Angst ist anstreckend
Angst ist ansteckend. Vertrauensaufbau ist manchmal harte Arbeit. Grosse Widerstände leisten dabei oft Moralisierung, Schuldangst und der „Pontius Pilatus-Reflex“.
Ich sitze im Gespräch mit Lehrer und Eltern über ein Kind, das nach meiner Einschätzung und Abklärung unter verschiedenen Ängsten leidet. Das Gespräch dreht sich aber um Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Hausaufgaben und Betreuung und Aufsicht durch die Eltern. Der Lehrer gibt den Eltern Ratschläge und fordert bestimmte Erziehungsverhalten der Eltern ein. Die Eltern reagieren mit Beobachtungen zum Schulbetrieb, äussern Ideen, was dort anders gemacht werden sollte. Zunehmend werden beidseits aus Vorschlägen Forderungen und es fehlt nicht viel, so werden Vorwürfe daraus, Schuldzuweisungen. Eine kleine Nuance im Tonfall! Darauf aufmerksam gemacht, verteidigen sich alle mit Vehemenz. Sie handelten nur aus dem guten Willen. „Zum Wohle des Kindes“ fänden sie das oder jenes besonders bedeutsam. Niemals hätten sie Vorwürfe machen oder etwas vorschreiben wollen, aber es sei halt schon so, dass die Eltern konsequenter sein müssten. Da liege das Problem nicht, sondern der Lehrer müsse das Gruppenverhalten besser im Auge haben usw.
Argumentieren mit dem Kind
Um den jeweiligen Standpunkt zu untermauern, werden Aussagen des Kindes aufgefahren, die oft gleich mit einer eindeutigen Interpretation vermischt sind. Es ist langsamer und wirke deshalb unausgeschlafen und es sollte weniger Fernsehen und früher ins Bett gehen. - Nein, es gebe nur kurze Zeiten pro Tag am TV; aber es kann nicht einschlafen, es klagt über die Angst, die Hausaufgaben nicht richtig gemacht zu haben. Der Lehrer solle doch die Kinder weniger anfahren, wenn etwas nicht so perfekt sei. - Das tue er nicht, vielmehr habe er den Eindruck zuhause werde zuviel auf Leistung Druck gemacht. Das Kind habe angedeutet, dass es sich nicht getraue zuhause zu sagen, wenn es eine schlechte Note hat. Aber ein bisschen Ordentlichkeit müsse die Schule schon verlangen. Bei der kritischen Einstellung der Eltern gegenüber der Schule sei es für das Kind allerdings schwierig, sich diesen Forderungen zu unterziehen.
Immer deutlicher entwickelt sich der Dialog zu einer Schiedsfrage: Wer hat versagt, wer ist Schuld, wer macht dem Kind Angst. In dem einen Punkt kann eine Einigung erzielt werden: Das Kind hat Ängste.
Gruppendynamik der Erzieher
Das Gespräch kann an diesem Punkt verschiedene Verläufe nehmen. Der Austausch stellt fest, dass das Kind dem Lehrer nicht dasselbe erzählt wie den Eltern. Nun ist ein scheinbar neues Problem entdeckt: Das Kind ist nicht aufrichtig; es spielt die Erwachsenen aus: Es lügt!! - Nun: das ist ein Problem des Kindes und seines Charakters: Wer ist schuld am Charakterdefekt?
Haben in dieser Frage die Erwachsenen „genügend“ Angst voreinander, lässt sich eine Lösung finden: Es liegt an der Unaufrichtigkeit des Kindes. Das Kind ist Schuld. Man muss es mit seinen widersprüchlichen Aussagen konfrontieren, es ermahnen, strafen, drohen: Angst machen! Die Hoffnung es werde durch Angst aufrichtiger ist zwar nach allen Gesetzen der Psychologie und Pädagogik ein Unsinn, wie Erzieher wissen müssten, aber die „Lösung“ hat den Vorteil, dass sich Lehrer und Eltern nicht mehr darüber streiten müssen, wer von ihnen Schuld ist.
