Tabu: Aus den Augen, aus dem Sinn?

Worte, Magie und Gewissen: Gewissenserziehung I,

Wie werden wir mit Lust nach dem Unerlaubten fertig? Und wie erst mit der vollbrachten Tat? Was erlaubt und was unerlaubt ist, ist nicht naturgegeben. Gewissen, Recht und Ehre sind Kulturleistungen und deshalb von Ort zu Ort oft sehr verschieden. Vermittelt wird das Wissen vom Recht über die Sprache.

In einer Reportage aus Afrika bringt ein Namibier diese Zusammenhänge auf den Punkt. Er berichtet: “Vor der christlichen Missionierung liefen die Vorfahren hier weitgehend nackt herum und freuten sich an ihren Körpern; sie waren sexuelle Wesen und störten sich nicht daran. Die Christianisierung lehrte sie, dass dies unrecht ist und sie für ihre freie Sexualität in die Hölle kommen. Was machen wir nun, wenn wir es tun und zugleich wissen, dass es verboten ist? Wir sprechen nicht darüber!“
Man spricht nicht davon: Wie „Tabus“ funktionieren
Was er beschreibt, ist der Vorgang wie ein „Tabu“ entsteht. Jede/r weiss, dass von mir und allen andern etwas getan wird, das – wie jede/r weiss – nicht getan werden sollte. Zwar ist es eigentlich kein Geheimnis (jede/r weiss) und doch muss es als Geheimnis behandelt werden (niemand spricht). Ein hochempfindliches Gleichgewicht zwischen zwei Realitäten entsteht: Die Realität des Rechtsbewusstseins resp. der Fassade der Respektierlichkeit wird von der Realität des Gelebten getrennt. Die Grenze zwischen beiden ist durch starke Affekte geschützt: Käme aus, was ich tue, wäre dies sehr peinlich. Es wäre peinlich, obwohl ich eigentlich weiss, dass viele andere es auch machen! Würde ich es jemand anderem nachweisen, bekäme er Angst, müsste sich schämen oder schuldig fühlen. Deshalb spricht niemand davon. Es ist tabuisiert.
Was eine Gesellschaft tabuisiert, ist von Ort zu Ort und in jeder Generation unterschiedlich. War es um die letzte Jahrhundertwende in der bürgerlichen Schicht die – für heutige Begriffe „gewöhnliche“ – Sexualität, so ist es heute oftmals das Einkommen. Die gleichgeschlechtliche Liebe ist daran, sich aus der Tabuzone zu befreien. Sehr gefährlich kann es aber werden, wenn wir Themen wie Inzest, häusliche Gewalt oder „akzeptierte“ Unterdrückungsformen angehen wollen.
Ständig in Gefahr, dass die Scheidewand zerrissen wird, ist jede/r darauf bedacht, dass nicht daran gezupft wird. Wegsehen wird zum Schutz der Gemeinschaft (des Rechts, der Moral, der Ideale, welche die Gemeinschaft zusammenhält). Wird dieser Schutz durchbrochen, lässt sich plötzlich der Entscheidungsfrage nicht mehr ausweichen: „Gilt diese Moral oder gilt die gelebte Realität“. Im schlimmsten Falle könnte das rigorosen Streit auslösen, der alle Ordnung und Machthierarchie gefährdet, einen Bürgerkrieg heraufbeschwört.
Magie der Worte

Besonders spannend ist, wie hier die Sprache die Realität bestimmt. Es entsteht der Eindruck, mit dem Verschweigen würde die Realität ausgelöscht. Oder umgekehrt: Mit dem Ansprechen werde ein Vorfall erst zur Realität, zur Erinnerung, zum Erlebnis.

Dies hat seinen guten entwicklungspsychologischen Grund: Das Bewusstsein (also das Wissen über die Realität) entsteht durch die Sprache. Ein Gebilde, das mir vor Augen steht, wird dadurch zum Stuhl, dass die Eltern mir immer wieder sagen, das ist ein Stuhl und jenes ist ein Stuhl usw.: Schliesslich weiss ich: Diese Fläche – abgehoben vom Boden und auf eigenen Beinen (zumindest ein Bein muss es haben) – auf die ich sitzen kann, ist ein Stuhl. So wie die Wahrnehmung von der Sprache erst geordnet wird, so ist es auch mit Empfindungen, Zusammenhängen und logischen Abfolgen.

