Warum? Oder die Geburt des Denkens
Im Frögli-Alter beginnt der Mensch zu hinterfragen, was er antrifft und erlebt. Er will verstehen lernen. In früheren Jahrhunderten mussten viele Menschen das meiste einfach glauben: So ist es! Wer das Gegebene in Frage stellte, war Ketzer oder Aufrührer und lebte gefährlich.
In unserer Kultur verstehen wir unsere Gegenwart und die herrschenden Zustände als etwas, das gestaltet wurde und deshalb auch umgestaltet werden kann. Das war nicht immer so und ist nicht überall auf der Welt selbstverständlich. Diese Haltung hat über die letzten drei Jahrhunderte der westlichen Welt riesige Fortschritte – und auch technische Überlegenheit – gebracht, allerdings auch grosse Gefahren wachsen lassen.
Was steht dahinter?
Am Anfang der Neugier steht die Unzufriedenheit mit den Anordnungen der Eltern. Aus dem Trotz „Ich will nicht ins Bett!“ wird die viel spannendere Frage: „Warum muss ich ins Bett und sie nicht?“. In diesen Fragen äussert sich die Erkenntnis, dass die Dinge und Ordnungen der Welt nicht einfach sind, sondern dass da etwas ist, das es so ordnet. Damit öffnet sich der Blick auf das Dahinter – und damit auch auf das Unsichtbare.
An dieser Stelle entscheidet sich in der Menschheitsgeschichte und in der psychischen Entwicklung jedes Einzelnen, ob „selber Denken“ erlaubt und gefördert, beschämt oder gar verboten wird. Wo sind Grenzen, über die hinaus zu denken nicht erlaubt ist? Ist Denken überhaupt erwünscht oder eher lästig? „Frag‘ nicht soviel! Mach‘ endlich!“, „Das verstehst Du sowieso nicht!“ oder „Interessante Frage?“, „Du bist aber intelligent, habe ich selber noch nie dran gedacht“. Dies sind Botschaften, die das Interesse mehr als etwas Störendes oder mehr als etwas Willkommenes bewerten. „Du bist aber neugierig!“ Je nach Betonung ein Kompliment oder aber eine beschämende Rüge.
Interessant
Wollen wir interessante und interessierte Kinder müssen wir auf Fragen eingehen und zwar so, dass ein Kind die Antworten auch verstehen kann. Das ist manchmal nicht ganz einfach; denn zuerst müssen wir uns Klarheit verschaffen, was das Kind wirklich wissen will. Da ist es oft sinnvoll zurückzufragen bevor wir es mit Erwachsenenerkenntnissen überhäufen. Um so auf Kinder eingehen zu können, brauchen wir in erster Linie Zeit. Zuerst zuhören und dann antworten! Oft denken Kinder auch tiefer als ihr Fragen - oberflächlich gehört - verstanden wird. Daher geht ja das Fragen meist auch nach der Antwort weiter.
Wenn wir uns auf solche Gespräche einlassen, geraten wir ab und zu an eigene Grenzen des Verstehens oder lassen uns hinausführen über die Alltagsgeschäfte in geradezu philosophische Dialoge: „Warum gibt es Blumen?“ – „Weil Sämchen in der Erde sind, aus denen sie wachsen“ – „Aber warum wachsen sie denn?“ - Warum eigentlich?
Vorschnell
Verschiedene Antworten haben wir parat. Z.B. religiöse: „Weil Gott sie gemacht hat“ oder naturwissenschaftliche „Die haben sich über viele Jahrtausende entwickelt“ oder zweckrationale „Damit die Bienen Futter finden“ oder mythische Geschichten über Blumenkinder usw. Das clevere Kind frägt weiter: „Aber warum hat Gott sie gemacht?“
Oftmals haben aber Kinder eigene Theorien zu ihren Fragen, die sie uns nicht mehr eröffnen, wenn wir unsere „kluge“ Antwort gegeben haben. Vielleicht ist die Frage nur gestellt, um eine Gelegenheit herzustellen, die eigenen Überlegungen mitzuteilen. Jedenfalls unterstützen wir das eigenständige Denken der Kinder mehr, wenn wir zurückfragen nach ihren eignen Antworten auf ihre Fragen. Belehrung ist gut, selber Denken ist besser! Vorschnelle Antworten schütten das Fragen und Denken zu.
Gefahren
Fragen kann natürlich auch missbraucht werden. Wo z.B. keine Lust zum Gehorchen ist, kann auf Teufel komm raus nachgefragt werden, wieso die Schuhe aufgeräumt oder das Spielzeug dem Geschwister gegeben werden muss. Der pädagogische Grundsatz, dem Kind die eigenen Anordnungen zu begründen, ist zwiespältig. Grundsätzlich befürworte ich, dass Kinder verstehen sollen, was von ihnen verlangt wird.
