Gewalt – die Maske der Angst
Gewalt hat viele Ursachen. Im letzten Heft beschäftigten wir uns mit dem Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Gewalt, also dem gewaltfördernden Aspekt von Moral. Heute stelle ich Gewalt als Versuch dar, mit unangenehmen Gefühlen fertig zu werden. In beiden Vorgängen bleibt sowohl „Tätern“ als auch den andern Beteiligten das Verständnis der Zusammenhänge meist verwehrt.
Anstatt nach Rechtfertigungen zu suchen, muss eine Gewaltprävention die Dynamik hinter den sichtbaren Geschehnissen verstehen und aufklären. Ohne Verständnis der konkreten aktuellen Gründe hinter der jeweils sichtbaren Oberfläche von Gewalt, lassen sich keine Lösungen finden. Es geht um vorurteilslose Geschichtsforschung! Jeder Konflikt hat seine Vorgeschichte. Greifen wir ein, ohne diese zu verstehen, fügen wir der Kette von Gewalt nur ein weiteres Kapitel hinzu. Dies gilt sowohl bei gesellschaftlicher als auch bei häuslicher Gewalt, resp. bei Gewalt zwischen einzelnen.
Gewalt verstehen
Dabei ist von grösster Wichtigkeit, dass das Sprichwort ausser Kraft gesetzt wird: „Tout comprendre est tout pardonner!“ (Alles verstehen heisst alles verzeihen). Wenden wir diesen Satz an, sind wir im verheerenden Kreislauf der Gewaltrechtfertigung (vgl. letzte Ausgabe) gefangen. Zumeist wird das Sprichwort ja auch von Vertretern (Vertreterinnen?) der „harten Hand“ gebraucht, um Menschen die differenzierter hinsehen wollen, in den Augen anderer zu schwächen. Auch diese Verwendung des Sprichwortes kann Anwendung von Gewalt sein!
Aber Verstehen eines Ereignisses bedeutet nichts anderes, als sich einen Überblick über Vorkommnisse und Zusammenhänge zu verschaffen. Wie wir die Taten und Motive dann werten, ist eine ganz andere Frage! Nur wer zur Unterscheidung zwischen Verstehen und Bewerten nicht in der Lage ist – sei es aus Unachtsamkeit, sei es aus Gewohnheit, sei es aus geistig-seelischem Mangel – wird Verstehen mit Rechtfertigen gleichsetzen.
Ursachen und Erscheinungsformen von Gewalt sind äusserst vielfältig. Gewalt kann man nicht losgelöst vom Zusammenhang verstehen und eine allgemein gültige Lösung dagegen finden. Gewalt ist immer ein in Erscheinung tretendes Resultat eines Gewebes aus vielerlei seelischen Kräften, sozialen Konstellationen, persönlichen Werthaltungen und individuellen Verhaltensmustern der jeweils beteiligten Menschen. Wer dreinschlägt – moralisch oder physisch – bevor er verstanden hat, wird selber zum Gewalttäter. Vielleicht muss man die Ausnahme unmittelbarer Notwehr gelten lassen, wenn keine Zeit zur Überlegung besteht, um eine existentielle Bedrohung abzuwenden. Aber selbst dort entscheidet die innerseelische Konstellation, die in Sekundenbruchteilen das Urteil abgibt, es handle sich um eine solche Bedrohung. Menschen, die unter Panik und Verfolgungswahn leiden, sehen sich rascher zu diesem Schluss genötigt als solche, die in ihrer Selbstsicherheit ruhen.
Die Bedeutung des Verhaltens
Um mässigend, schlichtend oder erlösend auf gewalttätige Abläufe einzuwirken, müssen wir verstehen, was die Handlungen der Beteiligten bedeuten. Hinter derselben Ohrfeige können ganz verschiedene Absichten stehen. Ich verwende das Wort „erlösend“ nicht leichtfertig; denn in Gewaltspiralen gibt es letztlich sehr selten Sieger. Nicht selten kommen Menschen nicht mehr aus ihren selbstgestrickten Verhaltensmustern heraus. Sie leiden selber darunter oder sie machen andere weit stärker leiden als sie ursprünglich beabsichtigten. Sie hoffen auf Mitmenschen, die sie aus den Teufelskreisen befreien.