Haben die Erwachsenen weniger Angst voreinander, dafür im Hintergrund eine entsprechende Basis an Vorurteilen übereinander, wird der Schulddialog eskalieren und die Ideen zunehmen, wie man sich aus dem Weg gehen könnte: Vielleicht ist diese Schule nicht das Richtige für das Kind oder ein Internat vielleicht...?
Ehrliches Bemühen
Es soll nicht der Eindruck gemacht werden, die Gesprächspartner seien Ungeheuer oder Trottel. Oft ist es ein ehrliches und hohes Engagement beider Seiten, das in solche Engpässe führt. Beide wollen wirklich das Gute für das Kind. Aber angesichts der Situation, dass sie die Reaktionen des Kindes nicht verstehen und sein Verhalten tatsächlich in schwer erträgliche Situationen führt, macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit. Ohnmacht macht Angst. Auf Angst können wir verschieden reagieren. Die basale Ausstattung des Menschen besteht aus denselben Grundmustern wie bei allen Säugetieren: Angreifen, Fliehen oder Tot-stellen.
Dem Totstellen entspricht der Gesprächsabbruch mit nachfolgendem Laisser aller. Das Kind soll selber schauen, wie es aus dem Schlamassel kommt. Mit den Eltern resp. mit dem Lehrer kann man doch nicht reden. Armes Kind, aber ich habe getan, was ich konnte. Ehrlich!
Wer sich damit nicht abfinden mag oder die innere Stärke und das Engagement verspürt zu kämpfen, geht zum Angriff über: Vorhaltungen, aggressive Ratschläge, Beschwerden. Rekurse, Anwälte.
Fliehen sucht wie angedeutet eine Lösung, in der die Konfrontation mit dem Problem des Kindes gemieden wird. Man kann es repetieren lassen, in eine Spezialklasse schicken. Oder gar: „Für Schule nicht mehr tragbar“ erklären; die Eltern sollen selber schauen. Vielleicht finden sich hier die Eltern, indem sie Hand zur Versetzung bieten.
Angst
Viele Überlegungen, die in so einem Gespräch auftauchen, sind bedenkenswert, vernünftig und könnten dem Kind weiterhelfen. Auch die erwähnten Massnahmen sind nicht unbedingt falsch, sondern können tatsächlich notwendig sein oder zumindest das Kind entlasten.
Aber der Streit auf der Erwachsenenebene hat noch kaum einem Kind in seinen Nöten geholfen. Wenn das Gespräch unglücklich verläuft und in schlechten „Lösungen“ endet, ist oft „die Angst selber“ „schuld“. Die Angst der Erwachsenen, am Leiden des Kindes schuld zu sein; die Angst sich zugeben zu müssen, bei diesem Kind versagt zu haben (oh Schande!). Die Angst zugeben zu müssen, dass ich in dieser Situation nicht weiter weiss.
Es sind oft die grossen Ideale, die gute Lösungen verhindern. So Ideale wie „das muss ich doch schaffen als Lehrer; als Eltern“ oder die Ohnmacht „Ich habe doch alles versucht“, die Konkurrenzangst „könnte es tatsächlich jemand anderes besser“, aber auch die Angst vor der Zukunft „was wird aus dem Kind, wenn es nicht bleiben kann?“; „wird es mir Vorwürfe machen?“ stehen manchmal den Gesprächspartnern ins Gesicht geschrieben.
Angst ist ein starker Affekt! Aus Angst werden Kriege geboren. Angst hat immer das Potential in sich, zu Gewalt zu führen. Angst hatte auch Pontius Pilatus als er seine Hände in Unschuld wusch und nichts tat!