Die Kehrseite ist aber auch zu beachten: Das Eltern-Kind-Gefälle kann dadurch aufgehoben oder gar umgekehrt werden kann. Wenn Kinder zur Überzeugung kommen, dass nur gilt, was die Eltern so begründen können, dass es selber überzeugt worden ist, gerät die Erziehung in eine Sackgasse. Die Intelligenz des Kindes kann zur Sklavin der eignen Gelüste und Bequemlichkeiten verkommen.
Weltbilder
Aus den Erklärungen und Vorstellungen über die Hintergründe der erfahrbaren Welt entsteht im Lauf des Lebens ein persönliches Weltbild. Auch kleine Kinder haben schon ihr Weltbild, d.h. eine eigene Perspektive, aus der heraus sie verstehen, was sie erleben. Je jünger Kinder sind desto wichtiger sind die Geschichten, die sie zu hören und zu sehen bekommen.
Dem Alter der zwei bis sechsjährigen besonders zugänglich sind Geschichten, in denen unsichtbare Kräfte plötzlich sichtbar werden; Helfer wie Feen und Zauberer, aber auch Tiere und andere Lebewesen, die zu ihnen in Beziehung treten; denn die erste Erfahrung von Kindern ist, dass die Kräfte, die die Welt ordnen einen eigenen Willen haben. So wie die Eltern befehlen und nach eigenem Gutdünken schalten und walten, so stellen sich Kinder vor, dass alles in der Welt einen eignen Willen hat, zumal natürlich die Dinge, die sich bewegen: Der Bach, der Baum, die Tiere natürlich usw.
Magisches Weltbild
Die Erfahrung, dass sie die Eltern mit ihrem eignen Wünschen und Willen beeinflussen können, übertragen sie auf die gesamte Welt. Wenn sie die richtige Willenskraft aufbringen oder die richtigen Rituale anstellen, werden sie den Willen der umgebenden Dinge schon so beeinflussen können, dass sie tun, was sie selber wollen. Diese Vorstellung, die in ursprünglichen Völkern und früheren Vorstellungen bei uns selbstverständlich sind resp. waren, ist hilfreich, um sich selbstsicher auf vertraute und weniger vertraute Wege zu begeben.
Bevor sich die naturgesetzliche Begründung durchsetzt, dass sich der Schrank im Schlafzimmer auch nachts nicht bewegen kann, hilft es sehr, dass die richtige Einstellung und Beziehung diesen günstig stimmen wird, so dass man sicher sein kann, er wird sich nicht bewegen. Diese Sichtweise ist noch besser einfühlbar, wenn wir bedenken, dass Kleinkinder unsicher sind zwischen belebten und unbelebten Dingen zu unterscheiden. Auch ist nicht klar resp. widerspricht teilweise der eigenen Erfahrung, dass nachts dieselben Gesetze gelten, wie bei Tageslicht. Viele Sagen und Mythen nehmen dieses Thema auf, wenn in bestimmten Situationen Gegenstände z.B. Puppen lebendig werden und zu handelnden Subjekten werden.
„Warum“ bleibt
Grundsätzlich bleiben wir ein Leben lang an den Rändern unseres Wissens in diesem magischen Weltbild. Es könnte sogar sein, dass wir manchmal zuviel den Naturgesetzen zuschreiben und zu sicher sind, die Kräfte durch naturwissenschaftliche Techniken unter unseren Willen zu zwingen.
Die Entwicklung der Menschheit beginnt mit der Hinterfragung der derzeit geltenden Verhältnisse. Zuerst hörten Menschen auf die „heiligen Erklärungen“ der Geheimlehren, in denen die „Warum Fragen“ von ausgewählten Menschen beantwortet wurden. In Geschichten und Überlieferungen ist dieses Denken gespeichert. Dann begannen Mutige die Ereignisse anders zu erklären oder sie hörten auf ihren Reisen von andern Mythen. Aus diesem Strom der Warum Frage und der Tatsache, dass sie immer nur vorläufig befriedigend beantwortet wird, erwächst die geistige Evolution.
Was beim Kleinkind beginnt, treibt die Menschheitsentwicklung. Daher ist es so wichtig, das Fragen offen zu halten und nicht mit dummen Geschichten, vorschnellen Antworten oder Spott und Verbot die Freude am Fragen zu verderben.
© Dr. Rudolf Buchmann