Verstehen ist wichtig um solcherart eingreifen zu können, dass nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet wird: Gegen eine „erzieherische“ Ohrfeige ist nicht in derselben Form vorzugehen, wie wenn das Verhalten nackte Machtdemonstration bezweckt. Der Bruder, der die Schwester an den Haaren zieht, kann dies aus ganz unterschiedlichen Gründen tun: Er will sie demütigen, um Macht über sie zu gewinnen. Er will sich rächen, weil sie ihm etwas weggenommen hat. Er drückt seine Eifersucht aus, weil er sich benachteiligt fühlt. Er freut sich über die Schmerzens- oder Wutschreie der Schwester. Er fühlt sich ihr und ihren Argumenten gegenüber unterlegen.
Um beim Sohn erzieherisch etwas zu erreichen, genügt es nicht, nur das Verhalten „Haare-Reissen“ zu beachten. Aber das Verstehen seiner Gründe entschuldigt resp. gerechtfertigt das Reissen keineswegs. Bestrafen wir das Haare-Reissen ohne weiteres, werden wir ihn aber in seinen Affekten bestärken, wenn Eifersucht oder Unterlegenheitsgefühle Hauptmotive des Verhaltens waren und also keinerlei längerfristigen Nutzen erwirken – weder für die Tochter noch für den Sohn. Das Einstehen der Eltern für die Tochter und seine Zurechtweisung wird ihn nur in seiner Sichtweise bestärken, dass die Eltern parteiisch zur Schwester stehen und : Die nächste Gelegenheit zur Rache kommt bestimmt!
Verständige Reaktion
Ich plädiere für verständige Reaktionen. Das ist nicht ganz dasselbe wie Verständnis mit dem Sohn. Vielleicht habe ich gar kein Verständnis für die Eifersucht des Kindes. Dennoch kann ich verstehen, dass Eifersucht im Spiel ist und muss das bei meiner Reaktion berücksichtigen.
Wichtig ist in unserem Beispiel einzusehen, dass die Eltern an den Gewaltaffekten des Sohnes beteiligt sind und es sich nicht „bloss“ um einen Konflikt zwischen den Geschwistern handelt. Bei Eifersucht geht es ja um den (vermeintlichen) Vorzug, den die Eltern dem Geschwister geben, also um einen Kampf um die Liebe eines Dritten, den man zu verlieren fürchtet.
Verständige Reaktion? Vielleicht muss man dem Sohn sogar mit dem Verständnis entgegenkommen, dass er ein bisschen Grund zur Eifersucht hat? Z.B. muss er als älterer oft vernünftiger sein als die jüngere; oder sie kommt bei allen besser an, gerade weil sie weniger eifersüchtig ist. (Eifersüchtige sind oft wenig attraktiv!). Auch das muss aber nicht einmal sein. Eifersucht ist nicht manchmal für uns unverständlich. Dann geht es darum, zunächst einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass es so ist. Der Bub fühlt so. Manche Gefühle kann man nicht erklären oder rechtfertigen. Man kann sie auch weder selber noch als Erzieher „einfach“ ändern, verbieten oder ungeschehen machen.
Hingegen geht es in jedem Fall darum zu lernen, wie man mit eifersüchtigen Gefühlen fertig werden kann. Und das ist natürlich erheblich schwerer, als dem Sohn sein bösartiges Verhalten vorzuwerfen! Es stellt sich sofort die Frage, wie gehen sie – wie gehen die Erwachsenen – mit Eifersucht um? Dies ist eine echte erzieherische Herausforderung. Dass die Wut auf die „parteiischen“ Eltern an der Schwester abreagiert werden und der Zorn eigentlich nicht so sehr die Schwester treffen sollte, würde bedeuten sich mit der Wut des Sohnes auf die Eltern zu befassen.