Das Wunderbare daran ist, dass diese Worte – habe ich sie begriffen –die Realität verändern können: „Apfel!“ Und schon gibt mir ein gütiges Wesen (wenigstens manchmal) einen Apfel. Welch riesige magische Kraft. Ich erzähle von einem grässlichen Hund auf dem Schulweg und mir wird gesagt, dass das Gefühl Angst sei. Ich sage: Ich habe Angst, wenn die Schlafzimmertür geschlossen wird: Siehe da, die Zimmertür darf offen bleiben. Die Dinge und Vorgänge, die ich benennen kann, kann ich also auch auf Distanz beherrschen. Dies gibt mir einen grösseren Wirkungsradius und eine grössere Verfügungsgewalt. Sprache bildet Realität ab, aber sie schafft auch Realität.

Die Kehrseite der Geschichte: Wo ich nicht sprechen kann (weil ich es nicht in Sprache abbilden kann) und wo ich nicht sprechen darf (Tabu, Drohungen, Verbote, Beschämung usw.), falle ich in eine ohnmächtige Position. Sprachlosigkeit ist der Machtlosigkeit verschwistert. Sprachgewalt triumphiert über „rohe Gewalt“; manchmal löst sie sie aber auch aus!

Sprechen lernen

Dem Unaussprechlichen einen Namen geben bedeutet, es verfügbarer zu machen; ihm gegenüber treten zu lernen; Distanz zu gewinnen. Indem es „aussprechlich“ wird, lässt sich auch mit andern darüber reden. Diese sehen es vielleicht anders, haben ihre eigenen Erfahrungen und geben diese Preis. So entsteht Gemeinsamkeit, Hilfe auch.

Dieses Sprechen lernen ist keine einseitige Angelegenheit. Es kann sich nicht nur darum handeln, dass ein Kind meine Laute und Ausdrücke sich einverleibt. Vielmehr muss ich zuhören, beobachten und mitfühlen, um die Laute des Kindes in ein Wort oder Zeichen zu fassen. Wirkliches miteinander sprechen ist also immer ein gemeinsamer Lernprozess, in dem meine Worte und deine Worte um Angleichung ringen. Wer sich diesem Lernen nicht aussetzt, wird reden können ohne zu verstehen. Denn Worte haben immer einen Spielraum von Bedeutungen. Liebende entwickeln sehr oft ihre Kosesprache. Die Kleinkindsprache zwischen Eltern und Tochter oder Sohn enthält oft viele „Familienausdrücke“, die für Aussenstehende nicht verständlich sind. Im Extrem wird vielleicht sogar ein umgangssprachliches Wort in geheime gemeinsame Bedeutung umgekleidet.

Jedenfalls ist die Sprache jedes einzelnen gefärbt und geprägt von seiner Geschichte und den Begegnungen mit sprechenden Wesen.

Erklären und erzählen
Sprachlich wird die Welt erklärt. Was zusammengehört und was nicht; was welche Folgen hat und wer was darf und wer was gerade nicht! Die Sprache ordnet die Welt, setzt Grenzen, eröffnet Möglichkeiten und verbindet oder trennt Menschen. In ihr ist alles eingepackt; auch die Gefühle. Dies ist so, weil sie nicht aus dem Lexikon stammt, sondern aus lebendigen Situationen, aus Beziehungen mit Sprechenden. Es spielt stimmungsmässig eine Rolle, in welchem Moment mir ein Wort, eine Erklärung oder ein Befehl etc. begegnete. Wort und Bilder, Gefühle, Stimmungen und Wünsche verschmelzen, wenn ein Wort gelernt wird. In vielen weiteren Erlebnissen wird die Bedeutung des Wortes ergänzt, erweitert, eingeschränkt und umgeformt und damit langsam von Einzelereignissen losgelöst. So wird die Sprache abstrakter; abstrahiert von einer einmaligen zu einer allgemein gültigen Bedeutung.

