Darf man den Frosch an die Wand werfen?
Die Selbstverständlichkeit des Märchenerzählens ist in den letzten Jahrzehnten stark angekratzt worden. Haben sie denn einen Wert oder verunsichern sie mehr, ja führen sie nicht gar zur Verrohung und Vorurteilsbildung beim Kind? Ja, was sind überhaupt Märchen?
Mit dem Länger-werden der Abende kommt die Zeit des Erzählens. Mit der heranrückenden Weihnacht, kommt die Zeit der Wünsche, der geheimnisvollen Ahnungen und Erwartungen, der Hoffnungen und der Erinnerung. Was passt in diese Zeit besser als die Märchen.
Klar, Märchen sind doch diese Moral- und Schauergeschichten, die den Kinder Angst machen mit ihren Ungeheuern und Hexen und in denen - ganz unrealistisch - immer die Guten über die Schlechten triumphieren, um sie dann möglichst grausam zu vernichten.
Bei oberflächlichem Zuhören passt die Umschreibung nicht schlecht. Was hat es denn aber mit der faszinierenden Wirkung der Märchen auf Kinder und tiefenpsychologische Forscher auf sich? Dazu müssen wir uns kurz überlegen, was eine Erzählung zum Märchen macht, denn vieles preist sich zeitweise als Märchen an, ohne ein solches zu sein.
Was ist märchentypisch?
Zum Märchen gehört (neben anderen Kennzeichen), dass es eine Handlung schlicht und einfach - ohne viele Ausschmückungen, aber doch sehr anschaulich - erzählt. Dadurch wird es auch meistens ein eher kurzer Text sein. Dies alles macht es besonders geeignet, um vom Kinde auch er-fasst werden zu können. Es gehört ferner dazu, dass es eine - manchmal mehrere - Person(en) hat, mit denen sich der Hörer identifizieren kann. Je allgemeiner die Figuren beschrieben sind, desto mehr kann der Hörer sich selber hineinversetzen oder Personen seines Erfahrungskreises in den Figuren sehen. Der Hauptfigur muss es am Ende immer gut gehen. Wenn wir bei Märchen überhaupt von "Moralgeschichten" reden wollen, ist dies wohl die einzige Moral, die in jedem Märchen steckt. Sie heisst: "Auch aus der ausweglosesten Situation gibt es eine - oft völlig unberechenbare - Lösung, so dass das Leben allem zum Trotz erfüllt werden kann."
Diese Moral ist nun aber für Kinder und Jugendliche - aber auch für Erwachsene - nicht hoch genug zu veranschlagen. Der Vorwurf, dass dies unrealistisch sei, muss sich rückfragen lassen, welche andere Alternative er zu dieser Überzeugung anzubieten hat als pure Verzweiflung. Die Haltung eines solchen Kritikers ist in etlichen Märchen übrigens selber schon beschrieben. Es sind dies jene Prinzen oder "ältere Brüder", die in ihrer Allwissenheit oder Überheblichkeit den Rat der kleinen Kreaturen verschmähen und dafür zwischen irgendwelchen Felsen eingeklemmt werden und nicht mehr weiterfinden, bis der naive Bruder eine unerwartete Lösung findet. In einigen Märchen befreit der Dumme dann die Gescheiterten, in ändern Märchen muss er sie aber auch zu Grunde gehen lassen. Ich zögere nicht, die Märchen selber zu diesen "kleinen Kreaturen" zu zählen. Wie der Fuchs im "goldenen Vogel" von Grimm, weiss es viel voraus und gibt demjenigen Rat, der zu hören bereit ist. Aber wie Rumpelstilzchen, kann es auch nur bis zu einem gewissen Grad weiterhelfen und dem bedrohlich werden, der sich ohne eigenes Zutun nur auf es stützen möchte.
Intuitives Erfassen oder überlegendes Eindringen
Märchen wirken unmittelbar auf Gemüt und Einbildungskraft. Es lohnt sich aber auch über sie verstandesmässig zu brüten. Beide Herangehensweisen sind gleichermassen wertvoll.
Das Märchen weiss sehr viel vom "einfachen" (urtümlichen) Seelenleben. Deshalb ist es gleich faszinierend für den Hörer, der seine Intuition spielen lassen kann und den Denker, der des Märchens Kenntnisse auf die bewusste Ebene hebt. Das kleinere Kind hat meist seine intuitive Erfassungskraft noch nicht eingebüsst, vorausgesetzt es konnte vor Reizüberflutung bewahrt werden und hat noch genügend innere Ruhe, um einer Erzählung - ohne Bilder! - wirklich zuzuhören. Deshalb ist beim Erzählen jedes zusätzliche Ausschmücken auch mehr Ablenkung als Vertiefungshilfe. Das Märchen erzählt in sprachlichen Bildern, wovon die Menschen im Innersten träumen, von ihren Sehnsüchten, Ängsten, Schrecknissen und Hoffnungen; von ihrer Einsamkeit und der Erlösung daraus. Das Märchen spricht vom gesunden Menschen; denn am Ende siegt immer die Hoffnung.