Nochmals: Es geht beim Verstehen nicht um eine moralische Wertung; also darum ob sein Reissen gerechtfertigt war oder nicht. Es geht darum, auf das Zusammenspiel der Gefühle und Absichten (die Affektdynamik) hinter der Erscheinungsform einzuwirken zu können. Erst damit ist es möglich, einen erzieherischen Nutzen und eine Verbesserung der Beziehungen in der Familie resp. Schulklasse usw. zu erlangen.
Formen der Gewalt
Es gibt viele Formen von Gewalt. Am offensichtlichsten ist das unbeherrschte Dreinschlagen. Jedermann wird sie sofort sehen. Dann gibt es die gezielte Gewalt, wie sie in „Strafaktionen“ vorkommen: Seien das Körperstrafen, Gefangennahmen, Kriegszüge oder erzieherische Verbote, um zu bestrafen usw. Mehr oder minder kaschiert dient hier Gewalt zur Einschüchterung und Machtausübung. Manchmal im Deckmantel der „Strafe“ versteckt, geht es um Einfluss in der Familie oder der Gesellschaft, um Herrschaft also. Was im ersten Punkt „blosse“ Unbeherrschtheit ist, also reiner Affektausdruck, ist bei den beiden andern Formen mehr oder minder bewusst geplante Berechnung auf einen bestimmen Effekt. Wenn der Effekt die Mittel heiligt, werden wir sagen, die Gewalt ist gerechtfertigt. Auf der Ebene des Verstehens dürfen wir uns aber nicht täuschen. Durch die Rechtfertigung ändert sich nichts daran, dass Gewalt Gewalt ist. Aber vielleicht heissen wir sie gut.
Weniger leicht zu erkennen, sind Formen der psychischen Gewalt. Ihre Folgen können ebenso verheerend sein wie jene der physischen. Betroffene und „Täter“ wissen oft genau, was abläuft. Aber für Aussenstehende ist sie viel weniger klar ersichtlich und entsprechend auch weniger leicht nachzuweisen. Gerade dort, wo die Gewaltanwendungen auf dem Hintergrund von Machtkämpfen ausgetragen werden, können sich psychische „Gewalttäter“ besonders gut verstecken. Innerfamiliär kennt man die wunden Punkte, die man berühren muss, um den andern zu verletzen, zu beschämen, zu demütigen oder in Angst und Schrecken zu versetzen. Für den Aussenstehenden sind es oft zunächst harmlose Worte oder Gesten, auf die der oder die andere „nicht so empfindlich reagieren soll“. Aber mit dieser Reaktion sind wir bereits wieder in die Rechtfertigungsfalle getreten: <Empfindlich sein> sei der Fehler.
Gewalt“spiele“
Das Kräftespiel der Affekte findet unbewusst statt. Die Resultate des Kräftespieles zeigen sich im Verhalten und den bewussten Empfindungen. Nur das Verhalten ist von aussen beobachtbar. Die Wahrnehmung der Empfindungen und Gefühle ist dem einzelnen in Selbstreflexion und im nach innen Spüren zugänglich. Die Wahrnehmung bleibt aber ohne spezielle Anleitung und Anstrengung vielfach nur bruchstückhaft und sehr täuschungsanfällig. Hilfreich kann es sein, sich der Frage zu stellen, ob oder was durch gewalttätiges Verhalten versteckt werden soll.
Trifft man gewalttätige Jugendliche oder auch Väter/Ehemänner einzeln, wirken sie oft besonders weich, unsicher oder „harmlos“. Nicht selten sind die zu Gewalt greifen nicht „die Starken“, als die sie sich anderswo aufführen, sondern jene am Rand der Gesellschaft oder der Familie. Nicht selten entsteht aus ihren Schilderungen der Eindruck, dass sie sich nicht ernstgenommen fühlen, häufig tauchen Gefühle der Ohnmacht und der Verzweiflung auf. (Um eventuellen falschen Schlüssen vorzubeugen: Das ist keine allgemeingültige Erklärung von Gewalt, sondern nur eine Möglichkeit, an die man auch denken muss!)
