu stellen. Im zweiten Falle laufen sie Gefahr, dass die Kinder auch mit ernsthaften Problemen nicht mehr auf sie zukommen, weil sie die Eltern grundsätzlich einem andern Lager zurechnen. Decken die Eltern verbotenes Tun, wird es bedeutend schwieriger, sich für das Einhalten anderer Gesetze stark zu machen, die vielleicht auch nicht vollkommen der eigenen Vorstellung entsprechen. Dass man sich – um der Gemeinschaft willen – auch einmal zurücknehmen und etwas akzeptieren muss, das einem nicht einleuchtet, wäre ein guter Grundsatz. Angesichts der Heuchelei und Doppelmoral in dieser Frage, wird es schwieriger. Ich spreche noch nicht einmal vom Problem der legalen Drogen, für die nicht einmal ein Werbeverbot durchzusetzen war.

Bei alledem geht es nicht um die Frage, ob Drogen als Substanz gefährlich sind. Die Diskussion um die Drogenschädlichkeit erweist sich nach dem Gesagten wie ein Ablenkungsmanöver. Gefährliche Substanzen, Gefährdungen an Leib und Leben und gewinnorientierte Zerstörung von Gesundheit gibt es zu Hauf. Die Gesellschaft traut ihren Mitgliedern – auch den Jungen – zu, damit klar zu kommen: Es geschehen mehr Unfälle mit Invaliditäts- und Todesfolgen im Verkehr und im Sport als im Drogenbereich.

Es geht mir nicht darum, von den Problemen wegzusehen, die durch Drogen ausgelöst werden,. Ich möchte auch keine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Gefahrenherden heraufbeschwören. Verhaschte Jugendliche verpassen einen Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz – keine Frage! Zu warnen davor ist völlig in Ordnung. Es gilt auf die Gefahr hinzuweisen, die aus dem gescheiterten Versuch entsteht, mit Verboten und untauglichen Kontrollen gegen eine Jugenddroge vorgehen zu wollen, während verschiedene „Erwachsenendrogen“ nicht nur erlaubt, sondern sogar beworben werden dürfen.

Manchmal kommt mir der Verdacht, die einzigen Profiteure des derzeitigen Zustandes seien diejenigen, die den Jugendlichen das Geld abschröpfen. Sie sind geschützt vor billiger Konkurrenz, wenn der Eigenanbau erlaubt wäre. Ein breiter Teil der „Wertschöpfung“, die ja dann auch teilweise in die Wirtschaft und in die Schattenwirtschaft fliesst, ginge verloren. Sind drogenpolitisch repressive PolitikerInnen vielleicht – mit oder ohne es zu merken - Marionetten an den Fäden einer geschäftstüchtigen Unterwelt?

Tabubruch

Mit der letzten Bemerkung habe ich wohl eindeutig eine Schmerzgrenze erreicht, ein Tabu berührt. Hinschauen, wo man nicht hinschauen darf; den Gedanken zu Ende führen, wo er den gemeinschaftlichen Konsensus des Undenkbaren (zu Denken nicht erlaubten) ritzt. Ich kratze an der Abspaltung zwischen verschiedenen Realitäten. Und doch bin ich sicher, dass ich mich damit im Zentrum dessen befinde, was Jugendliche in unserer Gesellschaft zu sehen und zu hören bekommen. Ich bin im Zentrum der Doppelmoral und der Spannung des Bewusstseins: Wir alle wissen, dass die Repression nichts als Elend gebracht hat. Wenn wir es nicht bereits aus der Geschichte der Prohibition in den USA (Verbot von Alkohol, das den Gangsterboss Al Capone hervorgebracht hatte) wussten, müssen wir es jetzt zur Kenntnis nehmen.

Indem er wir so tun, wie wenn die Realität eine andere wäre als sie ist, fördern wir die Spaltung unseres Bewusstseins. Wir tun als wüssten wir es nicht und schliesslich glauben wir sogar, es sei nicht so, wie wir eigentlich wissen, das es ist. Diesen Vorgang nennt man Verdrängen. Das Aufheben einer Verdrängung ist sehr schmerzhaft. Zu Leben mit einer Lebenslüge, was Verdrängung immer bedeutet, überbürdet aber den Nächsten die Probleme, die ich selber nicht löse.

Indem wir nicht vorwärts machen, überbürden wir der nächsten Generation ein schweres Problem: Das Problem heisst nicht Haschisch sondern Lebenslüge, Tabu und daraus erwachsende Unsicherheit, Doppelzüngigkeit und Realitätsferne: Eigenschaften die Jugendliche schlecht dazu befähigen, das nicht leichte Erbe anzutreten, das die Elterngeneration ihnen übergeben will.

© Dr. Rudolf Buchmann

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