Die Moral des scheinbar Unmoralischen
Wie steht es aber um die Moral der Märchen im moralischen Sinne? Die Prinzessin im Grimms Märchen Froschkönig wirft den Frosch in Zorn und Ekel an die Wand. Ist dies nicht grausam, grob und undankbar? Ist dies nicht höchst unmoralisch, wenn es zudem noch jener Frosch ist, der ihr schliesslich geholfen hat und der nur ihr Versprechen einzulösen fordert? Sie wird dafür nicht bestraft, sondern belohnt!
Am Beispiel dieses Märchens möchte ich zeigen, dass Märchen geradezu revolutionär moralisch sein können. Was besagt denn der Wurf an die Wand? Bis zu jenem Zeitpunkt hat sich das Mädchen immer dem moralischen Prinzip - in Gestalt des Königs - unterordnet (dankbar sein müssen, ein Versprechen halten etc.). Die pubertäre Frau fühlt sich gebunden an ihr Versprechen, dessen Folgen sie im Zeitpunkt der Zusage (spielendes Kind) noch gar nicht überblicken und verstehen konnte. Obwohl der Frosch ihr viel zu nahe ist und Dinge von ihr verlangt, die die sie ekeln, gehorcht sie bis ihre Grenze überschritten wird und sie sich vehement wehrt. Zunächst fühlt sie sich noch moralisch verpflichtet, ihre Gefühle zu verleugnen. Erst mit dem Wurf an die Wand steht sie ganz und ungeschminkt zu ihren wahren Gefühlen, die sie dem Froschpartner gegenüber hegt. Es sind höchst aggressive Gefühle. Aber - o Wunder – das ehrliche Ausdrücken der Aggression tötet nicht: sie erlöst. Der Frosch kann sich verwandeln, was er ohne dies nicht hätte tun können, auch er wird erlöst. Psychologisch gesprochen: Er erhält seine Menschenwürde zurück, er muss nicht mehr kriecherisch und mit moralischem Druck das Mädchen zu beherrschen suchen und erhält keine verlogene Zuwendung mehr, sondern kann sich frei mit ihm verbinden. Er muss sich nicht mehr selber zum Frosch machen.
Die Moral: Streiten verbindet!
Grobheit und Aggression gehören zur Partnerschaft dazu, wo der Erpressung, Einengung und Einseitigkeit im Beziehungsgefüge anders nicht Einhalt geboten werden kann. Streiten verbindet!, wenn die Gefühle offen zu Tage treten dürfen. Der Umgang mit Aggressionen will aber gelernt sein. Der Psychologe G. Bach gibt in seinem gleichnamigen Buch Anleitungen zum Steittraining. Streiten mit befreiten Gefühlen kann sehr zu Ehrlichkeit in Beziehungen und Verbesserung der Kommunikation beitragen.
Die gleiche Erkenntnis bringt der "Froschkönig" in einprägsamen Bildern. Auch die Emanzipationsdiskussion könnte sich am Froschkönig ein Beispiel nehmen: Dass die Frau zu ihren wirklichen Gefühlen ungeschminkt stehen kann, erlöst nämlich auch und gerade den Mann; ja die Erlösung geht überhaupt nur über beide.
Der Wert der Märchen
Für Kinder ist diese Erörterung zu schwierig. Aber die Bilder sind in den Märchen da, sie wirken wie Samenkörner. Das Kind kann sie aufnehmen und zunächst auf seinem Niveau verstehen. Vielleicht erst in der Pubertät oder noch später erhellen, sie plötzlich Lebenszusammenhänge. Im Kindergartenalter stiften sie aber bereits Gefühle, Lebensmut, Stärke. Nicht dass man völlig unausgewählt alle Märchen Kindern erzählen sollte im Glauben, irgendwo stecke wohl eine helfende Weisheit in ihm. Vertrauen wir aber unserer Intuition; indem wir diese Märchen weitergeben, die uns ansprechen und erfreuen, sind wir sicher nicht schlecht beraten. Dabei lohnt es sich, nicht einfach oberflächlich über die Texte hinwegzulesen. Zur Intuition gehört Zeit, eigene Besinnung und eigenes Gefühlsleben. So hat denn der Erzieher im Umgang und Erzählen von Märchen über den pädagogischen Wert hinaus auch noch etwas für sich selber gewonnen.
© Dr. Rudolf Buchmann