Natürlich kann es auch ein taktisches Spiel sein, sich als Opfer von Intrigen oder Abwertungen hinzustellen, wenn mal die Gewalttätigkeit am Pranger steht. Aber vielfach stimmen die Darstellungen doch: Wie im Tierreich der verletzte Tiger besonders gefährlich ist, sind seelisch Verletzte (in Schule oder Familie gedemütigte z.B.) dort besonders gewaltbereit, wo sie psychisch oder physisch Unterlegenen begegnen. Wer sich schwach fühlt, „muss“ aus Selbstachtung den starken Mann spielen.
Frustrationsaggression
Auch hier erreicht Gewalt gegen Gewalt keinen Schutz vor künftiger Gewalt. So wird z.B. der Schläger die Schuld für die Bestrafung dem zusammengeschlagen Schulkollegen zuschieben, weil dieser die Anzeige machte. Dabei war er doch jener, der ihn psychisch tyrannisierte resp. ihn mit seiner dämlichen Art immer ärgerte usw. Sie fühlen sich als Opfer, die ein Recht auf Rache haben. Die nächste Gewalt ist vorprogrammiert. Nach diesem Muster „verarbeiten“ viele bestrafte „Gewalttäter“ ihre Bestrafung. Als Beispiel liessen sich in dieses Ablaufmuster auch Ehepartner in Familien mit häuslicher Gewalt einfügen. Überall müssen wir damit rechnen, dass ohne Aufklärung der Hintergründe und ohne Verstehen (nicht rechtfertigen!) der Gründe, die Spirale der Gewalt nur in den seltensten Fällen aufgelöst werden kann.
Wo sich Frust anstaut – sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Familie –, ohne dass Formen zur Verfügung stehen, die Spannungen abzubauen, ist die Bereitschaft zur Gewalt erhöht. Besonders gefährdet für Fruststauungen sind Menschen, die sich ohnmächtig fühlen: Das Gefühl nichts zu sagen zu haben, sucht manchmal eine(n) Schwächere(n), dem oder der man zeigen kann, wer Herr im Haus ist. Das kann durchaus auch bei Frauen und Müttern der Fall sein. Jünglinge und Männer sind aber stärker gefährdet, weil Ohnmacht und Schwäche dem Männerbild noch stark widersprechen und so das Gefühl der Ohnmacht durch Selbstverachtung zusätzlich aufgeheizt wird. Wird „der starke Mann“ als „schwaches Würstchen“ entlarvt, stachelt das die Frustration gewaltig an. Wird aber der schwache, kleine Bub hinter der Maskerade des Berserkers nicht gesehen, gerät die Reaktion in falsche Bahnen.
Das hier Geschilderte ist auch nur eine Möglichkeit, was hinter Gewaltausbrüchen stehen kann. In einer andern Konstellation geht es um was ganz anderes. Aber es ist jedenfalls sinnvoll, daran zu denken, dass gewalttätiges Auftreten nicht selten eine Fassade ist, um für den „Täter“ unerträgliche Gefühle abzuwehren und vor anderen oder sogar vor sich selber zu verstecken. Dann ist zu vermeiden, den „Bluffer“ zu demütigen, zu schwächen oder blosszustellen. Zu vermeiden ist auch, durch das Verständnis ihm zu suggerieren, er habe damit recht oder gut getan. Vielmehr muss das Ziel sein, seine Wahrnehmung über sich selber zu verändern und ihn zu stärken, dass er mehr Selbstwert, mehr Achtung und Selbstachtung aufbauen kann, wenn er für die Konfliktbewältigung andere Formen erwirbt als gewalttätiges Auftreten.
© Dr. Rudolf Buchmann