Gegenübertragung
Am Anfang des Gesprächs steht die Verhaltensauffälligkeit des Kindes. Seine Angst und sein Umgang mit der Angst ängstigt die Erwachsenen. Angst ist ansteckend! In der psychotherapeutischen Sprache nennen wir diese Ansteckung Gegenübertragung. Die Erwachsenen übernehmen das Problem emotional vom Kinde, ohne dies bewusst zu merken. Je intensiver dessen Angstproblematik desto beunruhigter ist die Stimmung derjenigen, die mit ihm zu tun haben. Sie wissen sich nicht mehr zu helfen. Genau dieses Gefühl ist das Gefühl unter dem das Kind leidet.
Im Gespräch bilden sich oft die inneren Konflikte des Kindes ab, das jetzt die Erwachsenen als ihre eigenen ausleben: Schuld-sein, Ohnmächtig-sein, keine selbständige Lösung finden: Angst vor der Zukunft. Es ist schon viel gewonnen, wenn es in einem solchen Gespräch gelingt, die ganze Breite der Affekte nicht einfach auszuleben, sondern sie dazu zu benutzen, sich in das Kind einzufühlen. Genau so muss es ihm oftmals zumute sein. Genau diese Angst, sein Verhalten führe zu Streit und womöglich zu Gewalt, beherrscht es.
Wege aus der Sackgasse
Bei einem Kind, das unter Angst leidet, müssen wir uns in solchen Gesprächen um seine Angst kümmern. Dazu können unsere Ängste im Sinne der Einfühlung hilfreich sein. Es geht oft viel zu schnell um Lösungsvorschläge und ums Handeln, bevor überhaupt richtig verstanden ist, was im Kinde vorgeht. Dies zu verstehen, wird dadurch erschwert, dass sich Ängste - wie dargestellt - sehr unterschiedlich zeigen können: In aggressivem oder sogar gewalttätigem Verhalten; im Rückzug auf Passivität oder Abkapslung in Tagträumerei/Unaufmerksamkeit oder in der totalen inneren Blockade, in der sich kaum noch etwas innerlich bewegt.
Beim Kind, das in einer dieser Reaktionen steckt, dürfen wir nicht damit rechnen, dass es aufpasst, zuhört oder den Schulstoff verarbeitet! Es kann es nicht! Alle Appelle richten sich an seinen Willen. Aber ich kann ja schon wollen, was ich soll - das heisst noch lange nicht, dass ich es kann. Der Appell verkommt in dieser Situation zum moralischen Vorwurf und stärkt die Angst! Ein gefährlicher Teufelskreis.
Anzupacken ist also die Angst des Kindes. Dazu gehört der starke Wille und die dauernde Aufmerksamkeit der Erziehenden, eigene Ängste (Prestige und alles aufgezählte) nicht am „Objekt“, d.h. Kind abzuhandeln und auszutragen, sondern auf eigene Ansprüche so weit wie möglich zu verzichten, um offen zu werden für die Frage: Was ängstigt heute das Kind? Erst dann kann diskutiert werden, wie wir dem Kind helfen könnten, damit es in Zukunft die Angst besser bewältigt.
Zur eignen Unvollkommenheit stehen
Da gehören sicher auch Fragen dazu, wer unter den Erwachsenen ist in welchem Masse fähig oder aber überfordert, dem Kind bei der Bewältigung zu helfen. Vielleicht ist diese Lehrkraft im Umfeld dieser Klassenzusammensetzung wirklich nicht in der Lage. Dann muss - ohne jeden Vorwurf in die eine oder andere Richtung - eine andere Lösung gesucht werden. Vielleicht ist sie in der Lage, wenn eine Unterstützung von aussen dem Kind und/oder den Eltern und/oder dem Lehrer hilft. Wenn das alles ohne Schuldzuweisung, Scham und Beschämung möglich wird, ist dem Kind am besten geholfen.
Fragen zur Vergangenheit können hier wichtig sein, um zu verstehen wie seine Ängste aufgebaut sind. Sie sind aber völlig uninteressant hinsichtlich der Frage, wer hat was dazu beigetragen, dass das Kind so geworden ist. Solches wird nur vor Gericht relevant. Schauen Sie dazu, dass Elterngespräche nicht zu Gerichtsverhandlungen verkommen.
© Dr. Rudolf Buchmann