Hat sich das Wort eingenistet, lässt sein Klang umgekehrt Erinnerungen an Bilder, Gefühle und Situationen wieder auferstehen. Ein ganzer Kosmos verbindet sich mit dem Klang. Deshalb sind sprachliches Begleiten der frühesten Erlebnisse, später Bilderbücher erzählen, Vorlesen von Geschichten oder selber welche Erfinden von so grosser Bedeutung, um ein reiches Bewusstsein zu entwickeln.

Man spricht davon

Was hat dies mit Gewissensbildung zu tun? Die erste Verhaltenssteuerung erfolgt über Affekte. Was lustvoll ist, wird wiederholt oder gesucht. Was Unlust bereitet, wird unterlassen oder gemieden. Diese Verhaltensregulation beruht gleichsam auf eingedrillten Reaktionen; es braucht dazu kein Bewusstsein und es lässt auch keinen Spielraum offen für bewusste Entscheidungen.

Die Bildung eines Gewissens will diese Einkerkerung in Befehl und Reaktion überwinden. Wenn ich mich der Steckdose nähere, gibt es auf die Finger. Also lass ich es bleiben. Würde keine weitere Entwicklung erfolgen, hätten wir bald keinen einzigen Elektriker mehr. Die Steckdose bleibt gefährlich, aber man spricht darüber! Weshalb nicht, und unter welchen Umständen doch. Warum der ältere Bruder unter Anleitung des Vaters darf und ich nicht. Warum dürfen überhaupt die Erwachsenen?

Gleichzeitig mit der Erfassung eines Stückes Realität erfahre ich etwas über die Weltordnung der Werte. Meine Gesundheit ist den Eltern wichtig; ich muss mir einen grösseren Überblick über die Zusammenhänge erwerben, um zu dürfen. So entsteht auch eine Motivationsbildung aus dem, was einstmals nur ein striktes Verbot und Hindernis war: Angst ja!: sie ist berechtigt, aber ich kann trotzdem handeln, wenn ich mich vorbereite: Angst wird zur Vorsicht, zum Schutz.

Die Wandlung zum Gewissen

So kommt die Vorsicht aus der Angst und dadurch erweitert sich mein Handlungsspielraum und ermöglicht mir, mehr von der Welt zu erleben, ohne mich zu gefährden. In ähnlichem Prozess befreit auch das Gewissen von einigen Gefahren. Ich kann mich z.B. schützen vor Beschämung, Beschimpfung oder gar Schlägen, wenn ich weiss, dass Gartenzäune fremden Boden abgrenzen und die Beeren hinter dem Hag meinem Zugriff verboten sind. (Ich merke erst im Schreiben, dass mir damit ein Bild eingefallen ist, das dem ersten Sündenfall in der Bibel nahe kommt). Das Wissen, was erlaubt und was verboten ist, erweitert meinen Spielraum.

Aber gerade das Beispiel zeigt auch, wie kulturgebunden das Gewissen ist. Es ist nicht gesagt, dass überall Besitz an eigenem Boden gut ist, und ich ein schlechtes Gewissen haben soll, wenn ich Beeren pflücke. Man muss darüber reden; es sind sehr viele gesellschaftliche und kulturelle Abmachungen im Gewissen enthalten.

Unverständnis der Erzieher gefährden das Gewissen

Nicht selten habe ich erlebt, dass beim Eintritt in den Kindergarten Dramen geschehen, weil der Geltungsbereich der Normen gewechselt wird. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass die Kinder mit gemeinsamen Normen in diesen Kreis kommen. In der einen Familie herrscht das Harmonie-Ideal; in der andern eine „gesunde“ Streitkultur; in der dritten rohe Gewalt. Die einen lieben das spontane Zugreifen: Alles, was mir gehört, gehört auch dir; die andern pochen auf strikte Eigentumsgrenzen.

Verhält sich nun ein Kind „wie zuhause“ erntet es nicht selten Tadel, ohne zu verstehen warum. Oder es wird beschämt, von andern Kindern ausgelacht. Es hat keine Ahnung und deutet es auf seine Weise: Ich bin nicht beliebt, dumm, hässlich, blöde. Die Kinder haben es einfacher, deren Vorstellungen sich mit jenen der Kindergärtnerin decken. Aber auch bei den Kindergärtnerinnen sind die Unterschiede immens. Was der einen artig und nett, ist der andern langweilig und fad. Was der einen frisch und mutig, ist der andern frech und ungehobelt.

Gewissenerziehung

Es ist ein sehr subtiler Vorgang, der hier viel prägt und bewirkt. Nirgendwo gilt so sehr wie hier: Man muss reden darüber. Es gilt nicht einfach und ohne weiteres das Recht dieses Kindergartens. Mit drakonischen Mittel lässt es sich vielleicht erzwingen, aber auf Kosten von Gemütlichkeit, Spontaneität und Verstand. Drakonische Disziplin zwingt das Kind zurück auf die Stufe der Reiz-Reaktion, eine tierisch vormenschliche Stufe. Es kann sein Gewissen nicht entfalten, weil es nichts verstehen kann. Es soll ja auch gehorchen und nicht verstehen! - ? Es handelt dann aber nicht mehr aus sich, sondern nur noch auf Befehl von aussen. Auf das immense Problem, was dies für Kinder aus verschiedenen Kulturen und Milieus, Ausländerkinder insbesondere bedeutet, sei hier nur hinwiesen

Die Kunst der Gewissenserziehung ist es, dem Kind Einsicht in Sinn und Notwendigkeit des geforderten Verhaltens zu gewähren. Die Vielfalt, mit der die „Neuen“ in den Kindergarten kommen, ist für die Kindergärtnerin eigentlich eine Chance zu zeigen, wie ein schöneres gemeinsames Zusammenleben entwickelt werden kann. Gehen wir doch davon aus, dass die Kinder zunächst nicht stören wollen, sondern mit sehr unterschiedlichen Muster antreten, wie man sich Gehör verschafft; wie man zu dem kommt, was man möchte usw. Wenn es gelingt, Unterschiede aufzuzeigen ohne sie abzuwerten, ist eine sehr gute Sozialisierungsarbeit gelungen.

Frühe Weichenstellungen

Schon recht kleine Kinder haben eine erstaunliche Auffassungsgabe und oft auch soziale Kreativität. Dies zeigt sich z.B. in Familientherapien, wenn ein Kind, das erst wenig sprechen kann, schon wichtige Hinweise auf Störungsherde gibt. Es kann dies vielleicht gerade deshalb, weil es noch nicht weiss, welche Beobachtung tabuisiert werden soll oder weil es noch nicht so sehr beschämt wurde bei unverstellten Aussagen: Kinder und Narren sagen die Wahrheit!

Gelegentlich höre ich, wie von kleinen Kindern lachend erzählt wird, wie sie familiäre Peinlichkeiten ausplauderten oder „dummes Zeug“ geredet haben. Oft ist das „dumme Zeug“ die sprachlich unbeholfene Fassung einer wenig schmeichelhaften Beobachtung. Ich attestiere den Erzählern, dass sie nicht wissen, was sie tun. Die Beobachtungen legen mir aber nahe, dass hier die Erziehung zum Tabu im Gange ist. Hören die Kinder diese Geschichten über sich, sind oft deutliche Schamreaktionen zu sehen. Nicht die beschämende Beobachtung, die das Kind veröffentlichte, gerät ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern das Lachen über das Kind. Den Blick auf die wahre Bedeutung solcher Szenen wird meist dadurch erschwert, dass das Lachen gutmütig ist; das Kind ist halt noch ein Dummerchen, man kann ihm nicht böse sein. Versuche, die Mutter oder den Vater zu stoppen, diese Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, erhalten eine „versöhnliche“ Zurechtweisung: Aber es ist doch gar nichts Schlimmes, was ich von dir erzähle! – Nein, nichts schlimmes, nur etwas blödes (das sagt das Lachen) und das ist noch schlimmer. Damit ist der Korken auf der Flasche: Die Botschaft wird verstanden. Es wird sich hüten, solche Dinge wieder zu sagen.

© Dr. Rudolf Buchmann

Stichworte: Ethik, Gewissen, Tabu, Wahrnehmung, Weltbild